VwGH vom 22.05.2013, 2013/18/0070
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Eder, Mag. Feiel und Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Pitsch, über die Beschwerde des M in W, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom , Zl. E1/434303/2009, betreffend Erlassung eines befristeten Rückkehrverbots, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der 1994 geborene Beschwerdeführer, ein algerischer Staatsangehöriger, reiste am gemeinsam mit seinen Eltern und seinen beiden - ebenfalls minderjährigen - Brüdern illegal nach Österreich ein, wo die Familie Asyl(erstreckungs-)anträge stellte. Das Asylverfahren des Beschwerdeführers war bei Erlassung des angefochtenen Bescheides noch nicht abgeschlossen.
Am wurde der Beschwerdeführer vom Landesgericht für Strafsachen Wien wegen des Verbrechens des versuchten Raubes nach den §§ 15, 142 Abs. 1 StGB und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB unter Anwendung des § 5 Z 4 JGG zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten verurteilt. Dieser Verurteilung lag zu Grunde, dass der Beschwerdeführer am einem ihm "vom Sehen" her bekannten Elfjährigen sowie einem ihm unbekannten Zwölfjährigen ihre Mobiltelefone bzw. auch Bargeld durch die Androhung und Ausübung körperlicher Gewalt zu rauben versucht hatte. Weiters hatte er am den Elfjährigen verbal wegen der von ihm bei der Polizei erstatteten Anzeige mit einer Verletzung am Körper gefährlich bedroht, um ihn in Furcht und Unruhe zu versetzen.
Im Hinblick auf diese Verurteilung erließ die belangte Behörde mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom gegen den Beschwerdeführer gemäß § 62 Abs. 1 und 2 iVm § 60 Abs. 2 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Rückkehrverbot.
Nach Darstellung der dem Urteil zu Grunde liegenden Straftaten führte die belangte Behörde in ihrer Begründung weiter aus, dass sich die Eltern des Beschwerdeführers - der gemäß § 34 Wiener Jugendwohlfahrtsgesetz "von der Magistratsabteilung 11", der die volle Erziehung übertragen sei, vertreten werde - nach seinem Vorbringen getrennt hätten und der Vater nun mit einer anderen Frau zusammenlebe. Die an Depressionen leidende Mutter lebe mit ihrem zweiten Sohn zusammen, während der Beschwerdeführer in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft des Wiener Jugendamtes untergebracht sei. Der Beschwerdeführer unterhalte "intensive emotionale Familienbeziehungen" und sei in Österreich integriert.
Rechtlich beurteilte die belangte Behörde den Sachverhalt dahingehend, dass der Tatbestand des § 60 Abs. 2 Z 1 FPG erfüllt sei, weshalb gegen den Beschwerdeführer als Asylwerber ein Rückkehrverbot gemäß § 62 FPG erlassen werden könne. Ungeachtet der für die Schwere der Straftaten bloß geringen Strafe, die über den Beschwerdeführer verhängt worden sei, zeuge sein Verhalten von einer beachtlichen kriminellen Energie und vor allem von einer Brutalität gegenüber Kindern. Diesem Verhalten müsse vom Standpunkt der öffentlichen Ordnung und Sicherheit entgegengetreten werden.
Angesichts des inländischen Aufenthalts der Eltern und des Bruders des Beschwerdeführers sei von einem mit dem Rückkehrverbot verbundenen Eingriff in das Privatleben auszugehen. Trotzdem sei die Zulässigkeit dieser Maßnahme im Grunde des § 66 FPG zu bejahen. Im Hinblick auf die Gefährlichkeit der - "Raubkriminalität" sei nämlich die Erlassung des Rückkehrverbots zu Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten. Das Fehlverhalten des Beschwerdeführers verdeutliche seine Gefährlichkeit für das Eigentum und die Gesundheit im Bundesgebiet aufhältiger Menschen und sein Unvermögen oder seinen Unwillen, die Rechtsvorschriften einzuhalten.
Das in der Berufung zitierte EuGH-Urteil "Maslov gegen Österreich" (gemeint: Urteil (der großen Kammer) des EGMR vom , Nr. 1638/03 (Maslov gegen Österreich)), sei in wesentlichen Punkten anders gelagert. Die dort getroffene Einschätzung als typisches Beispiel jugendlicher (nicht gewalttätiger) Delinquenz verbiete sich im gegenständlichen Fall. Auch im Hinblick auf das Wohlverhalten, dem besondere Bedeutung zugemessen worden sei, sei festzuhalten, dass hier kaum neun Monate seit der letzten strafbaren Handlung verstrichen seien. Eine positive Verhaltensprognose sei für den Beschwerdeführer daher unter keinen Umständen möglich.
Der aus dem bisherigen Aufenthalt des Beschwerdeführers ableitbaren Integration komme auch unter Berücksichtigung der familiären Bindungen in Österreich insofern kein entscheidendes Gewicht zu, als die für jegliche Integration erforderliche soziale Komponente durch das strafbare Verhalten des Beschwerdeführers erheblich beeinträchtigt werde. Von daher hätten die privaten Interessen des Beschwerdeführers gegenüber den genannten, hoch zu veranschlagenden öffentlichen Interessen in den Hintergrund zu treten. Hinsichtlich der familiären Bindungen sei festzustellen, dass offensichtlich zum Vater kein Kontakt bestehe und der Beschwerdeführer von Mutter und Bruder getrennt lebe. Die hier lebenden nahen Verwandten hätten auch nur ein vorläufiges Aufenthaltsrecht nach dem Asylgesetz. Weder Eltern noch der momentane gesetzliche Vertreter seien überdies in der Lage gewesen, den Beschwerdeführer zu einem ordentlichen, gesetzestreuen Verhalten zu bewegen.
Die belangte Behörde führte abschließend aus, dass eine Ermessensentscheidung (zu Gunsten des Beschwerdeführers) nicht in Betracht gekommen sei. Zur Dauer des Rückkehrverbots enthält der angefochtene Bescheid keine Begründung.
Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
Im vorliegenden Beschwerdefall war im Hinblick auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides (November 2009) das FPG idF BGBl. I Nr. 135/2009 anzuwenden.
Würde durch ein Rückkehrverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, ist diese Maßnahme gemäß § 66 Abs. 1 iVm § 62 Abs. 3 FPG nämlich nur zulässig, wenn sie zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 66 Abs. 2 FPG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 66 Abs. 3 FPG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/23/0169, mwN).
Bereits das in der Beschwerde unter dem Gesichtspunkt des § 66 FPG erstattete Vorbringen führt diese zum Erfolg. Der Beschwerdeführer brachte in diesem Zusammenhang - wie bereits in seiner Berufung im Administrativverfahren - vor, dass er weder über Sprachkenntnisse noch über persönliche Bindungen im Herkunftsland verfüge. Die Bande zu seiner Familie hier in Österreich seien sehr stark und er pflege eine Vielzahl sozialer Kontakte zu Gleichaltrigen. Seine delinquente Entwicklung werde von den Sozialpädagoginnen äußerst ernst genommen und sei Gegenstand eines umfangreichen sozialpädagogischen Betreuungskonzepts, welches durch die vom Jugendgericht angeordnete Bewährungshilfe unterstützt werde. Feststellungen zu diesen entscheidungswesentlichen Themenkomplexen habe die belangte Behörde nicht getroffen.
Zunächst ist im vorliegenden Fall festzuhalten, dass die - zum Teil mit der Ausübung von körperlicher Gewalt verbundenen - Straftaten des Beschwerdeführers keineswegs verharmlost werden dürfen. Zu berücksichtigen war allerdings, dass die Straftaten in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang standen und vom Beschwerdeführer im Alter von 14 Jahren begangen wurden. Es liegt nur eine Verurteilung vor und die deshalb verhängte Freiheitsstrafe wurde zur Gänze bedingt nachgesehen. Auch bei Erlassung des angefochtenen Bescheides war der Beschwerdeführer mit 15 Jahren und 6 Monaten noch minderjährig. Das hat die belangte Behörde bei der Interessenabwägung nicht ausreichend berücksichtigt.
Vor allem unterließ es die belangte Behörde aber, unter dem Gesichtspunkt der Interessenabwägung nach § 66 FPG die maßgeblichen Feststellungen zu treffen. So besuchte der Beschwerdeführer nach den Entscheidungsgründen des im vorgelegten Verwaltungsakt befindlichen Strafurteils in Österreich zwei Jahre die Volksschule, vier Jahre die Hauptschule und anschließend den polytechnischen Lehrgang. Im Übrigen ist die belangte Behörde selbst von "intensiven emotionalen Familienbeziehungen" zu den in Österreich lebenden Verwandten ausgegangen.
Ohne nähere Feststellungen konnte nach einer etwa siebenjährigen Abwesenheit des Beschwerdeführers von seiner Heimat auch nicht ohne weiteres vom dortigen Bestehen sozialer oder familiärer Anknüpfungspunkte ausgegangen werden. Gerade vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer bei Erlassung des angefochtenen Bescheides noch nicht einmal 16 Jahre alt war und auch seine Kernfamilie im Bundesgebiet lebte, wären nähere Feststellungen dazu erforderlich gewesen, ob der Beschwerdeführer - was er in der Berufung bestritten hatte - die Sprache seines Heimatlandes beherrscht und noch familiäre und soziale Beziehungen zu diesem bestehen, sodass er in Algerien überhaupt eine Existenzgrundlage hätte.
Die von der belangten Behörde in ihrer im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erstatteten Gegenschrift unter Bezugnahme auf eine etwa vier Jahre alte Aussage der Mutter des Beschwerdeführers in ihrem Asylverfahren zu allfälligen familiären Bindungen in Algerien nachgereichten Ausführungen vermögen eine mangelhafte Bescheidbegründung nicht mehr zu beseitigen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2006/21/0261, mwN).
Auch die Dauer des verhängten Rückkehrverbots hätte angesichts der dargestellten Umstände einer (näheren) Begründung bedurft.
Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am