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VwGH vom 11.11.2020, Ra 2020/18/0332

VwGH vom 11.11.2020, Ra 2020/18/0332

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter, die Hofrätin Dr.in Sembacher und den Hofrat Mag. Tolar als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des M M, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom , W242 2176895-1/27E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, beantragte am
- im Alter von 15 Jahren - internationalen Schutz.

2Die Vertretung des minderjährigen Revisionswerbers im Asylverfahren übernahm im Laufe des Verfahrens der zuständige Kinder- und Jugendhilfeträger des Landes Steiermark, der wiederum näher bezeichneten Mitarbeitern der CARITAS eine entsprechende Vollmacht erteilte.

3Mit Bescheid vom , zugestellt am an die CARITAS, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

4Mit Beschluss des Bezirksgerichts Fürstenfeld vom , 23 Ps 386/17w-6, wurde die Obsorge für den Revisionswerber seinem in Österreich aufhältigen Bruder übertragen und dem Beschluss gemäß § 44 AußStrG die vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zuerkannt. Der Beschluss wurde dem neuen gesetzlichen Vertreter am zugestellt.

5In Unkenntnis dieser Obsorgeentscheidung erhob die CARITAS für den Revisionswerber mit Schriftsatz vom Beschwerde gegen den Bescheid des BFA vom . Dabei berief sie sich auf die erteilte Vollmacht des Kinder- und Jugendhilfeträgers des Landes Steiermark als (dem vermeintlichen) gesetzlichen Vertreter des Revisionswerbers.

6Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde als unzulässig zurück und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

7Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, mit der Zustellung des Obsorgebeschlusses des Bezirksgerichts Fürstenfeld am sei die gesetzliche Vertretung für den minderjährigen Revisionswerber auf dessen Bruder übergegangen. Die von der CARITAS erhobene Beschwerde vom , die nur unter Berufung auf die Bevollmächtigung durch den nicht mehr vertretungsbefugten Kinder- und Jugendhilfeträger erhoben worden sei, könne dem Revisionswerber nicht zugerechnet werden und sei deshalb als unzulässig zurückzuweisen.

8Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache geltend macht, das BVwG habe den Sachverhalt aus mehreren Gründen unrichtig beurteilt:

9Zum einen habe das BVwG außer Acht gelassen, dass auch der Bruder des Revisionswerbers in seiner eigenen Asylangelegenheit eine Beschwerde gegen den ihn betreffenden Bescheid des BFA erhoben habe. Diese Beschwerde hätte im Sinne eines Familienverfahrens gemäß § 16 Abs. 3 BFA-VG auch für den Revisionswerber Wirkung entfalten müssen, zumal die Einschränkung des Familienangehörigenbegriffs in § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005, wie der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis vom , G 298/2019-11, G 117-121/2020-5, erkannt habe, unsachlich sei. Die Führung eines Familienverfahrens ergebe sich auch aus dem einschlägigen Unionsrecht.

10Zum anderen habe das BVwG nicht berücksichtigt, dass der Bruder des Revisionswerbers, der auch gesetzlicher Vertreter des Minderjährigen gewesen sei, am Beratungsgespräch vor Erhebung der Beschwerde durch die CARITAS anwesend gewesen sei und eine Beschwerde für seinen Bruder klar gewollt habe. Er habe dadurch die CARITAS stillschweigend bevollmächtigt oder zumindest sei ihm das Rechtsmittel selbst zuzurechnen. Dies sei von ihm im Verfahren vor dem BVwG auch ausdrücklich bestätigt worden.

11Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

12Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

13Die Revision ist zulässig und begründet.

14Der Revisionswerber war im Asylverfahren vor dem BFA und im Zeitpunkt der Erhebung seiner Beschwerde noch minderjährig und nur beschränkt prozessfähig (vgl. § 10 Abs. 3 BFA-VG). Für die Erhebung der gegenständlichen Beschwerde bedurfte er jedenfalls eines gesetzlichen Vertreters (vgl. zum Ganzen , mwN).

15Seine gesetzliche Vertretung lag zunächst - unstrittig - beimKinder- und Jugendhilfeträger des Landes Steiermark, ab dem Zeitpunkt der Zustellung des Obsorgebeschlusses des Bezirksgerichts Fürstenfeld (am ), dem gemäß § 44 Abs. 1 AußStrG vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zukam, aber beim Bruder des Revisionswerbers.

16Der Wechsel der gesetzlichen Vertretungsbefugnis erfolgte im gegenständlichen Fall also während der bereits in Gang gesetzten Beschwerdefrist von vier Wochen gegen den Bescheid des BFA vom , aber noch vor Erhebung der Beschwerde. Die Beschwerde für den minderjährigen Revisionswerber konnte demnach nur mehr wirksam vom gesetzlichen Vertreter des Revisionswerbers - also dessen Bruder - oder einem von diesem Bevollmächtigten erhoben werden.

17Das BVwG verneint zu Recht, dass eine Beschwerde, die von der CARITAS unter Berufung auf die Vollmacht des nicht mehr vertretungsbefugten Kinder- und Jugendhilfeträgers erhoben wurde, für den Revisionswerber Rechtswirkungen entfalten konnte. Dem Verwaltungsgericht ist auch darin zuzustimmen, dass eine Sanierung des Vollmachtsmangels durch Begründung eines Vollmachtsverhältnisses zwischen dem tatsächlichen gesetzlichen Vertreter (dem Bruder des Revisionswerbers) und der bevollmächtigten CARITAS bei einer fristgebundenen Verfahrenshandlung nach Fristablauf nicht mehr möglich war (vgl. etwa ; weiters Hengstschläger/Leeb, AVG2, § 10 Rz. 9, mwN).

18Wenn die Revision geltend macht, der Bruder des Revisionswerbers habe schon bei einem Beratungsgespräch am , also innerhalb der Beschwerdefrist und vor der Beschwerdeerhebung, stillschweigende Vollmacht an die CARITAS erteilt, kann dem nicht gefolgt werden. Die ausdrückliche oder konkludente Bevollmächtigung ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung. Sie kann auch intern (gegenüber dem Bevollmächtigten) erfolgen (RIS-Justiz RS0014595). Wird sie konkludent erteilt, dann ist der Erklärungswert der Vollmachtserteilung aus der Sicht des redlichen Erklärungsempfängers (hier der CARITAS) zu beurteilen; sie ist so auszulegen, wie sie der Erklärungsempfänger nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte und der ihm erkennbaren Umstände im Einzelfall verstehen musste (RIS-Justiz RS0053866).

19Wenn die Erklärungsempfängerin (CARITAS), wie von ihr im vorliegenden Verfahren ausdrücklich bestätigt wurde, gar nicht wusste, dass das Verhalten des Bruders des Revisionswerbers als Vollmachtserteilung wirken sollte bzw. dafür aus ihrer Sicht auch keine Anhaltspunkte vorlagen, sondern sie davon ausging, von jemand anderem (dem Kinder- und Jugendhilfeträger) bevollmächtigt worden zu sein, kommt eine konkludente Bevollmächtigung nicht in Betracht.

20Zutreffend macht die Revision aber geltend, dass das BVwG auf der Grundlage des Vorbringens im Verfahren, wonach der Bruder des Revisionswerbers beim Beratungsgespräch am klar gewollt habe, dass für den Revisionswerber eine Beschwerde erhoben werde, in Erwägung ziehen hätte müssen, die Beschwerde dem gesetzlichen Vertreter selbst zuzurechnen und sie deshalb als zulässig anzusehen. Vor allem die konkrete Verfahrenskonstellation (Wechsel der gesetzlichen Vertretung innerhalb der Beschwerdefrist, Beratungsgespräch über die Beschwerdeerhebung in Anwesenheit des gesetzlichen Vertreters) und das auf der Hand liegende Interesse des Revisionswerbers an der Erhebung der Beschwerde hätte das BVwG zu derartigen Überlegungen veranlassen müssen (vgl. in diesem Sinne bereits ).

21Dies wurde vom BVwG aufgrund eines Rechtsirrtums unterlassen. Es setzte sich mit dem Vorbringen des Revisionswerbers, sein Bruder habe die Erhebung der Beschwerde für den Revisionswerber gewollt (was dieser im Beschwerdeverfahren auch schriftlich bestätigt hatte), beweiswürdigend nicht näher auseinander und traf auch keine diesbezüglichen Feststellungen. Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben.

22Bei diesem Ergebnis ist zum weiteren Revisionsvorbringen (betreffend das behauptete Erfordernis eines Familienverfahrens) der Vollständigkeit halber lediglich festzuhalten, dass eine Beschwerde des Bruders in seiner eigenen Asylangelegenheit gemäß § 16 Abs. 3 BFA-VG nicht für den Revisionswerber wirkte, weil diese Wirkung im Gesetz nur für „andere Familienangehörige“ im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 vorgesehen ist. Der Verfassungsgerichtshof hat zwar § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 mit Erkenntnis vom , G 298/2019-11, G 117-121/2020-5, als verfassungswidrig aufgehoben. Die Aufhebung tritt aber erst mit Ablauf des in Kraft, weshalb die Norm auf den vorliegenden Sachverhalt, der kein Anlassfall war, weiterhin anzuwenden ist. Wenn die Revision vermeint, aus den vom Verfassungsgerichtshof angestellten Erwägungen wäre im gegenständlichen Fall auch § 16 Abs. 3 BFA-VG als verfassungswidrig anzufechten gewesen, ist ihr zu erwidern, dass der Sitz der Verfassungswidrigkeit nicht in dieser Norm, sondern in der darin verwiesenen Bestimmung des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 zu sehen ist, über die vom Verfassungsgerichtshof bereits entschieden worden ist. Dass das Unionsrecht, das ein Familienverfahren im Sinne des § 34 AsylG 2005 nicht vorgibt, keine andere Sicht gebietet, sei abschließend lediglich erwähnt.

23Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

24Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180332.L01

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