VwGH vom 16.05.2022, Ra 2020/18/0345
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des M H, vertreten durch Dr. Markus Grötschl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Parkring 12, als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W103 2168112-2/3E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Somalia, der in Kuwait geboren wurde und nie in Somalia gelebt hat, stellte am - als zu diesem Zeitpunkt noch Minderjähriger vertreten durch seine Mutter - gemeinsam mit einem Bruder, drei Schwestern (alle damals ebenso minderjährig) und der Mutter Anträge auf internationalen Schutz. Das aufgrund von Säumnisbeschwerden zuständig gewordene Bundesverwaltungsgericht (BVwG) gewährte mit Erkenntnis vom den drei minderjährigen Schwestern sowie im Wege des Familienverfahrens auch dem minderjährigen Bruder, der Mutter und dem Revisionswerber den Status von Asylberechtigten und stellte fest, dass ihnen kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
2Das Landesgericht für Strafsachen Wien erkannte den damals sechzehnjährigen Revisionswerber sowie CK, MBLK und MK mit Urteil vom für schuldig, sie hätten am im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter
„[...] den Eintritt in die Wohnung des CB mit Gewalt, indem sie die Türe, die von dem in der Wohnung anwesenden DM nur einen Spalt geöffnet wurde, aufstießen, wobei sich DM unmittelbar hinter der Tür befand und auf diese Weise nach hinten gestoßen wurde, erzwungen, wobei sie gegen die dort befindlichen Personen Gewalt zu üben beabsichtigten, einen Baseballschläger, sohin eine Waffe, mitführten, um deren Widerstand zu überwinden oder zu verhindern und das Eindringen mehrerer Personen erzwangen;
[...]... im Anschluss [daran] unter Verwendung einer Waffe, nämlich eines Baseballschlägers, mit Gewalt gegen eine Person und mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben [...] anderen fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz weggenommen bzw. abgenötigt, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem sie Schläge mit dem Baseballschläger androhten, und CK dem CB auch ein- oder zweimal mit dem Baseballschläger gegen das Gesicht schlug, die Herausgabe von Wertgegenständen forderten, die Wohnung nach solchen durchsuchten und sodann der NS, dem DM und dem CB ein Mobiltelefon [...] im Wert von ca. EUR 320,--, EUR 30,-- an Bargeld, [und weitere Gegenstände] (Gesamtsumme ca. EUR 1.500,--) wegnahmen ...“.
Das Landesgericht für Strafsachen Wien verhängte deshalb über den Revisionswerber wegen des Vergehens des Hausfriedensbruchs nach § 109 Abs. 1 und Abs. 3 Z 1, Z 2 und Z 3 StGB und des Verbrechens des schweren Raubes nach § 142 Abs. 1 und § 143 Abs. 2 zweiter Fall StGB unter Anwendung von § 28 Abs. 1 StGB und § 5 Z 4 JGG eine Freiheitsstrafe im Ausmaß von 18 Monaten, wobei es einen Teil der Strafe im Ausmaß von 14 Monaten bedingt nachsah. Als mildernd wurden das Geständnis und der bisher ordentliche Lebenswandel des Revisionswerbers gewertet, als erschwerend das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen. Der Revisionswerber verzichtete auf Rechtsmittel.
3Mit Bescheid vom erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem Revisionswerber den Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) aufgrund der Verurteilung wegen eines besonders schweren Verbrechens und der daraus abzuleitenden Gemeingefährlichkeit ab und stellte fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme, erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Somalia unzulässig sei, setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest und erließ gegen den Revisionswerber ein auf drei Jahre befristetes Einreiseverbot.
4In der dagegen gerichteten Beschwerde brachte der Revisionswerber insbesondere vor, das BFA habe allein aus der Verurteilung des Revisionswerbers - wobei die Strafe im unteren Bereich des Strafrahmens angesiedelt gewesen sei - auf die Gemeingefährlichkeit geschlossen, ohne eine Prognose anhand konkreter Argumente durchzuführen. Dem Revisionswerber sei zugute zu halten, dass er die Tat bereits bei der polizeilichen Einvernahme gestanden und bisher einen ordentlichen Lebenswandel gepflegt habe. Er sei nicht derjenige gewesen sei, der die Tat geplant habe, und er habe keine persönlichen Animositäten gegen das Opfer gehegt, sondern sich lediglich ein paar Bekannten angeschlossen. Die Minderjährigkeit des Revisionswerbers und das Kindeswohl seien nicht berücksichtigt worden. Der Revisionswerber habe sich seit der Haftentlassung wohlverhalten und wisse, dass er einen Fehler gemacht habe. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG wurde beantragt.
5Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
6Im Hinblick auf die Aberkennung des Status des Asylberechtigten hielt das BVwG fest, das Verbrechen des schweren Raubes werde in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes explizit als besonders schweres Verbrechen genannt. Die Straftat verletze somit „objektiv besonders wichtige Rechtsgüter“. In Anbetracht der [unter Rn. 2 wiedergegebenen] Ausführungen im Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien, welches keine Hinweise auf das etwaige Vorliegen von Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgründen enthalte, stelle sich die vom Revisionswerber begangene Tat im konkreten Einzelfall als objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend dar. Auch die weitere Voraussetzung der negativen Zukunftsprognose sei erfüllt: Angesichts der Verurteilung sei anzunehmen, dass vom Revisionswerber weiterhin eine große Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ausgehe, zumal er angesichts der bereits in der Vergangenheit im jugendlichen Alter gezeigten Bereitschaft, sich durch kriminelle Handlungen und unter Gewaltanwendung ein Einkommen zu verschaffen, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit weiterhin vergleichbare Straftaten begehen werde. Was die nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erforderliche Abwägung der öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung gegenüber den Interessen des anerkannten Flüchtlings am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat betreffe, gehe das BVwG nicht von einer „aktuell bestehenden individuellen Bedrohungslage in Somalia“ für den Revisionswerber aus. Denn diesem sei der Status des Asylberechtigten „nur im Familienverfahren“ zuerkannt worden. Auch im Aberkennungsverfahren habe er keine Umstände vorgebracht, die auf das Vorliegen einer individuellen Gefährdung im Herkunftsstaat schließen ließen. Aufgrund der Verurteilung des Revisionswerbers liege auch der Ausschlussgrund des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 für die Zuerkennung subsidiären Schutzes vor. Die Rückkehrentscheidung begründete das BVwG mit einer zu Lasten des Revisionswerbers ausfallenden Abwägung der für bzw. gegen seinen weiteren Verbleib in Österreich sprechenden privaten bzw. öffentlichen Interessen. Zur Unzulässigkeit der Abschiebung nach Somalia hielt das BVwG fest, aufgrund der Minderjährigkeit des Revisionswerbers, des fehlenden Auffangnetzes im Herkunftsstaat, der mangelnden Vertrautheit mit den dortigen Gegebenheiten sowie der allgemeinen instabilen Sicherheits- und Versorgungslage könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Revisionswerber im Fall einer Rückkehr in eine ausweglose Lage gedrängt werden könnte.
7Die dagegen gerichtete außerordentliche Revision wendet sich insbesondere gegen die Aberkennung des Asylstatus und bringt zu ihrer Zulässigkeit ua. vor, das BVwG habe gegen die Verhandlungspflicht verstoßen.
8Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
9Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10Die Revision ist zulässig und begründet.
11Das BVwG hat die Aberkennung des Status des Revisionswerbers als Asylberechtigten auf § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 gestützt. Die letztgenannte Bestimmung stellt darauf ab, dass die betroffene Person „von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden ist und wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet.“
12Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes genügt es für die Qualifizierung einer Straftat als „besonders schweres Verbrechen“ nicht, wenn ein abstrakt als „schwer“ einzustufendes Delikt verübt worden ist. Die Tat muss sich im konkreten Einzelfall als objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend erweisen. Bei der Beurteilung, ob ein „besonders schweres Verbrechen“ vorliegt, ist daher eine konkrete fallbezogene Prüfung vorzunehmen und es sind insbesondere die Tatumstände zu berücksichtigen. Lediglich in gravierenden Fällen schwerer Verbrechen ist bereits ohne umfassende Prüfung der einzelnen Tatumstände eine eindeutige Wertung als schweres Verbrechen mit negativer Zukunftsprognose zulässig (vgl. etwa , mwN).
13Ein Absehen von der mündlichen Verhandlung ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum hier maßgeblichen § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. jüngst etwa , mwN).
14Der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung kommt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes insbesondere auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose hinsichtlich des Erfordernisses der Gemeingefährlichkeit im Sinn des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 besondere Bedeutung zu (vgl. abermals , mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar in diesem Zusammenhang bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass daraus noch keine „absolute“ (generelle) Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Verfahren über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten und aufenthaltsbeendende Maßnahmen abzuleiten ist, aber gleichzeitig betont, dass nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, eine Verhandlung unterbleiben könne (vgl. ).
15Die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verhandlung lagen fallbezogen nicht vor:
16Die Beschwerde erstattete über die vom BFA seiner Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachen hinaus etwa genaueres Vorbringen zu den Umständen der Tat, die zur Verurteilung des Revisionswerbers geführt hat, zu seinem Wohlverhalten seit der Haftentlassung sowie seinem positiven Gesinnungswandel, weshalb er weder gemeingefährlich sei, noch eine negative Gefährdungsprognose zu treffen sei.
17Das BVwG setzte sich mit diesem Vorbringen überhaupt nicht auseinander, sondern verwies lediglich auf die oben in Rn. 2 wiedergegebenen Ausführungen des - überdies bloß gekürzt ausgefertigten - Urteils des Landesgerichts für Strafsachen Wien, um zur Bewertung der vom Revisionswerber begangenen Tat als „objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend“ zu gelangen. Auch die Prognose, der Revisionswerber werde mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit weiterhin vergleichbare Straftaten begehen, leitete das BVwG letztlich aus dem bloßen Umstand dieser einen Verurteilung ab. Damit verkannte das BVwG, dass es den Sachverhalt aufgrund des in der Beschwerde zu den Tatumständen und zur Gefährdungsprognose erstatteten Vorbringens nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergänzen hätte müssen.
18Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des - wie hier gegeben - Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. etwa , mwN).
19Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das übrige Vorbringen in der Revision einzugehen war.
20Für das fortzusetzende Verfahren wird das BVwG auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom , Ra 2021/20/0246 (EU 2021/0007), und das beim Gerichtshof der Europäischen Union aufgrund des damit unterbreiteten Ersuchens um Vorabentscheidung (hier: betreffend die Frage 2.) zu C-663/21 anhängige Verfahren hingewiesen, das auch für den gegenständlichen Fall relevant sein könnte, wenn die Qualifikation der Straftat als besonders schwer und die Gemeingefährlichkeit des Revisionswerbers weiterhin aufrecht erhalten würde.
21Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020180345.L00 |
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