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VwGH vom 18.07.2022, Ra 2020/18/0455

VwGH vom 18.07.2022, Ra 2020/18/0455

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision von 1. G H und 2. N M, beide vertreten durch Mag. Sandra Justin, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 1A, als bestellte Verfahrenshelferin, diese vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom , 1. W241 2192689-2/2E und 2. W241 2192695-2/2E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Erstrevisionswerber ist der Ehemann der Zweitrevisionswerberin, beide sind iranische Staatsangehörige. Sie stellten - nachdem sie mit Touristenvisa in Österreich eingereist waren - am Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstrevisionswerber sei im Iran im IT-Bereich tätig gewesen. In seinem Geschäft habe man Ausrüstung kaufen können, mit der man die staatliche Sperre mancher Bereiche im Internet umgehen habe können. Die Regierung habe ihn mehrmals verwarnt und aufgefordert, Kundendaten zu sammeln und an die Regierung weiterzugeben. Während ihres Touristenaufenthalts in Wien hätten die Revisionswerber erfahren, dass die Regierung gegen den Erstrevisionswerber einen Haftbefehl ausgestellt habe.

2Mit Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diese Anträge in Bestätigung entsprechender Bescheide des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom zur Gänze ab, erteilte den revisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Iran zulässig sei, und legte jeweils eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Das Fluchtvorbringen der strafrechtlichen Verfolgung und nunmehr drohenden Inhaftierung des Erstrevisionswerbers sei nicht glaubhaft.

3Mit Schriftsatz vom beantragten die revisionswerbenden Parteien die Wiederaufnahme der oben angeführten Verfahren. Der Erstrevisionswerber habe am als „Einweg-E-Mail“ - das sei ein Service, das es ermögliche, E-Mails an einer Adresse zu empfangen, die sich nach einer gewissen Zeit selbst zerstöre - eine Kopie des gegen ihn erlassenen Haftbefehls vom erhalten. Vorgelegt wurden ein Dokument in Farsi samt „Arbeitsübersetzung“ ins Deutsche und Screenshots, die den Zeitpunkt des Erhalts dokumentieren sollten.

4Mit dem angefochtenen Beschluss wies das BVwG den Wiederaufnahmeantrag der Revisionswerber gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

5Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, das neue Beweismittel in der Sprache Farsi, das das Symbol des iranischen Justizministeriums, einen Stempel und eine Paraphe trage, sei aufgrund der geringen Schriftgröße und der geringen Auflösung der Kopie nicht lesbar. Es erschließe sich nicht, wie die übermittelte deutsche Übersetzung angefertigt werden habe können; überdies sei nicht ersichtlich, wer sie angefertigt habe. Die Überprüfung der Echtheit des Dokuments sei nicht möglich, und es sei nicht auszuschließen, dass das Dokument und auch die deutsche Übersetzung von „beliebigen Personen, mitunter auch vom [Erstrevisionswerber] selbst angefertigt wurde“. Aus den Screenshots sei nicht erkennbar, ob das Dokument per Mail übermittelt wurde. Das BVwG gehe davon aus, dass es sich bei dem Haftbefehl um eine Fälschung handle. Das Schriftstück sei daher für sich allein nicht geeignet, die Richtigkeit des im abgeschlossenen Verfahren angenommenen Sachverhalts - dem Erstrevisionswerber sei aufgrund zahlreicher widersprüchlicher Angaben keine Glaubwürdigkeit zugesprochen worden - als zweifelhaft erscheinen zu lassen.

6Dagegen wendet sich die außerordentliche Revision, die in der Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem geltend macht, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen einer Wiederaufnahme des Verfahrens abgewichen, indem es die „Glaubwürdigkeit der Urkunde in einem Verfahrensgang mit ihrer Eignung als Wiederaufnahmegrund beurteilt habe“; vielmehr hätte es sich im Zuge der Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag auf die Prüfung der - aus der Sicht der Revision zu bejahenden - Tauglichkeit des neuen Beweismittels als Wiederaufnahmegrund beschränken und das Verfahren über die Anträge der revisionswerbenden Parteien auf internationalen Schutz wiederaufnehmen müssen.

7Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

8Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9Die Revision ist zulässig und begründet.

10Ein Wiederaufnahmegrund im Sinne des § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG setzt unter anderem voraus, dass neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anders lautendes Erkenntnis herbeigeführt hätten.

11Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG rechtfertigen neu hervorgekommene Tatsachen und Beweismittel (also solche, die bereits zur Zeit des früheren Verfahrens bestanden haben, aber erst später bekannt wurden) - bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen - eine Wiederaufnahme des Verfahrens, wenn sie die Richtigkeit des angenommenen Sachverhalts in einem wesentlichen Punkt als zweifelhaft erscheinen lassen; gleiches gilt nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für neu entstandene Beweismittel, sofern sie sich auf „alte“ - d.h. nicht erst nach Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens entstandene - Tatsachen beziehen (vgl. etwa , mwN).

12Die Wiederaufnahme des Verfahrens setzt weiters die Eignung der neuen Tatsachen oder Beweismittel voraus, dass diese allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anders lautendes Ergebnis herbeigeführt hätten. Ob diese Eignung vorliegt, ist eine Rechtsfrage, die im Wiederaufnahmeverfahren zu beantworten ist; ob tatsächlich ein anderes Ergebnis des Verfahrens zustande kommt, ist sodann eine Frage, die im wiederaufgenommenen Verfahren zu klären ist. Tauglich ist ein Beweismittel als Wiederaufnahmegrund (ungeachtet des Erfordernisses der Neuheit) also nur dann, wenn es nach seinem objektiven Inhalt und unvorgreiflich der Bewertung seiner Glaubwürdigkeit die abstrakte Eignung besitzt, jene Tatsachen in Zweifel zu ziehen, auf welche das BVwG entweder die den Gegenstand des Wiederaufnahmeverfahrens bildende Entscheidung oder zumindest die zum Ergebnis dieser Entscheidung führende Beweiswürdigung tragend gestützt hat (vgl. abermals , mwN).

13Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass das BVwG nicht die abstrakte Tauglichkeit des in Kopie vorgelegten Haftbefehls als Beweismittel beurteilte, sondern in vorgreifender Beweiswürdigung annahm, es handle sich um eine Fälschung, sodass dieses Beweismittel nicht geeignet sei, die Richtigkeit des im abgeschlossen Verfahren angenommenen Sachverhaltes (Unglaubhaftigkeit der behaupteten strafrechtlichen Verfolgung des Erstrevisionswerbers im Iran) als zweifelhaft erscheinen zu lassen; eine Frage, die nach dem bisher Gesagten nicht im Wiederaufnahmeverfahren, sondern im wiederaufgenommenen Verfahren zu klären wäre.

14An der grundsätzlichen Eignung als Beweismittel ändert es auch nichts, dass das BVwG die in Farsi vorgelegte Kopie des angeblichen Haftbefehls als „nicht lesbar“ bezeichnet. Das BVwG legt nämlich nicht hinreichend dar, dass ein Sprachkundiger den schlecht lesbaren Unterlagen keinen objektiv ermittelbaren Inhalt entnehmen könnte.

15Der angefochtene Beschluss war daher schon deshalb wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

16Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020180455.L00

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