VwGH vom 09.06.2020, Ra 2020/08/0031
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Stickler und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision des A H in Wien, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4/23, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , Zl. W121 2217378-1/10E, betreffend Verlust der Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Wien Laxenburger Straße), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen iHv € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Bundesverwaltungsgericht ausgesprochen, dass der Revisionswerber den Anspruch auf Notstandshilfe vom bis gemäß § 38 AlVG iVm § 10 AlVG verloren habe. Er beziehe seit mit kurzen Unterbrechungen Arbeitslosengeld bzw. ab - unterbrochen durch kurze Arbeitsverhältnisse - Notstandshilfe. Er habe Berufserfahrung als Büroangestellter und Lagerarbeiter. Auf Grund früherer Pflichtverletzungen iSd § 10 Abs. 1 Z 1 bis 4 AlVG seien über ihn bereits vom 13. Februar bis und vom 15. März bis Ausschlussfristen gemäß § 10 AlVG verhängt worden.
2Am sei dem Revisionswerber von der belangten Behörde (im Folgenden: AMS) eine Beschäftigung als Kassier mit Regalbetreuung beim Dienstgeber P. in M im Ausmaß von 25 Wochenstunden zugewiesen worden. Die tägliche Fahrtzeit zwischen dem Wohnort des Revisionswerbers bis zum P. Markt in M und zurück betrage rund 2 Stunden. Dies liege eine halbe Stunde über der gemäß § 9 Abs. 2 AlVG für Teilzeitbeschäftigungen jedenfalls zumutbaren Wegzeit für den Hin- und Rückweg. Geringfügige Überschreitungen (hier: etwa 33 %) der jedenfalls zumutbaren Wegzeit seien zulässig. Der Revisionswerber habe sich mit der (unzureichenden) Begründung, keine Berufserfahrung in ähnlicher Position zu haben, nicht für diese ihm zumutbare Stelle beworben und dadurch das Zustandekommen des Beschäftigungsverhältnisses zumindest bedingt vorsätzlich vereitelt. Berücksichtigungswürdige Gründe würden nicht vorliegen.
3Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Revision.
5Das AMS hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der es die Abweisung der Revision beantragt.
6Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
7Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, es sei rechtlich nicht vertretbar, die für eine Vollzeitbeschäftigung gebilligte Überschreitung der täglichen Höchstwegzeit von zwei Stunden um 50 % (auf insgesamt drei Stunden) auf die Situation eine Teilzeitbeschäftigung mit einer angenommenen Überschreitung der täglichen Höchstwegzeit von eineinhalb Stunden um 33 % zu übertragen. Zu dieser Frage fehle Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes.
8Die Revision ist im Sinn dieses Vorbringens zulässig, aber lediglich im Ergebnis berechtigt.
9§ 9 Abs. 2 AlVG in der im vorliegenden Fall maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 104/2007 lautet:
„Eine Beschäftigung ist zumutbar, wenn sie den körperlichen Fähigkeiten der arbeitslosen Person angemessen ist, ihre Gesundheit und Sittlichkeit nicht gefährdet, angemessen entlohnt ist, in einem nicht von Streik oder Aussperrung betroffenen Betrieb erfolgen soll, in angemessener Zeit erreichbar ist oder eine entsprechende Unterkunft am Arbeitsort zur Verfügung steht sowie gesetzliche Betreuungsverpflichtungen eingehalten werden können. Als angemessene Entlohnung gilt grundsätzlich eine zumindest den jeweils anzuwendenden Normen der kollektiven Rechtsgestaltung entsprechende Entlohnung. Die zumutbare tägliche Wegzeit für Hin- und Rückweg beträgt jedenfalls eineinhalb Stunden und bei einer Vollzeitbeschäftigung jedenfalls zwei Stunden. Wesentlich darüber liegende Wegzeiten sind nur unter besonderen Umständen, insbesondere wenn am Wohnort lebende Personen üblicher Weise eine längere Wegzeit zum Arbeitsplatz zurückzulegen haben oder besonders günstige Arbeitsbedingungen geboten werden, zumutbar.“
10Zur zumutbaren täglichen Wegzeit für Hin- und Rückweg im Sinn des § 9 Abs. 2 AlVG hat der Verwaltungsgerichtshof in einem eine Vollbeschäftigung betreffenden Fall () ausgeführt:
„19 Der Gesetzgeber sieht in § 9 Abs. 2 AlVG bei einer Vollzeitbeschäftigung eine Wegzeit von „jedenfalls zwei Stunden“ als zumutbar an. Dies entspricht einem Viertel einer täglichen Normalarbeitszeit von acht Stunden pro Arbeitstag (§ 3 Abs. 1 AZG). Darüber hinausgehende (durchschnittliche) tägliche Normalarbeitszeiten sind zwar möglich. So kann z.B. der Kollektivvertag gemäß § 4 Abs. 1 AZG eine tägliche Normalarbeitszeit von bis zu zehn Stunden zulassen. Daraus kann aber in Anbetracht des eindeutigen Wortlautes des § 9 Abs. 2 AlVG nicht der Schluss gezogen werden, dass im Fall einer Normalarbeitszeit von zehn Stunden eine Wegzeit von einem Viertel dieser individuellen Normalarbeitszeit (sohin zweieinhalb Stunden) im Sinn der genannten Gesetzesstelle „jedenfalls“ zumutbar wäre. Die in § 9 Abs. 2 AlVG genannte Grenze bei Vollzeitarbeit ist unabhängig von der tatsächlich vorliegenden durchschnittlichen täglichen Arbeitszeit maßgeblich. Dies erscheint auch im Hinblick darauf sachgerecht, dass eine längere Normalarbeitszeit die an dem betreffenden Tag zur Verfügung stehende Freizeit reduziert. Dieser Effekt soll nicht durch als zumutbar erachtete längere Wegzeiten verstärkt werden.
20 Bei einer Vollzeitbeschäftigung liegt eine Wegzeit erst dann „wesentlich“ über der in § 9 Abs. 2 AlVG genannten Grenze von „jedenfalls zwei Stunden“ - und sie ist daher erst dann „nur unter besonderen Umständen“ zumutbar -, wenn diese Grenze um etwa 50 % überschritten wird (). Ab einer Wegzeit von drei Stunden täglich bedürfte es einer näheren Prüfung, ob derartige besondere Umstände vorliegen, auf Grund derer die festgestellten Wegzeiten ausnahmsweise zumutbar sind (, betreffend eine tägliche Wegzeit von drei Stunden und 23 Minuten).
21 Die vorliegende Wegzeit von vier Stunden und zwölf Minuten, die die im Fall der Vollzeitbeschäftigung „jedenfalls zumutbare“ Wegzeit von zwei Stunden um 110 % überschreitet, hat jedoch ein Ausmaß, das selbst dann nicht mehr zumutbar ist, wenn Umstände der in § 9 Abs. 2 AlVG genannten Art vorliegen sollten. Bei Erreichung des Doppelten des nach dem dritten Satz des § 9 Abs. 2 AlVG ‚jedenfalls Zumutbaren‘ erscheint der Begriff ‚wesentlich darüber liegender Wegzeiten‘ im vierten Satz des § 9 Abs. 2 AlVG ausgeschöpft: Bei einer Wegzeit von mehr als dem Doppelten von zwei Stunden bei Vollzeitarbeit könnte - von ganz außergewöhnlichen Konstellationen abgesehen, die aber hier nicht vorliegen (vgl. zu so einem Fall ) - nicht mehr bloß von einem ‚darüber Liegen‘ in Bezug auf die genannte Grenze gesprochen werden (vgl. zu § 9 Abs. 2 idF BGBl. I Nr. 77/2004 ).“
11Diese Rechtsprechung kann in ihren maßgeblichen Gesichtspunkten auf die vorliegende Teilzeitbeschäftigung übertragen werden. Bei ihr beträgt die gemäß § 9 Abs. 2 AlVG zumutbare tägliche Wegzeit für Hin- und Rückweg jedenfalls eineinhalb Stunden. Bei einer Teilzeitbeschäftigung liegt eine Wegzeit grundsätzlich erst dann „wesentlich“ über dieser Grenze - und sie ist daher erst dann „nur unter besonderen Umständen“ zumutbar -, wenn diese Grenze um etwa 50 % überschritten wird.
12Der Revisionswerber bringt unter Hinweis auf eine von ihm selbst durchgeführte Recherche vor, bei Benützung öffentlicher Verkehrsmittel würde die tägliche Wegzeit an einem Freitag zwei Stunden und 14 Minuten bzw. an einem Samstag zwei Stunden und 26 Minuten betragen.
Diese behaupteten Wegzeiten würden die gemäß § 9 Abs. 2 AlVG bei einer Teilzeitbeschäftigung jedenfalls zumutbare tägliche Wegzeit von eineinhalb Stunden an Wochentagen um 49 % und an Samstagen um 62 % überschreiten.
Selbst die behauptete Überschreitung, die im Wochenschnitt bei gleichmäßig verteilter Arbeitszeit etwas mehr als 50 % betragen würde, wäre im vorliegenden Fall iSd § 9 Abs. 2 AlVG als zumutbar anzusehen, weil die vorliegende Teilzeitbeschäftigung im Ausmaß von 25 Wochenstunden nicht jene typische Teilzeitbeschäftigung von 20 Wochenstunden ist, von der der Gesetzgeber ausgegangen ist, sodass insoweit besondere Umstände iSd letzten Satzes des § 9 Abs. 2 AlVG angenommen werden können.
13Des Weiteren beanstandet die Revision, dass dem Revisionswerber das Protokoll über die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom nicht zugestellt worden sei. Die Revision unterlässt es aber, die Relevanz dieses Verfahrensmangels darzulegen. Der nicht zur mündlichen Verhandlung erschienene Revisionswerber behauptet auch nicht, an einer Akteneinsicht und somit an einer Kenntnisnahme dieses Protokolls gehindert gewesen zu sein.
14Der Revisionswerber bringt weiters vor, er habe das Anforderungsprofil der ausgeschriebenen Stelle nicht erfüllt. Die unterstellte Vereitelung komme schon aus diesem Grund nicht in Frage.
15Dem ist zu erwidern, dass der Revisionswerber in seiner Beschwerde gegen den Bescheid vom vorgebracht hat, im Stellenangebot sei angemerkt worden, dass „Berufserfahrung in ähnlicher Position von Vorteil“ sei. In Anbetracht dessen wäre der Revisionswerber verpflichtet gewesen, in einem von ihm anzustrebenden Vorstellungsgespräch zu klären, ob der potentielle Dienstgeber seine konkreten Kenntnisse und Fähigkeiten für ausreichend erachten würde, um der angebotenen Stelle gerecht zu werden. Der Arbeitslose muss seiner grundsätzlichen Pflicht, sich um ein Vorstellungsgespräch zu bemühen, nur in jenen seltenen Fällen nicht nachkommen, in denen die Unzumutbarkeit der Beschäftigung für ihn von vornherein feststeht, wie z.B. in denkbaren Fällen, in denen vom Arbeitgeber für unverzichtbar erklärte und vom Arbeitslosen nicht erfüllbare Kenntnisse und Fähigkeiten für eine angebotene Beschäftigung in objektivierbarer Weise (kalkülsmäßig) feststehen. Anhaltspunkte für eine solche evidente Unzumutbarkeit der zugewiesene Beschäftigung liegen nicht vor ().
16Der Verwaltungsgerichtshof teilt im Übrigen nicht die verfassungsrechtlichen Bedenken des Revisionswerbers in Bezug auf den behaupteten Strafcharakter des § 10 Abs. 1 AlVG.
17Allerdings zeigt der Revisionswerber einen im Hinblick auf § 10 Abs. 1 2. Satz AlVG relevanten Verfahrensmangel betreffend die Feststellung auf, dass gegen den Revisionswerber auf Grund früherer Pflichtverletzungen im Sinn des § 10 Abs. 1 Z 1 bis 4 AlVG bereits vom 13. Februar bis und vom bis Ausschlussfristen verhängt worden wären. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Feststellung ohne weitere Beweisaufnahmen - etwa die Vorlage rechtskräftiger Bescheide durch das AMS - allein auf Grund eines im Akt erliegenden „Bezugsverlaufs“ vom getroffen, was in Anbetracht der Bestreitung durch den Revisionswerber im vorliegenden Fall kein ausreichendes Ermittlungsverfahren darstellt. Im Übrigen hat das AMS in der Revisionsbeantwortung ebenfalls vorgebracht, dass die genannten Bescheide gegen den Revisionswerber in der Folge aufgehoben worden sind.
18Das angefochtene Erkenntnis war gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
19Eine mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 6 VwGG unterbleiben.
20Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den § 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020080031.L00 |
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