VwGH vom 29.04.2021, Ra 2020/18/0479

VwGH vom 29.04.2021, Ra 2020/18/0479

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A E, vertreten durch Mag. Roland Schöndorfer, Rechtsanwalt in 3100 St. Pölten, Rathausplatz 13 Top 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W189 2231839-1/5E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Aberkennung des Status des Asylberechtigten, die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen und die Zurückweisung der Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55, 56 AsylG 2005 wendet.

II. zu Recht erkannt:

In seinem übrigen Umfang wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber ist ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, dem mit Bescheid des Bundesasylamts vom im Wege der Asylerstreckung (abgeleitet von seinem Vater) der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde. Unter einem stellte das Bundesasylamt fest, dass dem Revisionswerber kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

2Im Oktober 2019 leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) von Amts wegen ein Aberkennungsverfahren ein.

3Mit Bescheid des BFA vom wurde dem Revisionswerber der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 und 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) aberkannt und festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Dem Revisionswerber wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.). Das BFA erließ zudem eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.), erließ ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot gegen ihn (Spruchpunkt VI.) und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VII.).

4Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er unter einem Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55, 56 AsylG 2005 stellte.

5Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies diese Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab (Spruchpunkt A. I.), wies die Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55, 56 AsylG 2005 als unzulässig zurück (Spruchpunkt A. II.) und erklärte die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).

6Begründend hielt das BVwG fest, der Revisionswerber sei wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach § 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB rechtskräftig verurteilt worden und habe damit - nach näherer Darlegung der der Verurteilung zu Grunde liegenden Tathandlung sowie der Milderungs- und Erschwerungsgründe - ein besonders schweres Verbrechen begangen. Auch eine im Rahmen dieses Aberkennungstatbestandes durchzuführende Gefährdungsprognose falle zu Lasten des Revisionswerbers aus, sodass ihm der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 abzuerkennen sei. Zudem hätten sich die Umstände im Herkunftsland maßgeblich und nachhaltig verbessert. Dem Revisionswerber sei abgeleitet von seinem Vater, der am ersten Tschetschenienkrieg teilgenommen habe, der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden. Aus den Länderfeststellungen ergebe sich, dass Teilnehmern dieses Krieges keine asylrelevante Gefahr mehr drohe, sofern es sich nicht um prominente oder öffentliche Kritiker von Kadyrow handle. Dies liege im Falle des Vaters des Revisionswerbers nicht vor. Es sei daher auch der Aberkennungstatbestand des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 erfüllt.

7Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten lägen im vorliegenden Fall nicht vor.

8Zur Rückkehrentscheidung führte das BVwG aus, der im Jahr 2000 geborene Revisionswerber sei seit Dezember 2003 im Bundesgebiet aufhältig. Er habe die deutsche Sprache gelernt, die Schule besucht und zuletzt eine Lehre zum KFZ-Mechaniker begonnen. Er habe einen österreichischen Freundes- und Bekanntenkreis, wobei er selbst angegeben habe, dass die meisten Kontakte mit Drogen zu tun hätten. Er habe - außer während der Verbüßung seiner Haftstrafe - stets mit seinen Eltern und Geschwistern im gemeinsamen Haushalt gelebt. Aufgrund des gemeinsamen Haushaltes und der noch nicht lange bestehenden Volljährigkeit des Revisionswerbers sei davon auszugehen, dass noch ein gewisses Familienleben zwischen dem Revisionswerber und seinen Familienangehörigen bestehe, das aber keine hohe, übermäßig schützenswerte Intensität aufweise. Bezüglich des Privatlebens des Revisionswerbers sei auszuführen, dass dieser grundsätzlich eine soziale Integration in Österreich aufweise, dies bereits alleine aufgrund des Umstandes, dass er praktisch sein gesamtes bisheriges Leben im Bundesgebiet verbracht habe. Der Integration des Revisionswerbers stehe sein kriminelles Verhalten gegenüber. Aufgrund des erheblichen strafrechtlichen Fehlverhaltens stelle der Revisionswerber eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Zudem bestünden noch näher genannte Bindungen des Revisionswerbers zu seiner Herkunftsregion Tschetschenien. Zusammenfassend überwögen die Interessen der Republik Österreich die persönlichen Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Bundesgebiet.

9Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom , E 2896/2020-8, die Behandlung der Beschwerde ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

10Die vorliegende außerordentliche Revision bringt im Wesentlichen vor, dem BVwG sei sowohl im Rahmen der Prüfung der Gemeingefährlichkeit als Voraussetzung des Aberkennungstatbestandes des besonders schweren Verbrechens als auch im Hinblick auf die Rückkehrentscheidung und das Einreiseverbot eine Verletzung der Verhandlungspflicht anzulasten.

11Das BFA erstattete im eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.

12Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.

14Zu I.:

15Die vorliegende Revision wendet sich zwar gegen die angefochtene Entscheidung im vollen Umfang, vermag aber hinsichtlich der Aberkennung des Status des Asylberechtigten, der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen und der Zurückweisung der Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55, 56 AsylG 2005 keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung aufzuzeigen.

16Soweit sich die Revision gegen den vom Verwaltungsgericht angenommenen Aberkennungstatbestand des besonders schweren Verbrechens gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 wendet, genügt es darauf hinzuweisen, dass es sich dabei lediglich um eine Alternativbegründung handelt. Das Verwaltungsgericht hat nämlich im Revisionsfall auch das Vorliegen des Aberkennungstatbestandes nach § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK geprüft und in seiner Entscheidung dargelegt, dass die Umstände, aufgrund derer die Bezugsperson - im vorliegenden Fall der Vater des Revisionswerbers - als Flüchtling anerkannt worden sei, nicht mehr bestehen, und dass auch hinsichtlich des Revisionswerbers die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen würden. Zu dieser - für sich tragfähigen - Alternativbegründung erstattet die Revision kein substantiiertes Vorbringen (vgl. zur Unzulässigkeit einer Revision bei einer tragfähigen Alternativbegründung etwa , mwN).

17Auch im Hinblick auf die Nichtgewährung subsidiären Schutzes, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen und die Zurückweisung der Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55, 56 AsylG 2005 enthält die Revision kein Vorbringen, das im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zur Zulässigkeit der Revision in diesen Punkten führen würde.

18Die Revision war daher in diesem Umfang gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

19Zu II.:

20Berechtigung kommt der Revision jedoch insoweit zu, als sie sich gegen die Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte richtet.

21Soweit die Revision einen Verstoß des BVwG gegen die Verhandlungspflicht geltend macht, ist zunächst festzuhalten, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum auch hier maßgeblichen § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG ein Absehen von der mündlichen Verhandlung dann gerechtfertigt ist, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. grundlegend , 0018).

22Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die (allenfalls erforderliche) Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann eine Verhandlung unterbleiben (vgl. , mwN).

23Diese Voraussetzungen für das Absehen von der mündlichen Verhandlung lagen gegenständlich nicht vor.

24Im Falle des Revisionswerbers liegt - ungeachtet seiner Verurteilung als junger Erwachsener gemäß § 1 Abs. 1 Z 5 JGG - aufgrund des Umstandes, dass er sich seit 2003 - sohin seit etwa siebzehn Jahren und somit fast sein gesamtes Leben - im Bundesgebiet aufhält, die Schule besucht und eine Lehre begonnen hat, fallbezogen kein solch eindeutiger Fall vor, der ein Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Sinne der hg. Rechtsprechung erlauben würde, zumal der Revisionswerber bereits in seiner Beschwerde der diesbezüglichen Beurteilung des BFA substantiiert entgegengetreten ist und dazu die Einvernahme von namentlich genannten Zeugen beantragt hat. Hinzu kommt insbesondere, dass zum Entscheidungszeitpunkt des BVwG auch die gesamte Kernfamilie des Revisionswerbers (seine Eltern und Geschwister), mit der er mit Ausnahme der Verbüßung seiner Haftstrafe durchgehend im gemeinsamen Haushalt lebte und zu der das BVwG das Vorhandensein eines Familienlebens grundsätzlich bejahte, im Bundesgebiet aufhältig war.

25Zusammenfassend rügt der Revisionswerber sohin zu Recht, dass sich das BVwG für die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen einen persönlichen Eindruck von ihm verschaffen hätte müssen.

26Im fortgesetzten Verfahren wird sich das BVwG dabei auch mit den Ausführungen der Entscheidung im Aberkennungsverfahren des Vaters auf das Familienleben des Revisionswerbers auseinanderzusetzen haben.

27Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die gegen den Revisionswerber erlassene Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

28Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180479.L00

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