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VwGH 23.04.2010, 2009/02/0341

VwGH 23.04.2010, 2009/02/0341

Entscheidungsart: Erkenntnis

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höfinger und die Hofräte Dr. Riedinger und Dr. Beck als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Becker, über die Beschwerde des H K in G, vertreten durch Mag. Wilhelm Holler, Rechtsanwalt in 8051 Graz, Wiener Straße 253, gegen den Bescheid der Steiermärkischen Landesregierung vom , Zl. FA18E-13-346/2007-3, betreffend Entziehung eines Ausweises nach § 29b Abs. 1 StVO und Abweisung eines Antrages auf Ausstellung eines Ausweises nach § 29b Abs. 1 StVO, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Steiermark hat der beschwerdeführenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Eingabe vom stellte der Beschwerdeführer beim Magistrat der Landeshauptstadt Graz einen Antrag auf Ausstellung eines "Gehbehindertenausweises".

Mit Bescheid vom wies der Bürgermeister der Landeshauptstadt Graz das Ansuchen des Beschwerdeführers auf Ausstellung eines Ausweises für dauernd stark gehbehinderte Personen gemäß § 29b Abs. 1 StVO ab (Spruchpunkt I). Ferner wurde dem Beschwerdeführer unter Spruchpunkt II der am (von der Bezirkshauptmannschaft F.) ausgestellte Gehbehindertenausweis entzogen und der Beschwerdeführer verpflichtet, den entzogenen Ausweis binnen zwei Wochen ab Rechtskraft dieses Bescheides bei der näher bezeichneten Behörde abzuliefern.

Dem in der Begründung dieses Bescheides wiedergegebenen Gutachten ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer seit 1990 an multipler Sklerose mit schubförmigem Verlauf leide (letzter entzündlicher Schub im Februar 2000). Es seien keine Lähmungserscheinungen oder Spastizität festzustellen. Das Gangbild des Beschwerdeführers sei am Tag der Untersuchung als zügig erschienen, ohne Hinken; eine Gehhilfe müsse nicht verwendet werden, die Zurücklegung einer mittelweiten Wegstrecke sei in symptomärmeren Phasen durchaus möglich; andererseits seien wiederum Zeitspannen vorhanden, wo die Symptomatik von Seiten der multiplen Sklerose dem Beschwerdeführer zu schaffen mache und ihn hochgradig beeinträchtige, vor allem während der kälteren Jahreszeit. Ferner wird in der Begründung ausgeführt, es handle sich bei den im Gutachten angeführten Leiden bzw. beim vorliegenden Zustand aktuell nicht um eine dauernd starke Gehbehinderung im Sinne des § 29b Abs. 1 StVO.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung.

Im Zuge des Berufungsverfahrens holte die belangte Behörde ein ergänzendes amtsärztliches Gutachten ein, welches zu dem Schluss kam, dass das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke für den Beschwerdeführer aus eigener Kraft und ohne Verwendung von Hilfsmitteln möglich sei und daher eine schwere Gehbehinderung nicht habe verifiziert werden können. In diesem Gutachten wird u. a. auch ausgeführt, der Beschwerdeführer habe sich insgesamt ablehnend und wenig kooperativ verhalten. Eine klinische Untersuchung sei von ihm abgelehnt worden und das Anamnesegespräch sei zögerlich verlaufen. Grob klinisch hätten im Rahmen der Exploration keine Lähmungserscheinungen oder anderen neurologischen Defizite erhoben werden können. Freies Gehen sei ohne ersichtliche Einschränkung möglich gewesen. Das Gangbild sei unauffällig und das Gehtempo zügig.

Zu diesem Gutachten gewährte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer Parteiengehör. In der hiezu erstatteten Stellungnahme teilte der Beschwerdeführer mit, es sei nicht richtig, dass er eine klinische Untersuchung abgelehnt habe. Es sei bedenklich, wenn eine "Umweltmedizinerin" über orthopädische und neurologische Krankheiten ein Gutachten verfasse. Ferner beantragte der Beschwerdeführer, seine neurologische Krankheit, sein kaputtes Knie und seine Wirbelsäulenverletzung genau zu untersuchen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom wurde die Berufung des Beschwerdeführers abgewiesen.

In der Begründung dieses Bescheides wurde insbesondere auf das wiedergegebene ergänzende amtsärztliche Gutachten verwiesen. Zur Stellungnahme des Beschwerdeführers vom sei zu bemerken, dass die Behörde zur Entscheidungsfindung das Gutachten der amtsärztlichen Sachverständigen heranzuziehen gehabt habe. Ob diese auch zusätzlich Umweltmedizinerin sei, spiele diesbezüglich keine Rolle. Auch eine weitere Untersuchung durch eine(n) orthopädische(n) und neurologische(n) Fachmann/-frau hätte nichts daran geändert, dass auch deren Ergebnisse von der Amtsachverständigen zu bewerten gewesen wären.

Es werde nicht abgestritten, dass beim Beschwerdeführer eine Gehbehinderung vorliege. Doch sei diese nicht von jenem Ausmaß, dass die Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b StVO gerechtfertigt sei. Dies ergebe sich eindeutig aus dem Gutachten der amtsärztlichen Sachverständigen, die im Rahmen der Anamnese und des Explorationsgespräches mit dem Beschwerdeführer eine grobklinische Untersuchung habe durchführen und auch das Gangbild habe erkennen können.

In der Beschwerde macht der Beschwerdeführer inhaltliche Rechtswidrigkeit sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend.

Die belangte Behörde erstattete eine Gegenschrift und beantragte die kostenpflichtige "Abweisung" der Beschwerde. Sie macht insbesondere geltend, dass die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof verspätet sei, weil der angefochtene Bescheid dem Beschwerdeführer durch Hinterlegung am zugestellt worden sei. Die sechswöchige Beschwerdefrist habe daher am geendet. Die von einem Rechtsanwalt verfasste Beschwerde (Postaufgabe ) sei daher verspätet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Zum Einwand der belangten Behörde, die vorliegende Beschwerde sei verspätet, ist Folgendes zu bemerken:

Wenn ein Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe innerhalb der im § 26 Abs. 1 Z. 1 VwGG genannten Beschwerdefrist von sechs Wochen nach Zustellung des Bescheides gestellt wurde, so ist er gemäß § 26 Abs. 3 VwGG rechtzeitig erhoben (vgl. die bei Dolp, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, 3. Auflage, S. 190 f angeführte Judikatur). Da im Beschwerdefall der Antrag auf Gewährung von Verfahrenshilfe am zur Post gegeben wurde, wurde dieser - zumal die Frist zur Beschwerdeerhebung, wie auch die belangte Behörde in der Gegenschrift ausführt, an diesem Tag endete - rechtzeitig gestellt.

Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wurde der angefochtene Bescheid gemeinsam mit dem Bescheid betreffend die Bestellung zum Verfahrenshelfer am zugestellt. Die am (vorab) mit Telefax eingebrachte Beschwerde erweist sich daher gleichfalls als fristgerecht, weshalb die behauptete verspätete Einbringung der Beschwerde nicht gegeben ist.

Der Beschwerdeführer wendet u.a. ein, es sei nicht zu erwarten und keinesfalls richtig, dass bei einer Erkrankung, die keine Verbesserung, sondern nur eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes erlaube, 15 Jahre nach der Erstausstellung des Ausweises die Voraussetzungen für die Ausstellung nicht mehr gegeben sein sollten. Selbst wenn während kurzer Phasen die Gehbehinderung weniger stark sein sollte, so sei sie insgesamt bei der vorliegenden Erkrankung doch in einem Maße vorhanden, das die Ausstellung eines Ausweises für dauernd stark gehbehinderte Personen im Sinne des § 29b StVO rechtfertige.

§ 29b Abs. 1 StVO lautet:

"(1) Die Behörde hat Personen, die dauernd stark gehbehindert sind, auf deren Ansuchen einen Ausweis über diesen Umstand auszufolgen. Inhalt und Form des Ausweises hat der Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie durch Verordnung zu bestimmen. Bei Wegfall der dauernd starken Gehbehinderung ist der Ausweis vom Inhaber der ausstellenden Behörde unverzüglich abzuliefern; kommt der Inhaber dieser Verpflichtung nicht nach, so hat die Behörde den Ausweis zu entziehen."

Der Gesetzesbegriff der "starken Gehbehinderung" im Sinn des § 29b Abs. 1 StVO stellt darauf ab, ob die betreffende Person in einer als Gehen zu qualifizierenden Weise ohne Aufwendung überdurchschnittlicher Kraftanstrengung und ohne große Schmerzen eine bestimmte Wegstrecke zurücklegen kann; ist sie dazu in der Lage, so wird eine festgestellte Gehbehinderung nicht als schwer im Sinne des Gesetzes anzusehen sein. Die Fähigkeit zum Zurücklegen einer Strecke von mehr als 300 m ohne überdurchschnittliche Kraftanstrengung und ohne große Schmerzen schließt eine starke Gehbehinderung im Sinne des Gesetzes aus, wobei der Umstand, dass dies nur mit Hilfsmitteln (wie etwa einem Gehstock oder orthopädischen Schuhen) möglich ist, die Behinderung nicht zu einer schweren macht (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 99/02/0187, m.w.N.).

Den im Zuge des Verwaltungsverfahrens eingeholten ärztlichen Gutachten kann nicht entnommen werden, ob die - insbesondere vom Gutachter in erster Instanz zumindest während der kälteren Jahreszeit dem Beschwerdeführer konzedierten - Beeinträchtigungen so beschaffen sind, dass die Fähigkeit zum Zurücklegen einer Strecke von mehr als 300 m ohne überdurchschnittliche Kraftanstrengung und ohne große Schmerzen im Sinne der vorzitierten Judikatur gegeben ist. Insbesondere die Feststellungen des im zweitinstanzlichen Verfahren eingeholten Gutachtens, es sei das Zurücklegen "einer kurzen Wegstrecke" aus eigener Kraft und ohne Verwendung von Hilfsmitteln" möglich, lässt nicht erkennen, wie weit diese Wegstrecke tatsächlich ist. Der Sachverhalt wurde daher nicht ausreichend ermittelt, weshalb ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliegt.

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die belangte Behörde bei Vermeidung dieses Verfahrensmangels zu einem anderen Bescheid hätte kommen können, war dieser wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff. VwGG i.V.m. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Normen
StVO 1960 §29b Abs1;
VwGG §26 Abs1 Z1;
VwGG §26 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
Schlagworte
Besondere Rechtsgebiete
"zu einem anderen Bescheid"
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2010:2009020341.X00
Datenquelle

Fundstelle(n):
OAAAE-86476