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VwGH vom 02.10.2020, Ra 2020/03/0075

VwGH vom 02.10.2020, Ra 2020/03/0075

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Handstanger und die Hofräte Dr. Lehofer, Mag. Nedwed und Mag. Samm als Richter sowie die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober als Richterin, unter Mitwirkung des Schriftführers Dr. Zeleny, über die Revision der Landespolizeidirektion Kärnten gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Kärnten vom , Zl. KLVwG-2335/9/2019, betreffend Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (mitbeteiligte Partei: DI H O in K, vertreten durch die Huainigg Dellacher & Partner Rechtsanwälte OG in 9020 Klagenfurt, Dr. Franz Palla-Gasse 21), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang, somit in seinem Spruchpunkt II., wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt erhobene Maßnahmenbeschwerde des Mitbeteiligten, soweit sie sich gegen das Eindringen über den Zaun auf das Grundstück des Mitbeteiligten am zwischen 01:00 Uhr und 02:00 Uhr gerichtet hatte, als unbegründet ab und verpflichtete den Mitbeteiligten zum Kostenersatz (Spruchpunkt I.). Soweit sich die Maßnahmenbeschwerde gegen das Herausreißen bzw. Sicherstellen der Kabel zu den Lautsprecherboxen durch Organe der Landespolizeidirektion Kärnten am zwischen 01:30 Uhr und 02:00 Uhr gerichtet hatte, gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde Folge, erklärte diese Maßnahme für rechtswidrig und verpflichtete die Revisionswerberin zum Kostenersatz (Spruchpunkt II.). Den Antrag des Mitbeteiligten, die von ihm geltend gemachten Akte der Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt aufzuheben, wies das Verwaltungsgericht ab (Spruchpunkt III.). Die Revision an den Verwaltungsgerichtshof erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für unzulässig (Spruchpunkt IV.).

2Seiner Entscheidung legte das Verwaltungsgericht - soweit für den vorliegenden Fall relevant - folgenden Sachverhalt zu Grunde:

3Am seien zwei näher genannte Polizeibeamte der Landespolizeidirektion Kärnten (LPD) aufgrund einer Anzeige wegenLärmerregung gegen 01:00 Uhr zur Wohnadresse des Mitbeteiligten gefahren. In jenem Bereich, in dem sich die Wohnung der Anzeigerin befunden habe, sei die Musik deutlich hörbar und nach Einschätzung der Beamten zum Schlafen sicher zu laut gewesen. Die Beamten hätten den Mitbeteiligten sodann mit der Anzeige, wonach er störenden Lärm erzeuge, konfrontiert und hätten im entsprechenden Bereich der Wohnanlage die Lautstärke gemessen. Danach seien die Beamten mit dem Mitbeteiligten zu dessen Gartenhaus gegangen, wo der Mitbeteiligte die Lautstärke der Musik deutlich reduziert habe (von 60% auf etwa ein Drittel des auf einer App am Mobiltelefon des Mitbeteiligten angezeigten Balkens). Für den Fall, dass der Mitbeteiligte in der Verwaltungsübertretung verharre, hätten ihm die Beamten angedroht, das Stromkabel (zu den Lautsprecherboxen) vom Stecker zu ziehen. Der Mitbeteiligte habe daraufhin die Beamten ersucht, im Falle einer weiteren Beschwerde direkt ins Gartenhaus zu gehen. Etwas später seien die Beamten erneut aufgrund einer entsprechenden Anzeige zur Wohnadresse des Mitbeteiligten gefahren, wo sie - wie zuvor - deutlich hörbare Musik wahrgenommen hätten. Nachdem den Beamten nach mehrmaligem Läuten nicht aufgemacht worden sei, hätten sie durch Drücken eines Tasters die Tür geöffnet und seien zum Gartenhaus des Mitbeteiligten gegangen. Da die Lautstärke wieder bei etwa 60% des Balkens eingestellt gewesen sei, hätten die Beamten als gelinderes Mittel zur Festnahme die Stromkabel sichergestellt und mitgenommen.

4In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, die Beamten seien nicht, wie in der Beschwerde gerügt, über den Zaun gestiegen; sie hätten das Grundstück des Mitbeteiligten nur mit dessen Einverständnis betreten, sodass diesbezüglich keine Verletzung vorliege. Die Sicherstellung der Stromkabel sei jedoch gesetzlich nicht gedeckt gewesen. Auch wenn man davon ausginge, dass eine Festnahme nach § 35 Z 3 VStG zulässig gewesen wäre, sei die Mitnahme der Stromkabel unzulässig, weil für ein gelinderes Mittel keine Rechtsgrundlage bestehe (Verweis auf ).

5Gegen Spruchpunkt II. dieses Erkenntnisses, insoweit also der Maßnahmenbeschwerde des Mitbeteiligten Folge gegeben wurde, richtet sich die vom Verwaltungsgericht zusammen mit den Verwaltungsakten vorgelegte außerordentliche Amtsrevision. Die Revision macht - in der Zulässigkeitsbegründung wie auch in der Sache - im Wesentlichen geltend, das Verwaltungsgericht sei von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es verkannt habe, dass die Abnahme des Kabels als gelinderes Mittel zu einer Festnahme rechtlich nicht nur zulässig, sondern im Sinne des verfassungsimmanenten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch erforderlich gewesen sei (das vom Verwaltungsgericht zitierte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs sei aus näher genannten Gründen nicht einschlägig). Das Verwaltungsgericht habe zudem den Sachverhalt insofern verkannt, als es festgestellt habe, dass die „Sicherstellung und Mitnahme der Stromkabel“ gesetzlich nicht gedeckt gewesen sei, was jedoch vom Mitbeteiligten, der sich nur über ein „Herausreißen“ der Kabel beschwert habe, nicht gerügt worden sei.

6Der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

7Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8Die Revision ist aus den von ihr geltend gemachten Gründen zulässig; sie ist auch begründet.

9Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. Nr. 684/1988 idF BGBl. I Nr. 2/2008 (PersFrG), lauten (auszugsweise) wie folgt:

Artikel 1

...

(3) Der Entzug der persönlichen Freiheit darf nur gesetzlich vorgesehen werden, wenn dies nach dem Zweck der Maßnahme notwendig ist; die persönliche Freiheit darf jeweils nur entzogen werden, wenn und soweit dies nicht zum Zweck der Maßnahme außer Verhältnis steht.

...

Artikel 2

(1) Die persönliche Freiheit darf einem Menschen in folgenden Fällen auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

...

3.zum Zweck seiner Vorführung vor die zuständige Behörde wegen des Verdachtes einer Verwaltungsübertretung, bei der er auf frischer Tat betreten wird, sofern die Festnahme zur Sicherung der Strafverfolgung oder zur Verhinderung weiteren gleichartigen strafbaren Handelns erforderlich ist; ...“

10§ 35 Verwaltungsstrafgesetz 1991, BGBl. Nr. 52/1991 (VStG), lautet auszugsweise wie folgt:

Festnahme

§ 35. Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes dürfen außer den gesetzlich besonders geregelten Fällen Personen, die auf frischer Tat betreten werden, zum Zweck ihrer Vorführung vor die Behörde festnehmen, wenn

...

3.der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.“

11Die maßgeblichen Bestimmungen des Gesetzes über Angelegenheiten der Ortspolizei und die Bestellung von Aufsichtsorganen der Gemeinden (Kärntner Landessicherheitsgesetz - K-LSiG), LGBl. Nr. 74/1977 idF LGBl. Nr. 85/2013, lauten auszugsweise:

1. Abschnitt - Anstandsverletzung und Lärmerregung

...

§ 2

Lärmerregung

(1) Wer ungebührlicherweise störenden Lärm erregt, begeht eine Verwaltungsübertretung.

(2) Unter störendem Lärm sind die wegen ihrer Lautstärke für das menschliche Empfindungsvermögen unangenehm in Erscheinung tretenden Geräusche zu verstehen.

(3) Lärm wird dann ungebührlicherweise erregt, wenn das Tun oder Unterlassen, das zur Erregung des Lärms führt, jene Rücksichten vermissen läßt, die im Zusammenleben mit anderen Menschen verlangt werden müssen.

...

§ 3

Mitwirkung der Bundespolizei

Die Organe des Wachkörpers Bundespolizei haben bei der Vollziehung dieses Abschnittes als Hilfsorgane der zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde durch

a)Vorbeugung gegen drohende Verwaltungsübertretungen,

b)Maßnahmen, die für die Einleitung und die Durchführung von Verwaltungsstrafverfahren erforderlich sind, mitzuwirken.

§ 4

Strafbestimmungen

Verwaltungsübertretungen nach § 1 Abs. 1 und § 2 Abs. 1 ... sind ... mit einer Geldstrafe bis zu 218,-- Euro oder Arrest bis zu zwei Wochen zu bestrafen.“

12Das Verwaltungsgericht vertrat - unter Verweis auf - die Ansicht, die Sicherstellung und Mitnahme der Stromkabel sei, „auch wenn man davon ausgehen würde, dass eine Festnahme nach § 35 Z 3 VStG zulässig wäre“, rechtswidrig gewesen, weil es für ein gelinderes Mittel keine Rechtsgrundlage gebe.

13Diese Rechtsansicht erweist sich als unzutreffend.

14Zu dem vom Verwaltungsgericht zitiertenErkenntnis genügt es darauf hinzuweisen, dass diese Entscheidung schon deshalb nicht einschlägig ist, weil sie die Überprüfung der Voraussetzungen für die Festnahme und Anhaltung in Schubhaft nach den - nicht mehr in Kraft stehenden - Bestimmungen des Fremdengesetzes, BGBl. Nr. 838/1992, zum Gegenstand hatte. Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur geltenden Rechtslage (vgl. § 76 ff FPG 2005) zu verweisen, wonach auch die Schubhaft stets nur „ultima ratio“ sein darf und ihre Verhängung dann zu unterbleiben hat, wenn das zu sichernde Ziel auch durch die Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden kann (vgl. , mwN).

15Gemäß § 3 K-LSiG haben die Organe des Wachkörpers Bundespolizei bei der Vollziehung des 1. Abschnittes dieses Gesetzes als Hilfsorgane der zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde (u.a.) durch Vorbeugung gegen drohende Verwaltungsübertretungen mitzuwirken.

16Gemäß § 35 Z 3 VStG dürfen die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes Personen, die auf frischer Tat betreten werden, zum Zweck ihrer Vorführung vor die Behörde festnehmen, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen versucht.

17Die Festnahme nach § 35 VStG als Eingriff in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht der persönlichen Freiheit darf nur als ultima ratio nach Ausschluss anderer gelinderer Möglichkeiten erfolgen; die persönliche Freiheit soll im Einzelfall nur in dem Maß entzogen werden dürfen, wenn und soweit dies zum Zweck der Maßnahme nicht außer Verhältnis steht. In diesem Sinn normiert Art. 1 Abs. 3 PersFrG, dass der Freiheitsentzug zu seinem Zweck nicht „außer Verhältnis“ stehen darf und legt damit ein Verbot der Unverhältnismäßigkeit fest. Unter anderem muss der Freiheitsentzug insofern erforderlich sein, als kein weniger eingreifendes Mittel zur Verfügung steht. Ein Freiheitsentzug ist derart unzulässig, wenn sein Ziel durch nicht oder weniger belastende Maßnahmen erreicht werden könnte. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit macht daher auch hier bei Vorhandensein mehrerer geeigneter potenzieller Maßnahmen die Wahl der am wenigsten belastenden Maßnahme erforderlich. Eine Maßnahme kann nur dann als erforderlich zur Erreichung des damit verfolgten Zieles gesehen werden, wenn gelindere (weniger eingriffsintensive) Mittel sich als nicht zielführend erweisen (vgl. , mwN; vgl. auch ).

18Die im Einzelfall einschreitenden Organwalter sind also stets zur Anwendung gelinderer Mittel verpflichtet, wenn mit diesen der jeweils verfolgte Zweck iSd § 35 VStG (hier: Verhinderung der Fortsetzung oder Wiederholung einer strafbaren Handlung nach § 35 Z 3 VStG) erfüllt werden kann.

19Die Festnahme einer Person durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes setzt zudem gemäß § 35 VStG voraus, dass die festzunehmende Person „auf frischer Tat betreten“ wird. Das heißt, diese Person muss eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung verüben und bei Begehung dieser Tat betreten werden, wobei das erste dieser beiden Erfordernisse bereits erfüllt ist, wenn das Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund - und damit vertretbar - annehmen konnte (vgl. , mwN).

20Im vorliegenden Fall wurde der Mitbeteiligte nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts von den einschreitenden Organwaltern zwischen 01:00 Uhr und 02:00 Uhr beim Abspielen von deutlich hörbarer, für die anzeigende Nachbarin „zum Schlafen sicher zu laut[en]“ Musik betreten. Ausgehend davon konnten die Organwalter in vertretbarer Weise annehmen, dass der Mitbeteiligte ungebührlicherweise störenden Lärm iSd § 2 K-LSiG errege. Dass der Mitbeteiligte nur kurz nach dem ersten Einschreiten und einer entsprechenden Abmahnung durch die Organwalter erneut bei der angezeigten Lärmerregung betreten wurde, rechtfertigte zudem die Annahme, dass der Mitbeteiligte in der Fortsetzung der Verwaltungsübertretung iSd § 35 Z 3 VStG verharrte.

21Die im Revisionsfall erfolgte Sicherstellung und Mitnahme der Anschlusskabel zu den Lautsprecherboxen durch die Organwalter war jedenfalls geeignet, den Mitbeteiligten an der Fortsetzung der wahrgenommenen Verwaltungsübertretung zu hindern bzw. (weiteren) drohenden Verwaltungsübertretungen (Lärmerregung) vorzubeugen. Die Organwalter konnten sich daher in Bezug auf die ergriffene Maßnahme auf § 3 lit. a K-LSiG stützen. Dies hat das Verwaltungsgericht außer Acht gelassen. Dass die Sicherstellung und Mitnahme von Kabeln im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes weniger eingriffsintensiv und somit ein gelinderes Mittel zu einer Festnahme nach § 35 VStG darstellt, bedarf keiner weiteren Erörterung.

22Nach dem Gesagten erweist sich die Beurteilung des Verwaltungsgerichts, wonach die Sicherstellung und Mitnahme der Kabel gesetzlich nicht gedeckt gewesen sei, als verfehlt. Damit hat es sein Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.

23Das angefochtene Erkenntnis war daher - im aus dem Spruch ersichtlichen Umfang - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020030075.L00

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