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VwGH vom 03.12.2021, Ra 2020/08/0108

VwGH vom 03.12.2021, Ra 2020/08/0108

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Dr. Bodis als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revision der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Mödling in 2340 Mödling, Bachgasse 18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W141 2227993-1/4E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: C U in V, vertreten durch Mag. Michael Kadlicz, Rechtsanwalt in 2700 Wiener Neustadt, Domplatz 16), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1Mit Bescheid vom sprach die revisionswerbende regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (AMS) aus, dass die Mitbeteiligte gemäß § 10 iVm. § 38 AlVG den Anspruch auf Notstandshilfe für den Zeitraum von bis verloren habe. Eine Nachsicht werde nicht erteilt. Der angeführte Zeitraum verlängere sich um die in ihm liegenden Zeiträume, während derer Krankengeld bezogen worden sei.

2Mit Beschwerdevorentscheidung vom gab das AMS der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde der Mitbeteiligten keine Folge und führte begründend aus, die Mitbeteiligte habe die Annahme einer ihr zumutbaren vollversicherten Beschäftigung dadurch vereitelt, dass sie zu einer vom AMS veranstalteten Jobbörse am nicht erschienen sei. Die Mitbeteiligte habe sich für diesen Termin am selben Tag telefonisch entschuldigt und sich auf eine Erkrankung berufen, wobei in Folge auch eine ärztliche Bestätigung vorgelegt worden sei, in der eine Arbeitsunfähigkeit vom bis (samt Ausgehzeiten) angegeben gewesen sei.

3Auf telefonische Nachfrage des AMS habe die Ärztin - die im Rahmen einer Urlaubsvertretung die Mitbeteiligte krankgeschrieben hatte - angegeben, die Mitbeteiligte sei aufgrund ihres Zustandes und der Diagnose trotz der Krankschreibung in der Lage gewesen, an Vorstellungsgesprächen teilzunehmen. Da die Mitbeteiligte beim Kontrolltermin bei der regionalen Geschäftsstelle am angegeben habe, an der Jobbörse am aufgrund einer geplanten Reise nicht teilnehmen zu können, lasse sich in der Zusammenschau der Ereignisse der Rückschluss ziehen, die Mitbeteiligte habe sich „in den Krankenstand geflüchtet“, um an der Jobbörse nicht teilnehmen zu müssen, ohne Sanktionen gemäß § 10 AlVG in Kauf nehmen zu müssen.

4Die Mitbeteiligte stellte einen Vorlageantrag und beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie die Einvernahme der Ärztin als Zeugin.

5Mit dem ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde der Mitbeteiligten Folge und hob die Beschwerdevorentscheidung des AMS vom ersatzlos auf. Es sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht - auf das Wesentliche zusammengefasst - aus, das AMS habe der Mitbeteiligten eine Stelle (Teilzeitbeschäftigung im Einzelhandel) zugewiesen, wobei die Bewerbung im Rahmen einer Jobbörse am erfolgen hätte sollen. Die Mitbeteiligte habe sich am selben Tag beim AMS krank gemeldet und habe daher die Jobbörse nicht aufgesucht. Die dem AMS erteilte telefonische Auskunft der Ärztin, wonach die Mitbeteiligte trotz Krankschreibung ausreichend mobil gewesen sei, um einen Vorstellungstermin wahrzunehmen, ändere - ebenso wie die Festlegung von Ausgehzeiten - nichts an der festgestellten Arbeitsunfähigkeit der Mitbeteiligten.

7Die Mitbeteiligte sei daher - aufgrund ihrer festgestellten Arbeitsunfähigkeit - nicht verpflichtet gewesen, den Vorstellungstermin wahrzunehmen. Es lägen auch keine „konkreten Anhaltspunkte“ für die Annahme vor, dass die Mitbeteiligte die ärztliche Krankschreibung gefälscht habe oder dass diese inhaltlich unrichtig - also nur „zum Schein“ ausgestellt - gewesen sei. Entgegen den Ausführungen des AMS könne dies auch nicht daraus abgeleitet werden, dass die Mitbeteiligte bereits beim Kontrolltermin am angegeben habe, aufgrund einer geplanten Reise nicht an der Jobbörse teilnehmen zu können.

8Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des AMS.

9Das AMS bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von (näher genannter) Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es zur Klärung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe.

10Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem die Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11Die Revision ist zulässig und berechtigt.

12Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung dann absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

13Die Unterlassung der Durchführung einer gebotenen Verhandlung kann nicht nur von jener Partei, die den Verhandlungsantrag gestellt hat, sondern von jeder Verfahrenspartei geltend gemacht werden. Wurde nämlich bereits - wie hier von der Mitbeteiligten als Beschwerdeführerin - ein Verhandlungsantrag gestellt, so sind die anderen Parteien - somit vorliegend das AMS als belangte Behörde im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht - nicht gehalten, einen eigenen Verhandlungsantrag zu stellen. Dies ergibt sich daraus, dass der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 3 VwGVG nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden kann (vgl. , mwN).

14Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gehört es im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (etwa , 0071, mwN).

15Im vorliegenden Fall liegen einander widersprechende prozessrelevante Behauptungen in diesem Sinn vor. Es trifft zu, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Mitbeteiligte nicht verhalten gewesen wäre, an der Jobbörse am teilzunehmen, wenn sie daran - wie vom Bundesverwaltungsgericht angenommen - durch eine (akute) Erkrankung gehindert gewesen wäre, sodass diesfalls auf ihr Fernbleiben ein Verlust des Anspruches nach § 10 Abs. 1 AlVG nicht gestützt werden könnte (vgl. idS ). Das AMS hat der Mitbeteiligten aber im Wesentlichen vorgeworfen, sich „in den Krankenstand geflüchtet“ zu haben, somit offenbar eine nicht vorliegende Erkrankung - allenfalls auch durch unrichtige Angaben gegenüber der behandelnden Ärztin - bewusst vorgeschoben zu haben, um dadurch zu verschleiern, dass ihrer Teilnahme an der Jobbörse tatsächlich kein Hindernis im Wege gestanden sei. Träfe dies zu, könnte eine Vereitelung der Annahme einer Beschäftigung im Sinn des § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG vorliegen (vgl. , mwN). Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher eine Verhandlung durchführen und seine Beweiswürdigung auf die Ergebnisse dieser Verhandlung gründen müssen.

16Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020080108.L00

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