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VwGH vom 03.12.2021, Ra 2020/18/0028

VwGH vom 03.12.2021, Ra 2020/18/0028

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin und die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des R Y, vertreten durch Dr. Thomas Gruber als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W246 2172719-3/3E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird insoweit, als sie sich gegen die Zurückweisung des Antrages des Revisionswerbers auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 wendet, zurückgewiesen.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber, Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte im Oktober 2015 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz. Er begründete diesen damit, dass er im Alter von acht Jahren von seinen Eltern aus seiner Heimatprovinz Helmand in Afghanistan aufgrund der schlechten Sicherheitslage mit seinem Onkel in den Iran geschickt worden sei. Am dortigen Arbeitsplatz des Revisionswerbers sei ein Vorgesetzter aufgrund eines Unfalls verstorben. Der Bruder des Vorgesetzten habe dem Revisionswerber dafür die Schuld gegeben und ihn bedroht, weshalb er geflüchtet sei. Auch in Afghanistan sei er nicht mehr sicher, weil der Bruder des Vorgesetzten seiner Familie in Afghanistan von diesem Vorfall erzählt habe. Außerdem sei der Revisionswerber von seiner eigenen Familie dazu gedrängt worden, in den Syrienkrieg zu gehen.

2Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen ersten Antrag mit Bescheid vom zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise.

3Die dagegen gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom als unbegründet ab. Das Fluchtvorbringen sei etwa aufgrund detailarmer Angaben nicht glaubhaft. Auch subsidiärer Schutz sei ungeachtet der schlechten Sicherheitslage in der Heimatprovinz Helmand nicht zu gewähren, weil eine innerstaatliche Fluchtalternative in der Stadt Mazar-e Sharif gegeben sei. Zur Rückkehrentscheidung führte das BVwG aus, ein Eingriff in ein schützenswertes Familienleben des Revisionswerbers nach Art. 8 EMRK liege nicht vor, zumal zwischen dem Revisionswerber und seiner „Bekannten“, mit der er nicht standesamtlich verheiratet sei (der Revisionswerber hatte eine Urkunde betreffend eine Eheschließung nach islamischem Ritus am vorgelegt), keine enge Nahebeziehung vorliege. Zwischen beiden würde weder eine Wohngemeinschaft, noch eine Wirtschaftsgemeinschaft und auch keine finanzielle Abhängigkeit bestehen.

4Der Verwaltungsgerichtshof wies mit dem , eine gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision zurück.

5Am stellte der Revisionswerber den nunmehr relevanten zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Er führte aus, es gebe hinsichtlich der im ersten Verfahren geschilderten Bedrohungen keine Änderungen. Er sei nunmehr seit zwei Jahren verheiratet und wolle mit seiner Frau gemeinsam in Österreich leben. Er glaube, dass sie schwanger sei, dies müsse aber erst von einem Arzt bestätigt werden.

6Mit Bescheid vom wies das BFA den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Status eines subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück. Weiters erteilte es dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), setzte keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.), erließ ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VII.) und sprach aus, dass dem Revisionswerber gemäß § 15b Abs. 1 AsylG 2005 aufgetragen worden sei, ab dem in einem näher bezeichneten Quartier Unterkunft zu nehmen (Spruchpunkt VIII.).

7Das BVwG wies die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit der Maßgabe, dass die Dauer des Einreiseverbots gemäß § 53 Abs. 1 iVm. § 53 Abs. 2 Z 6 FPG auf ein Jahr herabgesetzt werde, als unbegründet ab. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

8Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit insbesondere die Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht geltend macht.

9Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

10Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11Die Revision ist teilweise zulässig und insoweit auch begründet.

Zu Spruchpunkt I.:

12Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

13Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.

14Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

15Der Revisionswerber begründet den vorgebrachten Verstoß gegen die Verhandlungspflicht mit dem Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 21 Abs. 7 BFA-VG. Soweit er sich dabei gegen die Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache wendet, übersieht er jedoch, dass die Verhandlungspflicht im Zulassungsverfahren insoweit besonderen Verfahrensvorschriften, nämlich § 21 Abs. 3 und Abs. 6a BFA-VG, folgt. Die Auslegung dieser Sondervorschriften hat der Verwaltungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom , Ra 2016/19/0072, auf dessen Gründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, vorgenommen. Dass das BVwG von den dort aufgestellten Leitlinien zur Verhandlungspflicht im Zulassungsverfahren abgewichen wäre, zeigt die Revision nicht auf.

16Das Vorbringen, seine Partnerin sei „westlich orientiert“ und es würde dieser Umstand auch zu einer Verfolgung des Revisionswerbers in Afghanistan führen, ist schon deshalb unbeachtlich, weil es sich dabei um eine unzulässige Neuerung im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof handelt.

Mit seiner Behauptung, sein aktueller psychischer Gesundheitszustand führe dazu, dass ihm - anders als im Erstverfahren angenommen - keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative mehr zur Verfügung stehe, entfernt sich der Revisionswerber ohne nähere Begründung von den gegenteiligen Ausführungen des BVwG im angefochtenen Erkenntnis (vgl. Erkenntnis Seite 56) und vermag daher schon deshalb die Zulässigkeit der Revision nicht darzutun.

17Gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 wird in der Revision kein spezifisches Zulässigkeitsvorbringen erstattet.

18Die Revision war daher, soweit sie sich gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache und gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 richtet, gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

Zu Spruchpunkt II.:

19Zulässig und begründet ist die Revision jedoch insoweit, als sie sich gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden weiteren Aussprüche des angefochtenen Erkenntnisses richtet.

20Soweit die Revision einen Verstoß des BVwG gegen die Verhandlungspflicht im Zusammenhang mit der Rückkehrentscheidung geltend macht, ist zunächst festzuhalten, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum hier maßgeblichen § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG ein Absehen von der mündlichen Verhandlung dann gerechtfertigt ist, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. grundlegend , 0018).

21Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die (allenfalls erforderliche) Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann eine Verhandlung unterbleiben (vgl. , mwN).

22Ein derartig eindeutiger Fall, der es erlaubt hätte, von der mündlichen Verhandlung fallbezogen abzusehen, lag aber schon deshalb nicht vor, weil der Revisionswerber - unwidersprochenes - Vorbringen zu einer sich vertiefenden Beziehung zu seiner Lebensgefährtin erstattet hatte und das BVwG dem Revisionswerber die zunehmende Integrationsverfestigung zugestanden und deshalb sogar eine deutliche Reduzierung der Dauer des Einreiseverbots vorgenommen hat.

23Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

24Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180028.L00

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