VwGH vom 02.12.2021, Ra 2020/10/0096
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler und den Hofrat Dr. Fasching sowie die Hofrätin Dr. Leonhartsberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Tscheließnig, über die Revision des J B in W, vertreten durch Dr. Matthias Brand, Rechtsanwalt in 1080 Wien, Lange Gasse 50/8, gegen das am mündlich verkündete und am schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, VGW-141/057/1201/2020-12, betreffend Mindestsicherung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Magistrat der Stadt Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Mit Bescheid vom wies die belangte Behörde den Antrag des Revisionswerbers vom auf Zuerkennung einer Leistung zur Deckung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs gemäß § 5 Abs. 1 und 2 Wiener Mindestsicherungsgesetz (WMG) ab.
2Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, der Revisionswerber sei deutscher Staatsbürger und verfüge seit über eine aufrechte Meldung im Bundesgebiet. Eine Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts sei vorgelegt worden. Er sei weder erwerbstätig noch seien Nachweise darüber erbracht worden, dass die Erwerbstätigeneigenschaft nach § 51 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) erhalten bleibe oder dass er das Recht auf Daueraufenthalt erworben habe. Er sei auch nicht Familienangehöriger einer gemäß § 5 Abs. 2 Z 2 WMG den österreichischen Staatsbürgern gleichgestellten Person. Die Voraussetzungen für eine Gleichstellung nach § 5 Abs. 2 WMG seien daher nicht gegeben.
3Der Revisionswerber erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde, in der er im Wesentlichen ausführte, er habe das Recht auf Daueraufenthalt am erworben, weil er sich seit rechtmäßig und ununterbrochen in Österreich aufgehalten habe und über eine aufrechte Meldung verfüge. Er sei daher österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt.
4Das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) wies diese Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nicht zulässig sei.
5Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, der Revisionswerber sei deutscher Staatsbürger und seit zur Ausbildung in Österreich aufhältig. Er sei nur in der Zeit von bis bei der L GmbH beschäftigt gewesen und habe darüber hinaus keine Zeiten erworben, die für einen Daueraufenthalt erforderlich wären. Er habe das Dienstverhältnis durch eigene Kündigung beendet, weshalb es sich nicht um eine unfreiwillige Arbeitslosigkeit im Sinne des § 51 Abs. 2 Z 3 NAG handle. Da die Erwerbstätigeneigenschaft nicht erhalten geblieben sei, habe die Behörde den Antrag rechtmäßig abgewiesen.
6Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. In dem vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren erstattete die belangte Behörde keine Revisionsbeantwortung.
7Im Rahmen der Zulässigkeitsbegründung macht der Revisionswerber eine Rechtsfrage im Zusammenhang mit der fehlenden Auseinandersetzung des Verwaltungsgerichtes mit der Frage, ob der Revisionswerber das Daueraufenthaltsrecht gemäß § 53a Abs. 1 NAG erworben hat und damit inländischen Staatsbürgern gemäß § 5 Abs. 2 Z 2 3. Fall WMG gleichgestellt ist, geltend; dazu bringt er im Ergebnis die Verletzung tragender Grundsätze des Verfahrensrechts vor.
8Diesbezüglich erweist sich die Revision als zulässig. Sie ist auch berechtigt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9§ 5 WMG, LGBl. Nr. 38/2010, in der gemäß der Übergangsbestimmung des § 44 Abs. 9 WMG auf Sachverhalte und Bemessungszeiträume bis zum weiter anzuwendenden Fassung LGBl. Nr. 49/2018, in den wiedergegebenen Passagen aber auch durch die für den Zeitraum ab anzuwendende Fassung LGBl. Nr. 22/2020 unverändert geblieben, lautet auszugsweise:
„Personenkreis
§ 5. (1) Leistungen nach diesem Gesetz stehen grundsätzlich nur volljährigen österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu.
(2) Den österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern sind folgende Personen gleichgestellt, wenn sie volljährig sind, sich rechtmäßig im Inland aufhalten und die Einreise nicht zum Zweck des Sozialhilfebezuges erfolgt ist:
[...]
2.Staatsangehörige eines EU- oder EWR-Staates oder der Schweiz, wenn sie erwerbstätig sind oder die Erwerbstätigeneigenschaft nach § 51 Abs. 2 Bundesgesetz über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG) erhalten bleibt oder sie das Recht auf Daueraufenthalt nach § 53a NAG erworben haben und deren Familienangehörige;
[...]“
10Die maßgeblichen Bestimmungen des NAG, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 24/2020, lauten auszugsweise:
„Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von EWR-Bürgern für mehr als drei Monate
§ 51. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie
1.in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind;
2.für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen, oder
3.als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen.
(2) Die Erwerbstätigeneigenschaft als Arbeitnehmer oder Selbständiger gemäß Abs. 1 Z 1 bleibt dem EWR-Bürger, der diese Erwerbstätigkeit nicht mehr ausübt, erhalten, wenn er
[...]
Aufenthaltsrecht für Angehörige von EWR-Bürgern
§ 52. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§§ 51 und 53a) sind, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie
[...]
Bescheinigung des Daueraufenthalts von EWR-Bürgern
§ 53a. (1) EWR-Bürger, denen das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zukommt (§§ 51 und 52), erwerben unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen gemäß §§ 51 oder 52 nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet das Recht auf Daueraufenthalt. Ihnen ist auf Antrag nach Überprüfung der Aufenthaltsdauer unverzüglich eine Bescheinigung ihres Daueraufenthaltes auszustellen. [...]“
11Gemäß § 5 Abs. 2 Z 2 WMG sind unter der Voraussetzung des rechtmäßigen Aufenthalts und der Einreise nicht zum Zweck des Sozialhilfebezuges u.a. Unionsbürger, wenn sie erwerbstätig sind oder die Erwerbstätigeneigenschaft nach § 51 Abs. 2 NAG erhalten bleibt oder sie das Recht auf Daueraufenthalt nach § 53a NAG erworben haben, und deren Familienangehörige den österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt und daher anspruchsberechtigt.
12Der Revisionswerber beruft sich darauf, das Recht auf Daueraufenthalt erworben zu haben, weil er sich über fünf Jahre lang rechtmäßig und ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten habe. Diesbezüglich habe er eine Anmeldebescheinigung vorgelegt, die den Aufenthaltszweck „Ausbildung“ ausweise; die vorgelegten Meldezettel belegten einen Aufenthalt seit .
13Das Recht auf Daueraufenthalt nach § 53a NAG erwirbt ein EWR-Bürger, dem das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nach §§ 51 oder 52 NAG zukommt, nach fünf Jahren rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalts im Bundesgebiet, und zwar unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen gemäß §§ 51 oder 52 NAG. Rechtmäßig ist ein Aufenthalt etwa dann, wenn sein Hauptzweck in der Absolvierung einer Ausbildung besteht und ausreichende Existenzmittel und ein umfassender Krankenversicherungsschutz für den EWR-Bürger und seine Familienangehörigen vorliegen (§ 51 Abs. 1 Z 3 NAG).
14Das Verwaltungsgericht hat den Mindestsicherungsanspruch des Revisionswerbers lediglich unter dem Aspekt des (weiteren) Vorliegens der Erwerbstätigeneigenschaft beurteilt (§ 51 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 NAG). Mit der Erlangung des Daueraufenthaltsrechts aufgrund eines ununterbrochenen und rechtmäßigen fünfjährigen Aufenthalts zu Ausbildungszwecken hat sich das Verwaltungsgericht trotz des wiederholten diesbezüglichen Vorbringens des Revisionswerbers zum Vorliegen der Voraussetzungen und trotz der Hinweise im Bescheid der belangten Behörde auf die einen solchen Zweck ausweisende Anmeldebescheinigung und die aufrechte Meldung seit nicht auseinandergesetzt.
15Wegen des Fehlens der für die rechtliche Beurteilung notwendigen, nachvollziehbaren Sachverhaltsfeststellungen zum Vorliegen eines rechtmäßigen Aufenthalts des Revisionswerbers und der darauf fußenden Begründung entzieht sich das angefochtene Erkenntnis insoweit einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof auf dessen inhaltliche Rechtmäßigkeit; es war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16Von der beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
Wien, am
Zusatzinformationen
Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020100096.L00 |
Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.