VwGH vom 02.08.2013, 2013/21/0072
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Pelant und Dr. Pfiel als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des D K in W, vertreten durch Mag. Josef Phillip Bischof und Mag. Andreas Lepschi, Rechtsanwälte in 1090 Wien, Währinger Straße 26/1/3, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom , Zl. Senat-FR-13-0027, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger, reiste am illegal nach Österreich ein und beantragte am die Gewährung von Asyl. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom , bestätigt mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom , vollinhaltlich abgewiesen. Mit durchsetzbarem Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom wurde der Beschwerdeführer aus Österreich ausgewiesen. Er verblieb in der Folge ohne polizeiliche Meldung im Bundesgebiet.
Nach seiner am erfolgten Festnahme, bei der ihm der Besitz von Suchtmitteln vorgeworfen wurde, verhängte die Bezirkshauptmannschaft Wien-Umgebung über ihn mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom gemäß § 76 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG die Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung (§ 46 FPG).
Begründend führte sie aus, der mittellose und über keine Unterkunft verfügende Beschwerdeführer habe sich vor den österreichischen Behörden verborgen, um seine Abschiebung nach Indien zu verhindern. Es sei daher insgesamt ein Sicherungsbedarf zu bejahen. Die Anwendung eines gelinderen Mittels nach § 77 FPG komme nicht in Betracht, weil auf Grund des bisherigen Verhaltens des Beschwerdeführers die Annahme gerechtfertigt sei, dass er sich dann dem behördlichen Zugriff entziehen werde, um die Vollstreckung der Abschiebung zu verhindern oder zumindest erheblich zu erschweren.
Gegen die Verhängung der Schubhaft und seine Anhaltung erhob der Beschwerdeführer erstmalig am Schubhaftbeschwerde, die mit Bescheid der belangten Behörde vom gemäß § 83 FPG als unbegründet abgewiesen wurde. Zugleich wurde festgestellt, dass auch die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.
Die Anhaltung in Schubhaft dauerte bis zur Erlassung des Bescheides der belangten Behörde vom an, in der nach amtswegiger Überprüfung der Schubhaft gemäß § 80 Abs. 7 FPG ausgesprochen wurde, dass die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft nicht vorlägen und die Aufrechterhaltung der Schubhaft nicht verhältnismäßig sei. Begründet wurde diese Entscheidung damit, dass in insgesamt zehn Versuchen über eine Zeitdauer von mehr als zwei Jahren (beginnend mit ) versucht worden sei, für den Beschwerdeführer ein Heimreisezertifikat zu erlangen, die Ausstellung eines solchen jedoch am Fehlen einer entsprechenden Bereitschaft der indischen Botschaft gescheitert wäre.
Zuvor, nämlich am , hatte der Beschwerdeführer neuerlich Schubhaftbeschwerde erhoben. Darin verwies er (unter anderem) auf das seit dem Jahr 2010 anhängige Verfahren zur Ausstellung eines Heimreisezertifikates. Trotz zahlreicher Urgenzen und Vorlage aller erforderlichen Unterlagen - einschließlich einer Kopie seines indischen Führerscheins - habe sich die Ausstellung eines Heimreisezertifikates als unmöglich erwiesen, sodass von seiner faktischen Unabschiebbarkeit auszugehen sei. Er selbst habe im August 2012 vier- bis fünfmal und neuerlich vor seiner Festnahme im Herbst 2012 bei der indischen Botschaft vorgesprochen, um die Ausstellung eines Reisepasses zu erwirken. Auch dies sei von dem Konsularbeamten ohne nachvollziehbare Begründung abgelehnt worden. Er unterhalte seit mehreren Jahren eine Beziehung mit der österreichischen Staatsbürgerin R., wenn diese von den Behörden bislang auch nicht als Lebensgemeinschaft gewertet worden sei. Bei R. habe er die Möglichkeit zu wohnen und sich polizeilich zu melden, was diese auch schriftlich bestätigt habe. Er sei strafrechtlich unbescholten und habe auch bei seiner Festnahme am kein Suchtgift, sondern lediglich eine Teemischung in seinem Besitz gehabt. Selbst die Fremdenpolizeibehörde habe bei Äußerungen im Jänner 2013 wiederholt die nunmehrige Anwendung eines gelinderen Mittels als ausreichend erachtet, habe insoweit jedoch zusätzlich eine Sicherheitsleistung von EUR 700,-- gefordert, die er auf Grund seiner schwierigen finanziellen Situation nicht habe bereitstellen können.
Der Beschwerdeführer beantragte die Vorlage des mit der Vertretungsbehörde Indiens geführten Schriftverkehrs betreffend die Erlangung eines Heimreisezertifikates sowie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, bei der auch R. einvernommen werden möge.
Die Bezirkshauptmannschaft Wien-Umgebung äußerte sich dazu am dahin, dass das Verfahren zur Ausstellung eines Heimreisezertifikates anhängig und zuletzt durch die Bundesministerin für Inneres am urgiert worden sei. Der Beschwerdeführer sei bereits vom bis zum , also für drei Monate und drei Tage, "zur Verfügung der Bundespolizeidirektion Wien" in Schubhaft angehalten worden. Diese Schubhaft sei aufgehoben worden, weil kein Heimreisezertifikat erwirkt werden konnte. Eine polizeiliche Wohnsitzmeldung scheine für den Beschwerdeführer seit nicht auf. Sein Rechtsvertreter habe eine Bestätigung seiner Lebensgefährtin R. vorgelegt, wonach der Beschwerdeführer nach einer Enthaftung an ihrer Adresse Unterkunft nehmen könne. In der Folge sei "mündlich die Vorgehensweise zur Entlassung ins gelindere Mittel besprochen" worden, wobei die Behörde jedoch auf Hinterlegung einer finanziellen Sicherheitsleistung von rund EUR 700,-- bestanden habe. Diesbezüglich sei es in der Folge jedoch zu keinem Antrag oder Schriftverkehr gekommen.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom wies die belangte Behörde, ohne den Beweisanträgen des Beschwerdeführers (auf Einsicht in den gesamten Schriftverkehr und Befragung der R.) nachzukommen, die Schubhaftbeschwerde gemäß § 83 FPG ab, erklärte die Anhaltung des Beschwerdeführers ab dem für rechtmäßig und stellte fest, dass auch die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.
Begründend erachtete sie nach Einholung einer Stellungnahme der Bundesministerin für Inneres die Erlangung eines Heimreisezertifikates als aussichtsreich, seien bislang doch sechs Urgenzen an die Botschaft der Republik Indien übermittelt worden. "Zwischenzeitlich" sei zudem eine Führerscheinkopie vorgelegt worden, welche erfahrungsgemäß "das Prozedere und den positiven Abschluss - Zustimmung HZ Ausstellung - mit sich bringe bzw. zumindest die Chance auf Erhalt eines Heimreisezertifikates signifikant erhöhe". Auch sei im Rahmen des letzten, am übermittelten Urgenzschreibens "um Bekanntgabe eines Vorführtermins" gebeten worden.
Der Beschwerdeführer sei mittellos und - entgegen seinen Darstellungen - auch als unterkunftslos anzusehen, könne die schriftliche Erklärung der R. doch nur als Gefälligkeitsbestätigung zur Erreichung der Enthaftung gewertet werden. Es gäbe keine Hinweise dafür, dass sich das Verhältnis zu seiner Freundin R. gefestigt habe und daher erwartet werden könne, dass er nicht wieder "sein unstetes Leben" aufnehme. Er sei nicht integriert, ohne Anknüpfungspunkte in Österreich und habe "bisher keine zielführenden Schritte gesetzt, seiner Ausreiseverpflichtung nachzukommen". Dem stehe ein besonders hoher Sicherungsbedarf gegenüber, weil der Beschwerdeführer - über sein unstetes Leben im Verborgenen hinaus - im Besitz von Morphin in Form von Rohopium, also eines Suchtmittels, festgenommen und dementsprechend angezeigt worden sei. Die Durchführung der - in der Schubhaftbeschwerde ausdrücklich beantragten - mündlichen Verhandlung habe "gemäß § 82 Abs. 2 Z. 2 FPG" unterbleiben können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage seitens der belangten Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
Die gegenständliche Schubhaft wurde auf § 76 Abs. 1 FPG gestützt. Gemäß dieser Bestimmung können Fremde festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern dies notwendig ist, um (unter anderem) die Abschiebung zu sichern. Die Zulässigkeit dieser Maßnahme verlangt nach ständiger höchstgerichtlicher Rechtsprechung ihre Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit, zu deren Beurteilung eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung der Außerlandesschaffung (Aufenthaltsbeendigung) und dem privaten Interesse an der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen ist. Bei dieser Prüfung ist unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses vor allem der Frage nachzugehen, ob im jeweils vorliegenden Einzelfall ein Sicherungsbedürfnis gegeben ist. Das setzt die gerechtfertigte Annahme voraus, der Fremde werde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bzw. nach deren Vorliegen der Abschiebung (insbesondere) durch Untertauchen entziehen oder es/sie zumindest wesentlich erschweren. Fehlende Ausreisewilligkeit für sich allein erfüllt dieses Erfordernis noch nicht. Die bloße (Absicht der) Nichtbefolgung eines Ausreisebefehls vermag somit für sich genommen die Verhängung der Schubhaft nicht zu rechtfertigen, sondern der Sicherungsbedarf muss in weiteren Umständen begründet sein, wofür etwa eine mangelnde soziale Verankerung in Österreich in Betracht kommt. Für die Bejahung eines Sicherungsbedarfs kommen daher im Anwendungsbereich des § 76 Abs. 1 FPG insbesondere das Fehlen ausreichender familiärer, sozialer oder beruflicher Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet in Betracht, was die Befürchtung, es bestehe das Risiko des Untertauchens eines Fremden, rechtfertigen kann. Abgesehen von der damit angesprochenen Integration des Fremden in Österreich ist bei Prüfung des Sicherungsbedarfs freilich auch sein bisheriges Verhalten in Betracht zu ziehen (vgl. zum Ganzen zuletzt etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2012/21/0114, mwN).
Überdies setzt der Tatbestand des § 76 Abs. 1 FPG - unter dem fallbezogen allein in Betracht kommenden Aspekt der Abschiebung - voraus, dass die Ausstellung eines notwendigen Ersatzreisedokumentes für den Beschwerdeführer nach der administrativen Praxis der für ihn zuständigen Botschaft (hier: Indiens) nicht von vornherein aussichtslos erscheinen muss (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2013/21/0017, mwN).
Zu sämtlichen der genannten Punkte fehlen mängelfrei getroffene Feststellungen im angefochtenen Bescheid:
Den Sicherungsbedarf betreffend hat der Beschwerdeführer unter anderem auf seine Unbescholtenheit, das Fehlen strafbarer Handlungen (etwa des Besitzes von Suchtgift) und die nunmehrige Wohnmöglichkeit bei seiner (auch von der Bezirkshauptmannschaft Wien-Umgebung in ihrer Stellungnahme vom als solche bezeichneten) Lebensgefährtin R., einer österreichischen Staatsbürgerin, hingewiesen. Er hat weiters die Aussichtslosigkeit, ein Heimreisezertifikat zu erlangen, geltend gemacht und dabei auf den (nicht beigeschafften) Schriftverkehr sowie (entgegen der festgestellten Untätigkeit) auf mehrere eigene Vorsprachen bei der genannten Vertretungsbehörde verwiesen, bei denen er versucht habe, einen indischen Reisepass zu erhalten.
Da die belangte Behörde sämtliche Punkte dieses Vorbringens für unrichtig und unglaubwürdig hielt, durfte sie jedenfalls nicht von einem - (richtig) iSd § 83 Abs. 2 Z. 1 FPG - geklärten Sachverhalt und folglich auch nicht von der Ermächtigung ausgehen, von der ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung abzusehen (vgl. dazu neuerlich etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2013/21/0017).
Im Übrigen hat sich die belangte Behörde auch nicht mit der Frage des Ausreichens gelinderer Mittel nach § 77 Abs. 1 FPG auseinandergesetzt, obgleich selbst die Bezirkshauptmannschaft Wien-Umgebung solche (angesichts der von ihr nicht in Zweifel gezogenen Wohnmöglichkeit des Beschwerdeführers) jedenfalls grundsätzlich in Betracht zog. Wäre deren Anwendung geboten gewesen, führt dies zur Rechtswidrigkeit der mit Schubhaftbeschwerde bekämpften Maßnahmen (vgl. neuerlich das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2012/21/0114, mwN).
Die Abweisung der Schubhaftbeschwerde erweist sich somit nach dem Gesagten als mangelhaft begründet, sodass der bekämpfte Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.
Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 3, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Wien, am
Fundstelle(n):
MAAAE-87787