VwGH vom 12.12.2007, 2006/19/1022
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und die Hofräte Dr. N. Bachler und MMag. Maislinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde der T, vertreten durch Eckert & Fries Rechtsanwälte Gesellschaft m.b.H., 2500 Baden, Erzherzog Rainer-Ring 23, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom , Zl. 268.304/1-VIII/40/06, betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
Die Beschwerdeführerin hat dem Bund Aufwendungen in der Höhe von EUR 51,50 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, reiste gemeinsam mit ihren beiden Kindern im Dezember 2005 über die weißrussisch/polnische Grenze in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und beantragte am in Polen Asyl. Ohne die Entscheidung über diesen Antrag abzuwarten, gelangte sie am in das Bundesgebiet und brachte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz ein.
Mit Bescheid vom wies das Bundesasylamt diesen Antrag gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück. Es stellte fest, für die Prüfung des Antrages sei "gemäß Artikel 16/1/c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates" (im Folgenden: Dublin-Verordnung) Polen zuständig, und es wies die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen aus. Demzufolge sei die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig.
Begründend führte die Behörde unter anderem aus, Polen habe sich im Konsultationsverfahren mit Schreiben vom "gemäß Art. 16 (1) (c) der Dublin II VO für zuständig" erklärt. Anlässlich einer (ärztlichen) Untersuchung der Beschwerdeführerin in der Erstaufnahmestelle hätten bei ihr keine traumaspezifischen Symptome festgestellt werden können. Einer Überstellung nach Polen sei von der Ärztin "nicht entgegen gesprochen" worden. Außergewöhnliche Umstände, aufgrund derer die Gefahr einer "Verletzung der EMRK" im Falle einer Überstellung nach Polen ernstlich möglich erschiene, seien im Verfahren nicht hervorgekommen.
Die Berufung der Beschwerdeführerin gegen diese erstinstanzliche Entscheidung wies die belangte Behörde mit dem angefochtenen Bescheid gemäß §§ 5, 10 AsylG 2005 ab. In der Begründung setzte sich die belangte Behörde mit den Berufungseinwänden im Einzelnen auseinander und gelangte zu dem Ergebnis, es seien weder aus dem Berufungsvorbringen konkrete Anhaltspunkte dafür ableitbar, dass die Republik Polen trotz ihrer völkerrechtlichen Verbindlichkeiten und ihrer Mitgliedschaft zur Europäischen Union systematisch menschenrechtliche Verpflichtungen verletzen würde, noch könne Derartiges von Amts wegen festgestellt werden. Österreich sei daher - ausgehend von einer unstrittigen Zuständigkeit Polens nach den Kompetenzbestimmungen der Dublin-Verordnung - nicht verpflichtet, von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch zu machen.
Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Die Beschwerde zieht die Zuständigkeit der Republik Polen nach den Kriterien der Dublin-Verordnung nicht in Zweifel. Sie strebt aber die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung unter zwei Gesichtspunkten an.
1. Zum Einen leitet sie eine der Beschwerdeführerin drohende Kettenabschiebung bei einer Überstellung nach Polen daraus ab, dass ihr im polnischen Flüchtlingslager der "Flüchtlingsausweis" und der "Auslandsreisepass" abgenommen worden sein sollen, und sie stellt die Behauptung auf, dass es sich dabei um die "in Polen übliche Vorgangsweise" handle, "wenn man Flüchtlinge in ihre Heimat abschieben will". Dadurch, dass die Beschwerdeführerin weder einen Auslandsreisepass noch einen Flüchtlingsausweis bei sich gehabt und die Gründe dafür glaubhaft dargelegt habe, sei von besonderen, in ihrer Person gelegenen Gründen im Sinne des § 5 Abs. 3 AsylG 2005 auszugehen gewesen, die zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts führen hätten müssen.
Die angesprochene Bestimmung des § 5 Abs. 3 AsylG 2005 lautet wie folgt:
"Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder bei der Behörde offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 (Anmerkung: gemeint ein für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zuständiger Staat( Schutz vor Verfolgung finden kann."
Zur Auslegung dieser Regelung im Allgemeinen und vor allem des Tatbestandsmerkmals "besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind" hat der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem hg. Erkenntnis vom , Zl. 2006/01/0949, Stellung genommen. Auf dessen Begründung wird daher gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen.
Die von der Beschwerde - zur Untermauerung einer behaupteten Gefährdung der Beschwerdeführerin bei Überstellung nach Polen - herangezogene Aussage der Beschwerdeführerin bei ihrer zweiten Einvernahme am hatte folgenden Wortlaut (F = Frage, A = Antwort):
"A: Im Flüchtlingslager in Polen waren die Lebensbedingungen für uns sehr schlecht. Es gab auch keine Schule für meine Söhne. Wir haben Polen verlassen, da uns die Flüchtlingsausweise weggenommen wurden, wir haben gehört, dass das die Vorgangsweise der polnischen Behörden ist, wenn diese Flüchtlinge in ihre Heimat abschieben wollen ...
...
F: Hatten Sie in Polen bereits eine Einvernahme?
A: Nein.
F: Welche Entscheidung wurde Ihnen in POLEN mitgeteilt?
A: Ich habe in Polen nichts erfahren, wir sind abgereist, da
wir gehört haben, dass wir nach Hause abgeschoben werden sollten. Durch die Gerüchte, dass in benachbarten Lagern auch so vorgegangen wurde, dass Flüchtlingen, die nach Hause geschickt werden sollten, die Flüchtlingsausweise abgenommen wurden, haben wir uns entschlossen, nach Österreich weiter zu reisen."
In der Berufung der Beschwerdeführerin war auf diese Aussage nicht Bezug genommen worden. Trotzdem ging die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid darauf mit folgenden Erwägungen ein:
"Die Antragstellerin (Anmerkung: nunmehrige
Beschwerdeführerin) hat ... angegeben, Polen noch vor Befragung zu
ihren Asylgründen verlassen zu haben. Da sich die polnischen Behörden zudem laut Aktenlage mit ausdrücklich bereit erklärt haben, die Berufungswerberin (Anmerkung: nunmehrige Beschwerdeführerin) im Rahmen der Verpflichtungen nach dem Dubliner Übereinkommen (Anmerkung: gemeint offensichtlich die Dublin-Verordnung) zur Prüfung des Asylantrages zu übernehmen, kann nicht erkannt werden, dass der Antragstellerin der Zugang zum Asylverfahren in Polen verweigert würde. Die von der Berufungswerberin geäußerte Vermutung, wegen Abnahme der Karten in dem mit ihren beiden Kindern bewohnten Lager, nach Russland abgeschoben zu werden, ist deshalb nicht nachvollziehbar, weil die Berufungswerberin in Polen noch gar keiner Befragung unterzogen
wurde. Das Asylverfahren ... befindet sich in Polen erst im
Anfangsstadium. Somit wurden noch keine besonderen in der Person der Berufungswerberin gelegenen Gründe glaubhaft aufgezeigt, die für eine reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung in Polen im Sinne des § 5 Abs. 3 AsylG sprechen bzw. die nach den Maßstäben der höchstgerichtlichen Judikatur ein Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-Verordnung erforderlich machen würden."
Hiezu ist aus Sicht des Verwaltungsgerichtshofes festzuhalten:
Abgesehen davon, dass im Verfahren nicht klar hervorgekommen ist, welche "Ausweise" der Beschwerdeführerin im polnischen Flüchtlingslager "weggenommen" worden sein sollen, beruhte die Annahme der Beschwerdeführerin, ihre Abschiebung aus Polen habe - trotz eines unerledigten Asylantrages - unmittelbar bevor gestanden, der eigenen Aussage nach auf "Gerüchten", die im gesamten Verfahren weder hinsichtlich ihrer Herkunft noch ihres Tatsachensubstrates näher präzisiert wurden. Bei dieser Sachlage kann der belangten Behörde nicht entgegen getreten werden, wenn sie die von der Beschwerdeführerin geäußerte Befürchtung, von den polnischen Behörden ohne Prüfung ihres Antrages abgeschoben zu werden, als bloße "Vermutung" bezeichnete. Der Beschwerdeführerin ist es somit nicht gelungen, den behaupteten Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich zu machen und damit die gesetzliche Vermutung der Verfolgungssicherheit im zuständigen Mitgliedstaat gemäß § 5 Abs. 3 AsylG 2005 zu widerlegen.
2. Zum Anderen rügt die Beschwerde unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Parteiengehörs, der Beschwerdeführerin sei das
"Ergebnis des ärztlichen Befundes ... vorenthalten" und ihr somit
keine Möglichkeit zur Stellungnahme dazu gegeben worden. Hätte "die Behörde" der Beschwerdeführerin "das Ergebnis übermittelt, hätte diese noch die Einholung eines weiteren Gutachtens bzw. eine weitere ärztliche Stellungnahme, aus der sich die Richtigkeit einer Krankheit ergeben hätte, beantragen oder vorlegen können und es wäre die Behörde dann zu einem anderen Ergebnis, nämlich zur Stattgebung des Antrages, gelangt."
Mit diesen Ausführungen bezieht sich die Beschwerde offensichtlich auf die im erstinstanzlichen Verwaltungsakt befindliche und von der Fachärztin für Psychiatrie Dr. Stefanie Schiebel stammende "Gutachterliche Stellungnahme im Zulassungsverfahren gemäß § 30 AsylG 2005" vom . Danach seien bei der Beschwerdeführerin "dzt. keine traumaspezifischen Symptome explorierbar", sie leide allerdings unter einer belastungsabhängigen psychischen Störung, nämlich einer Anpassungsstörung (hinsichtlich derer eine näher bezeichnete medikamentöse Behandlung vorgeschlagen wurde), die aus Sicht der Ärztin aber einer Überstellung nach Polen nicht entgegenstehe.
Richtig ist, dass diese ärztliche Stellungnahme der Beschwerdeführerin vor Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides nach der Aktenlage nicht zur Kenntnis gebracht wurde. In der Berufung wurde auf die darauf Bezug nehmenden Ausführungen des Bundesasylamtes im erstinstanzlichen Bescheid lediglich mit textbausteinartiger Kritik geantwortet, derzufolge "davon auszugehen" sei, dass die Beschwerdeführerin auf Grund nicht näher erläuterter "Erlebnisse, an denen zu zweifeln kein Grund besteht und die auch im Zuge des Verfahrens nicht angezweifelt" worden seien "mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an einer PTSD leidet, deren Vorliegen auf Grund der durchgeführten Diagnosetechnik nicht erkannt wurde." Die Beschwerdeführerin habe sich "nun privat in psychotherapeutische Behandlung beim Verein Hemayat begeben und legt zum Beweis des Vorliegens einer posttraumatischen Belastungsstörung einen Befundbericht vor, sobald dies möglich ist". Dieser angekündigte Befund wurde der belangten Behörde im Folgenden nicht übermittelt.
Die belangte Behörde führte im angefochtenen Bescheid zu diesem Themenkomplex - neben allgemeinen Rechtsausführungen zu § 30 AsylG 2005 - aus, die im Zulassungsverfahren "zu Rate beigezogene Ärztin" verfüge aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung über das nötige medizinische Spezialwissen, um "Stellungnahmen gemäß § 30 AsylG abgeben zu können". Die Ärztin sei auf die (für eine Traumatisierung sprechenden) Symptome eingegangen und habe "das Vorliegen solcher Umstände verneint".
Der Verwaltungsgerichtshof schickt seiner Beurteilung dieses dargestellten Sachverhaltes voraus, dass auch eine belastungsabhängige krankheitswerte psychische Störung eines Asylwerbers oder einer Asylwerberin der Zurückweisung seines oder ihres Antrages auf internationalen Schutz wegen Zuständigkeit eines anderen EU-Mitgliedstaates nach der Dublin-Verordnung gemäß § 30 AsylG 2005 grundsätzlich nicht entgegensteht. Vom Selbsteintrittsrecht wäre in derartigen Fällen jedoch dann Gebrauch zu machen, wenn die Überstellung der betroffenen Person in den zuständigen Mitgliedstaat im Einzelfall einen ungerechtfertigten Eingriff in ihre Grundrechte, insbesondere die reale Gefahr einer Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte, durch die österreichischen Behörden mit sich brächte.
Dass im Beschwerdefall diese Gefahr gegeben wäre, hat sich im Verwaltungsverfahren nicht ergeben und sie wird auch von der Beschwerde nicht hinreichend aufgezeigt. Insbesondere ist der Vorwurf der Verletzung des Parteiengehörs schon dadurch entkräftet, dass der Beschwerdeführerin spätestens mit der Zustellung des erstinstanzlichen Bescheides (der auf die ärztliche Untersuchung und ihre Ergebnisse in den relevanten Teilen Bezug nahm) die Möglichkeit gegeben wurde, gegenteiliges Vorbringen zu erstatten oder Belege für jene Krankheit vorzulegen, die eine Überstellung nach Polen aus ihrer Sicht konventionswidrig erscheinen lassen soll (vgl. zur Sanierung des Verfahrensfehlers durch die Möglichkeit zur Stellungnahme in der Berufung die in Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2 (1998(, E 523 zu § 45 AVG, zitierte hg. Rechtsprechung; weiters Hengstschläger/Leeb, AVG (2005(, § 45 Rz 40). Die allgemein gehaltenen Berufungsausführungen reichten dafür allerdings nicht aus und es wurde der belangten Behörde auch der angekündigte psychotherapeutische Befund nicht vorgelegt, sodass auch kein Grund bestand, die ärztliche Einschätzung im Zulassungsverfahren einer neuerlichen (vertieften) Prüfung zu unterziehen. Aus diesem Grund blieb das Berufungsverfahren frei von einem relevanten Verfahrensmangel.
Die Beschwerde war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333/2003.
Wien, am