VwGH vom 02.08.2013, 2013/21/0066

VwGH vom 02.08.2013, 2013/21/0066

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des N B in L, vertreten durch Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom , Zl. VwSen-720335/BP/WU, betreffend Aufenthaltsverbot (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wurde gegenüber dem Beschwerdeführer gemäß § 67 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG in der Fassung des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2011 - FrÄG 2011, BGBl. I Nr. 38, ein auf zwei Jahre befristetes Aufenthaltsverbot erlassen.

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer deutscher Staatsangehöriger sei, der von seiner unionsrechtlich eingeräumten Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe, indem er nach Österreich eingereist sei. Auf ihn sei daher § 67 Abs. 1 FPG anzuwenden, nicht aber dessen vorletzter Satz, weil er sich nicht schon seit zehn Jahren, sondern erst seit über drei Jahren im Bundesgebiet aufhalte. Es sei demnach zu prüfen, ob das Verhalten des Beschwerdeführers aus derzeitiger Sicht geeignet erscheine, die öffentliche Ordnung und Sicherheit tatsächlich, gegenwärtig und erheblich zu gefährden.

Der Beschwerdeführer sei in Österreich wie folgt rechtskräftig verurteilt worden:

1. mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom gemäß § 15 iVm § 105 Abs. 1, § 107 Abs. 1 und § 83 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von vier Monaten (bedingte Strafnachsicht widerrufen am ) wegen versuchter Nötigung (gegenüber seiner Lebensgefährtin und Dr. G. H.), gefährlicher Drohung (gegenüber seiner Lebensgefährtin durch die mehrmalige Äußerung, er werde sie umbringen) und Körperverletzung (indem er seiner Lebensgefährtin einen Porzellankrug an den Kopf geschleudert und sie an den Haaren gerissen habe);

2. mit Urteil des Bezirksgerichtes Linz vom gemäß § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen wegen Körperverletzung (indem er S. P. in einem Lokal einen Faustschlag in das Gesicht versetzt habe, was zur Subluxation eines Zahnes und einer Lippenschwellung geführt habe);

3. mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom gemäß § 107 Abs. 1 sowie § 15 iVm § 105 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten (Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 StGB unter Bedachtnahme auf das Urteil vom ) wegen gefährlicher Drohung und versuchter Nötigung (gegenüber seiner Lebensgefährtin und S. G.).

Es erfordere zweifelsfrei ein hohes Maß an krimineller Energie, so die belangte Behörde, vielfach durch gefährliche Drohungen und auch Körperverletzungen andere Personen zu beeinträchtigen. Besonders auffällig seien hier zum einen das konstante Auftreten der "Ausbrüche" des Beschwerdeführers und zum anderen die als relativ unbedeutend einzustufenden Anlässe. Auch einschlägige Verurteilungen hätten den Beschwerdeführer nicht dazu bewegen können, seine Beherrschung zu behalten. Wie sich aus den Urteilen ergebe, zeige er sich regelmäßig geständig und unterhalte zu seiner Lebensgefährtin wieder eine "versöhnte Beziehung". Dies könne jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er offenbar nicht in der Lage sei, seine Aggressivität entsprechend unter Kontrolle zu bringen.

Es bedürfe wohl keiner weiteren Bemerkungen, dass in dem vom Beschwerdeführer an den Tag gelegten Verhalten eine tatsächliche und erhebliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit -

insbesondere im Hinblick auf den Schutz der Integrität und der Gesundheit anderer Personen - zu sehen sei. Auch die Gegenwärtigkeit der Gefährdung sei gegeben, weil die letzten Vorkommnisse erst wenige Monate zurücklägen, der Beschwerdeführer sich seither in Strafhaft befinde und er auf einen offensichtlich langen Zeitraum seiner aggressiven Ausbrüche "zurückblicken" könne, in dem es ihm nicht gelungen sei, eine Verbesserung herbeizuführen. Gerade in seinem privaten Umfeld hätten sich viele der Delikte ereignet, weshalb auch nicht davon ausgegangen werden könne, dass ein Zusammenleben mit seiner Lebensgefährtin bzw. die Beziehung mit seinem nunmehr in Österreich lebenden erwachsenen Sohn ihn von der Begehung weiterer strafbarer Handlungen abhalten würden. Es sei sohin keine günstige Zukunftsprognose auszustellen.

Im Hinblick auf die gemäß § 61 FPG vorzunehmende Interessenabwägung führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer mit seiner Lebensgefährtin, einer deutschen Staatsangehörigen, nach seiner Entlassung aus der Strafhaft Ende März 2013 wieder im gemeinsamen Haushalt zu leben beabsichtige, weshalb das Familienleben des Beschwerdeführers betroffen sei. Sein Sohn, der im November 2012 nach Österreich gekommen sei, lebe nicht im gemeinsamen Haushalt mit dem Beschwerdeführer und sei überdies volljährig. Da er aber wegen des Beschwerdeführers den Ortswechsel vorgenommen habe und in derselben "Firma" beschäftigt sei, werde auch auf seine Interessen einzugehen sein.

Der Beschwerdeführer könne durchaus als beruflich integriert angesehen werden, zumal er auch nach seiner Entlassung im März 2013 eine Beschäftigung bei seinem bisherigen Arbeitgeber vorfinden werde. Gemessen an der Aufenthaltsdauer von dreieinhalb Jahren und den nicht vorhandenen sprachlichen Barrieren werde von einer durchschnittlichen sozialen Integration auszugehen sein.

Er habe den überwiegenden Teil seines Lebens in Deutschland verbracht, weshalb er dort "naturgemäß in jeglicher Hinsicht sozialisiert" gelten könne. Zudem lägen keine Gründe vor, weshalb ihm eine berufliche Reintegration zB in seiner Heimat nicht gelingen könnte.

Gegen eine Rückführung sprächen zum einen die in Österreich aufrechte Beziehung zu seiner Lebensgefährtin und zum anderen der Umstand, dass sein - allerdings volljähriger - Sohn ihm nach Österreich gefolgt sei, um sich hier niederzulassen und eine Lehre zu absolvieren. Letzterer Umstand könne "in die Erörterung nur schwach einfließen", weil der volljährige Sohn bislang schon nicht mit dem Beschwerdeführer im gemeinsamen Haushalt gelebt habe und beinahe zeitgleich mit seiner Übersiedlung nach Österreich hier "auf eigene Beine gestellt" sei, weil der Vater in Strafhaft angehalten werde. Weiters erscheine es der Lebensgefährtin wie auch dem Beschwerdeführer zumutbar, die Beziehung zeitweilig über eine entsprechende Entfernung bzw. mittels Besuchen der Lebensgefährtin in Deutschland (ihrem Heimatland) aufrechtzuerhalten. Zudem dürfe auf die Möglichkeiten der modernen Kommunikationsmittel verwiesen werden.

Die Rückkehr des Beschwerdeführers nach Deutschland scheine insgesamt gesehen also sowohl ihm selbst als auch seiner Lebensgefährtin und dem Sohn zumutbar. Das Familien- und Privatleben des Beschwerdeführers scheine zudem nicht überdurchschnittlich schutzwürdig.

Zusammenfassend sei festzuhalten, dass ein Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Verhängung der Maßnahme gegenüber den persönlichen Interessen des Beschwerdeführers und seiner Angehörigen am Verbleib im Bundesgebiet konstatiert werden müsse.

Hinsichtlich der Dauer des Aufenthaltsverbotes führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer zuletzt lediglich zu sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden sei. Wenn auch nicht verkannt werde, dass er schon über eine "Reihe von einschlägigen Vorstrafen" verfüge, sei dennoch festzustellen, dass diese zu keinen unbedingten längeren Haftstrafen geführt hätten. Die belangte Behörde halte daher einen Zeitraum von zwei Jahren für angemessen, um dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zu geben, den von ihm beteuerten Gesinnungswandel entsprechend unter Beweis zu stellen. In diesem Punkt sei daher der erstinstanzliche Bescheid abzuändern und die Dauer des Aufenthaltsverbotes von fünf auf zwei Jahre herabzusetzen gewesen.

Von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung habe abgesehen werden können, weil der entscheidungswesentliche Sachverhalt betreffend die verübten Straftaten unwidersprochen festgestanden sei und den Ausführungen des Beschwerdeführers zu seinem Privat- und Familienleben volle Glaubwürdigkeit zugemessen werde, was auch durch die von der belangten Behörde durchgeführten Erhebungen bestätigt werde. Nachdem sohin bloß die Klärung von Rechtsfragen vorzunehmen gewesen sei, seien keine weiteren Erhebungen mehr erforderlich gewesen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Der Beschwerdeführer bestreitet, dass die Voraussetzungen des § 67 Abs. 1 FPG für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen einen Unionsbürger vorlägen. Die Maßnahme würde überdies massiv in sein Privat- und Familienleben eingreifen und sei auch unter diesem Gesichtspunkt rechtswidrig. Als Verfahrensmangel rügt er das Unterlassen der Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Gerade die strengen Vorgaben des § 67 FPG, die ein Eingehen auf die persönlichen Verhältnisse, den Charakter und die Persönlichkeit erforderten, hätten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zwingend erforderlich gemacht. Es stünden zwar die Verurteilungen als solche fest, aber die Hintergründe, die dazu geführt hätten, seien nicht aus den Akten ersichtlich. Gerade um die Voraussetzung des § 67 Abs. 1 FPG beurteilen zu können, sei die belangte Behörde verpflichtet gewesen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und den Beschwerdeführer einzuvernehmen.

Die Verfahrensrüge ist berechtigt:

Ein gegenüber einem Unionsbürger erlassenes Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG beinhaltet auch eine Ausweisungsentscheidung im Sinn der Richtlinie 2004/38/EG - Freizügigkeitsrichtlinie (vgl. auch das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2012/21/0181). Insofern wurde mit § 67 FPG (ebenso wie mit der Vorgängerbestimmung des § 86 FPG in der Fassung vor dem FrÄG 2011) Richtlinienrecht umgesetzt. Die belangte Behörde hat daher in "Durchführung des Rechts der Union" im Sinn des Art. 51 Abs. 1 der Grundrechte-Charta (GRC) gehandelt. Ausgehend davon wäre insbesondere auf Art. 47 Abs. 2 GRC Bedacht zu nehmen gewesen, nach dessen erstem Satz "jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird". Auch für das vorliegende fremdenpolizeiliche Berufungsverfahren besteht somit - jedenfalls nach Maßgabe des § 67d AVG und allenfalls auch des § 9 Abs. 7 FPG - ein Anspruch auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Berufungsverhandlung (vgl. auch - betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 FPG - das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/21/0267, mwH).

Auf diesen Anspruch kann zwar verzichtet werden, was etwa dann anzunehmen ist, wenn der Berufungswerber keinen Verhandlungsantrag im Sinn des § 67d Abs. 3 AVG stellt. Im Anwendungsbereich des Art. 47 Abs. 2 GRC kann allerdings bei einer nicht rechtskundig vertretenen Partei nur dann vom Vorliegen eines derartigen - schlüssigen - Verzichts ausgegangen werden, wenn sie über die ihr nach § 67d Abs. 1 AVG eingeräumte Möglichkeit einer Antragstellung auf Durchführung einer solchen Verhandlung belehrt wurde oder wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie von dieser Möglichkeit hätte wissen müssen (siehe auch dazu das schon genannte Erkenntnis vom , Zl. 2011/21/0267, mwN). In der hier zu beurteilenden Konstellation des im Verwaltungsverfahren noch unvertretenen Beschwerdeführers ist weder das eine noch das andere ersichtlich.

Die belangte Behörde durfte daher nicht mit der Begründung, dass der entscheidungswesentliche Sachverhalt nicht strittig sei, von der Durchführung einer Verhandlung absehen. Im Übrigen können die im gegenständlichen Verfahren insbesondere zu prüfenden - und von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid auch behandelten - Gesichtspunkte (Gefährlichkeit des Beschwerdeführers und Intensität seiner privaten und familiären Bindungen in Österreich) nicht auf die Beurteilung bloßer Rechtsfragen reduziert werden (vgl. in diesem Sinn auch das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/21/0298).

Der angefochtene Bescheid war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Wien, am