VwGH vom 17.10.2013, 2013/21/0041

VwGH vom 17.10.2013, 2013/21/0041

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der Landespolizeidirektion Oberösterreich gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom , Zl. VwSen-401254/4/Gf/Rt, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: F in L; weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Pakistans, reiste am illegal in das Bundesgebiet ein und beantragte die Gewährung von internationalem Schutz. Das Bundesasylamt wies diesen Antrag mit Bescheid vom vollinhaltlich ab und wies den Mitbeteiligten gemäß § 10 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Pakistan aus. Der Asylgerichtshof bestätigte diese Entscheidung mit Erkenntnis vom .

Der Mitbeteiligte räumte bei einer am erfolgten Befragung ein, dass ihm diese Entscheidungen zur Kenntnis gelangt seien. Er sei seit von seiner bisherigen Adresse abgemeldet, seither habe er sich in verschiedenen Moscheen und Asylheimen in W, S, A und zuletzt in L aufgehalten. Seinen Lebensunterhalt habe er durch Zuwendungen von Freunden und Unterstützung in den Moscheen bestritten.

Mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom verhängte die Landespolizeidirektion Oberösterreich gemäß § 76 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG über den Mitbeteiligten die Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung (§ 46 FPG).

Begründend verwies sie darauf, dass der Mitbeteiligte, der in Österreich keine Verwandten habe, seinen eigenen Ausführungen zufolge nach der Entlassung aus der Grundversorgung im Wissen um seinen illegalen Aufenthalt in Österreich und die drohende Abschiebung "in die Anonymität untergetaucht" sei. Er habe dezidiert ausgeführt, nicht nach Pakistan zurückkehren und in Österreich bleiben zu wollen. An der Möglichkeit einer freiwilligen Rückkehr in das Heimatland habe er kein Interesse gehabt. Unter Berücksichtigung dieser Ausreiseunwilligkeit sowie des Fehlens ausreichender familiärer, sozialer oder beruflicher Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet bestehe das einen Sicherungsbedarf begründende Risiko des Untertauchens. Dazu komme, dass der Mitbeteiligte im Asylverfahren falsche Identitätsangaben gemacht habe und sogar sein wahres Alter erst im Weg eines medizinischen Sachverständigengutachtens habe ermittelt werden müssen. Ebenso erlaube das bereits erfolgte "zielgerichtete Untertauchen" nur den zwingenden Schluss, dass er auch künftig alles daran setzen werde, sich vor den Behörden verborgen zu halten, um seiner Abschiebung nach Pakistan zu entgehen. Die Anwendung gelinderer Mittel reiche zur Abdeckung des Sicherungsbedarfs nicht aus, weil die Behörde auf Grund des bisher gezeigten Verhaltens zwingend davon ausgehen müsse, dass der Mitbeteiligte Anordnungen im Rahmen eines gelinderen Mittels nicht Folge leisten würde.

Am erhob der Mitbeteiligte gegen seine Festnahme "am ", die Verhängung der Schubhaft sowie die andauernde Anhaltung in Schubhaft eine Beschwerde. Dabei räumte er neuerlich seine unangemeldeten Aufenthalte in verschiedenen Asylheimen und Moscheen, zuletzt in einer L Moschee, ein. Allerdings bestritt er, unrichtige Angaben zu seiner wahren Identität gemacht zu haben. Das Ergebnis des medizinischen Gutachtens zu seinem Alter sei unrichtig und für ihn nicht nachvollziehbar. Ebenso sei der (unter anderem) daraus gezogene Schluss über sein gezieltes Untertauchen in die Anonymität (in der Absicht, sich vor den Behörden verborgen zu halten, um seiner Abschiebung zu entgehen) unrichtig. Insgesamt erweise sich die Verhängung eines gelinderen Mittels, im Rahmen dessen er sich mit Sicherheit der Behörde zur Verfügung stellen und nicht untertauchen werde, als ausreichend. Er habe nämlich Freunde, die "über Asyl bzw. einen Aufenthaltstitel nach dem NAG verfügen" und in L einen festen Wohnsitz hätten. Diese hätten sich bereit erklärt, ihn aufzunehmen und finanziell zu unterstützen. Nach der Entlassung aus der Grundversorgung habe er es lediglich verabsäumt, seinen Aufenthaltsort, den er im Übrigen bei der Landespolizeidirektion Oberösterreich wahrheitsgemäß und im Detail angegeben habe, "bei der jeweils zuständigen Aufenthaltsbehörde bekannt zu geben". Nach einer Entlassung aus der Schubhaft könnte er bei seinen Freunden in L Unterkunft nehmen und sich an ihrer Adresse ordnungsgemäß anmelden.

Mit Note vom ersuchte die belangte Behörde die Landespolizeidirektion Oberösterreich um Vorlage des Verwaltungsaktes und räumte ihr die Möglichkeit ein, binnen 24 Stunden eine Gegenschrift zu erstatten.

Dennoch erließ die belangte Behörde (jedenfalls gegenüber der beschwerdeführenden Landespolizeidirektion Oberösterreich) noch am selben Tag - vor Aktenvorlage und Äußerung durch die genannte Landespolizeidirektion - den angefochtenen Bescheid, mit dem sie gemäß § 83 FPG die Verhängung und den Vollzug der Schubhaft seit dem als rechtswidrig erklärte und feststellte, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen.

In ihrer Begründung stellte sie den (bereits wiedergegebenen) Gang des Verfahrens sowie den Inhalt der Administrativbeschwerde näher dar und vertrat dazu die Ansicht, der Sachverhalt sei "zwischen den Verfahrensparteien … in keiner Weise strittig", sodass gemäß § 83 Abs. 2 Z. 1 FPG von der Durchführung einer öffentlichen Verhandlung habe abgesehen werden können.

Angesichts der rechtskräftigen Ausweisung nach Pakistan und des Fehlens einer Berechtigung zum Aufenthalt in Österreich habe gegen den Mitbeteiligten "auch prinzipiell" Schubhaft gemäß § 76 Abs. 1 FPG angeordnet werden dürfen. Allerdings erscheine es unter dem Aspekt, dass der Mitbeteiligte "keine als gravierende Indizien für ein Abtauchen in die Anonymität zu wertende Handlungen gesetzt" habe, bereits fraglich, ob aus der Mittellosigkeit und dem örtlich ungebundenen Aufenthalt in Österreich zwingend ein Sicherungsbedürfnis abgeleitet werden könne.

Vorrangig liege jedoch ein Begründungsmangel darin, dass die nach dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , G 140/11 u.a., primär gebotene Heranziehung gelinderer Mittel nicht ausreichend geprüft worden sei. Offenbar in Verkennung der dem genannten Erkenntnis zugrunde liegenden Prioritätensetzung gehe aus dem Schubhaftbescheid nämlich nicht hervor, dass die Anordnung gelinderer Mittel "überhaupt de facto erwogen" worden wäre. Es fehle daher auch eine fallbezogene und auf entsprechenden Belegen fußende Auseinandersetzung mit der Frage, welches dieser Mittel im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als das "am ehesten Zielführendste" anzusehen sei, und mit der Frage, weshalb gegenständlich eine derartige "ultima-ratio-Situation" vorliege, dass nicht mit gelinderen Mitteln, sondern nur mit einer Schubhaftverhängung das Auslangen habe gefunden werden können. Bei Verhängung der Schubhaft seien die zu Gunsten einer Anordnung bloß gelinderer Mittel sprechenden Argumente "teils bloß kursorisch, teils überhaupt nicht erwähnt" worden. Dazu zähle in erster Linie der Umstand, dass der Mitbeteiligte bei Freunden eine Aufnahme finden könnte, dass er sich aus eigenem Antrieb zur Fremdenpolizeibehörde begeben und dort einen Asylantrag gestellt habe, dass er sich aus der Bundesbetreuung nicht entfernt und dass er die öffentliche Ordnung nicht durch gravierende - nämlich gerichtlich strafbare - Handlungen gefährdet habe. Vor diesem Hintergrund sei "keine konkret-fallbezogene Interessenabwägung und damit auch keine echte Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen" worden. Vielmehr seien bloß Gesichtspunkte ins Treffen geführt worden, die allenfalls dazu geeignet seien, eine höhere faktische Effektivität der Schubhaftverhängung im Vergleich zu bloß gelinderen Mitteln zu untermauern. Die "originäre" Entscheidung darüber, ob bzw. welche gelinderen Mittel anzuordnen oder ob statt dessen die Schubhaft zu verhängen sei, könne nur von der Fremdenpolizeibehörde selbst getroffen, nicht aber vom unabhängigen Verwaltungssenat im Rahmen eines Schubhaftbeschwerdeverfahrens nachgetragen werden. Gleiches gelte hinsichtlich der Gründe für das Vorliegen einer die Schubhaftverhängung tragenden ultima-ratio-Situation.

Hieraus seien Prüfungs- und Begründungsfehler des Schubhaftbescheides abzuleiten, sodass sich die Anhaltung des Mitbeteiligten als rechtswidrig erweise. Davon ausgehend lägen "konsequenterweise auch die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt dieser Entscheidung nicht vor". Dies sei demnach gemäß § 83 Abs. 1 und 4 FPG festzustellen gewesen.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift seitens der belangten Behörde erwogen:

Der vorliegende Fall ähnelt jenem, der dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , Zl. 2013/21/0008, zugrunde liegt. Mit diesem Erkenntnis hat der Gerichtshof einen weitgehend ident begründeten, ebenfalls mit Amtsbeschwerde bekämpften Bescheid der belangten Behörde, in dem - wie hier - unter ausführlicher Bezugnahme auf das erwähnte Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom ein Begründungsmangel hinsichtlich der vorrangig gebotenen Anwendung gelinderer Mittel unterstellt wurde, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben. Gemäß § 43 Abs. 2 VwGG kann zunächst auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses - fallbezogen insbesondere auf die Punkte 2.1. und 2.3. sowie 5.3.3. und 5.3.4. -

verwiesen werden.

Am Maßstab dieses Erkenntnisses (siehe v.a. Punkt 5.3.4.) ist auch der gegenständlich zu beurteilende Schubhaftbescheid - entgegen der Meinung der belangten Behörde - in Bezug auf die Frage, ob der Sicherungsbedarf die Verhängung von Schubhaft notwendig gemacht habe und daher mit gelinderen Mitteln nicht das Auslangen habe gefunden werden können, für sich betrachtet ausreichend begründet.

Die Landespolizeidirektion Oberösterreich durfte nämlich auf Basis ihrer - in der Administrativbeschwerde dann aber zum Teil bestrittenen; insoweit hätte die belangte Behörde eine Klärung vornehmen müssen (siehe unten) - Sachverhaltsannahmen (falsche Identitätsangaben des - tatsächlich volljährigen - nicht ausreisewilligen Mitbeteiligten, Fehlen ausreichender familiärer, sozialer und beruflicher Anknüpfungspunkte in Österreich, damit zusammenhängende Mittellosigkeit und unangemeldeter Verbleib an verschiedenen Orten in Österreich nach Scheitern des Asylverfahrens und Beendigung der Grundversorgung) ein nur durch Schubhaft zu sicherndes überwiegendes öffentliches Interesse an der effektiven Außerlandesbringung des Mitbeteiligten annehmen. Unter den erwähnten Umständen musste von der Schubhaftanordnung im Übrigen auch nicht unter Ermessensgesichtspunkten Abstand genommen werden.

Die gegenteilige Argumentation der belangten Behörde mit den Umständen, dass sich der Mitbeteiligte aus eigenem Antrieb zur Fremdenpolizeibehörde begeben und dort einen Asylantrag gestellt und dass er sich aus der Bundesbetreuung nicht entfernt habe, überzeugt nicht. Dabei handelt es sich nämlich um Verhaltensweisen, die im Jahr 2012 vor und während des anhängigen Asylverfahrens gesetzt wurden und denen daher im Hinblick auf das unbestrittene Untertauchen nach dessen Beendigung (gefolgt von Aufenthalten in Asylheimen und Moscheen) im Rahmen einer aktuellen Prognosebeurteilung kein entscheidendes Gewicht mehr hätte zugemessen werden dürfen. Dasselbe gilt für das Unterbleiben gerichtlich strafbarer Handlungen, das im gegebenen Zusammenhang nicht maßgeblich zugunsten des Mitbeteiligten ausschlägt.

Schon davon ausgehend hätte die belangte Behörde den Schubhaftbescheid und die auf den Schubhaftbescheid gegründete Anhaltung des Mitbeteiligten aus den von ihr herangezogenen Gründen nicht als rechtswidrig qualifizieren dürfen.

Was die - erstmals in der Administrativbeschwerde behauptete und von der belangten Behörde ebenfalls ins Treffen geführte - Wohnmöglichkeit des Mitbeteiligten bei Freunden anlangt, hätte die belangte Behörde nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 83 Abs. 2 Z. 1 FPG ausgehen dürfen. Sie wäre daher zur - in der vorliegenden Beschwerde zu Recht vermissten - Klärung der strittigen Sachverhaltselemente (auch hinsichtlich der in der Administrativbeschwerde bestrittenen Falschangaben zu den Personalien) in einer mündlichen Verhandlung verpflichtet gewesen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2010/21/0238). Dabei hätte sie auch auf den (ihr im Entscheidungszeitpunkt nicht einmal vorliegenden) Akteninhalt sowie die Argumentation der Landespolizeidirektion Oberösterreich (die in der ihr aufgetragenen Stellungnahme vom unter anderem auf ein fachärztliches Gutachten zur Altersfeststellung verweist und geltend macht, die Angaben zur Möglichkeit einer Unterkunft seien bis zuletzt nicht konkretisiert worden) eingehen müssen.

Darüber hinaus judiziert der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass ein unabhängiger Verwaltungssenat im Rahmen seines Ausspruchs gemäß § 83 Abs. 4 FPG, der einen neuen Titelbescheid für die weitere Anhaltung in Schubhaft darstellt, die Zulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft nach allen Richtungen zu prüfen hat (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/21/0246, mwN). Die von der belangten Behörde im Gegensatz dazu vertretene Ansicht, von ihr unterstellte Begründungsmängel des Schubhaftbescheides müssten "konsequenterweise" dazu führen, auch die Voraussetzungen für einen stattgebenden Fortsetzungsausspruch nach § 83 Abs. 4 FPG zu verneinen, ist demnach unzutreffend. Dies begründet eine inhaltliche Rechtswidrigkeit auch des Ausspruches nach § 83 Abs. 4 FPG.

Der angefochtene Bescheid war daher insgesamt gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. Gleiches gilt für die damit zusammenhängende und im angefochtenen Bescheid auch getroffene Kostenentscheidung.

Wien, am