VwGH vom 21.04.2022, Ra 2020/02/0127
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Dr. Köller sowie die Hofrätinnen Mag. Dr. Maurer-Kober und Mag. Schindler als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des S in G, vertreten durch Dr. Dominik Schärmer, Rechtsanwalt in 1230 Wien, Dr. Neumann-Gasse 7, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom , LVwG-S-1745/001-2019, betreffend Übertretungen des KFG und der StVO (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird hinsichtlich der Spruchpunkte 1. und 3. sowie 5. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund und das Land Niederösterreich haben dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von je € 673,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf vom wurde dem Revisionswerber als Lenker (in Spruchpunkt 1.) bzw. Fahrer (in den Spruchpunkten 2. bis 5.) eines näher bezeichneten Kraftfahrzeuges, welches zur Güterbeförderung im Straßenverkehr eingesetzt sei und dessen höchst zulässiges Gesamtgewicht einschließlich Anhänger und Sattelanhänger 3,5 t übersteige, vorgeworfen, er habe am zu einer näher genannten Uhrzeit am Tatort
1. den angeführten Straßenzug trotz des deutlich sichtbar aufgestellten Verbotszeichens Fahrverbot für Fahrzeuge über 3,5 t befahren,
2. an näher bestimmten Tagen zu näher genannten Uhrzeiten das im Fahrzeug eingebaute Gerät (digitaler Fahrtenschreiber) nicht richtig verwendet, weil am Beginn und am Ende des Arbeitstages das Symbol des Landes, in dem der Arbeitstag begonnen bzw. beendet worden sei, eingetragen sein müsse und die Eintragung „Symbol des Landes bei Arbeitsende“ sowie „Symbol des Landes bei Arbeitsbeginn“ nicht durchgeführt worden sei,
3. an näher bestimmten Tagen zu näher genannten Uhrzeiten die Schaltvorrichtung des Fahrtenschreibers nicht so betätigt, dass die Lenkzeiten, alle sonstigen Arbeitszeiten, Bereitschaftszeiten und Arbeitsunterbrechungen oder Ruhezeiten getrennt und unterscheidbar aufgezeichnet worden seien, weil alle sonstigen Arbeitszeiten nicht aufgezeichnet worden seien, und seinen Ladevorgang als Ruhezeit deklariert,
4. an näher bestimmten Tagen zu näher genannten Uhrzeiten die Schaltvorrichtung des Fahrtenschreibers nicht so betätigt, dass die Lenkzeiten, alle sonstigen Arbeitszeiten, Bereitschaftszeiten und Arbeitsunterbrechungen oder Ruhezeiten getrennt und unterscheidbar aufgezeichnet worden seien, weil alle sonstigen Arbeitszeiten nicht aufgezeichnet worden seien, und seinen Ladevorgang als Ruhezeit deklariert,
5. an näher bestimmten Tagen und zu näher genannten Uhrzeiten die in Art. 34 Abs. 5 Buchstabe b Ziffern ii-iv der EG-VO 165/2014 genannten Zeiträume nicht mittels manueller Eingabevorrichtung des Gerätes auf der Fahrerkarte eingetragen und Ruhezeiten auch nicht manuell nachgetragen.
2Der Revisionswerber habe dadurch § 52 lit. a Z 9c StVO (Spruchpunkt 1.) sowie § 134 Abs. 1 KFG iVm Art. 34 Abs. 7 EG-VO 165/2014 (Spruchpunkt 2.), iVm Art. 34 Abs. 5 EG-VO 165/2014 (Spruchpunkte 3. und 4.) und iVm Art. 34 Abs. 3 EG-VO 165/2014 (Spruchpunkt 5.) verletzt, weshalb über ihn gemäß § 99 Abs. 3 lit. a StVO betreffend Spruchpunkt 1. eine Geldstrafe in der Höhe von € 600,-- (Ersatzfreiheitsstrafe 277 Stunden) sowie gemäß § 134 Abs. 1 KFG betreffend Spruchpunkt 2. und gemäß § 134 Abs. 1 iVm § 134 Abs. 1b KFG betreffend die Spruchpunkte 3. bis 5. in Höhe von jeweils € 300,-- (Ersatzfreiheitsstrafe jeweils 60 Stunden) verhängt und ein Beitrag zu den Kosten des Verwaltungsstrafverfahrens gemäß § 64 Abs. 2 VStG in Höhe von insgesamt € 180,-- vorgeschrieben wurden.
3Dagegen erhob der Revisionswerber fristgerecht Beschwerde, in der er unter anderem vorbrachte, es sei auf der von ihm befahrenen Strecke kein entsprechendes Fahrverbot für Fahrzeuge über 3,5 t verordnet bzw. kundgemacht gewesen.
4Daraufhin führte das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (Verwaltungsgericht) am eine mündliche Verhandlung durch, in der es den Revisionswerber sowie einen bei der Amtshandlung anwesenden Polizeibeamten einvernahm. Dem Verhandlungsprotokoll lässt sich entnehmen, dass die Verhandlung zur Übermittlung des Verordnungsaktes - welcher betreffend die Kundmachung des in Rede stehenden Fahrverbots auf der vom Revisionswerber angegebenen Fahrstrecke sowie zur Abgabe einer Stellungnahme beigeschafft werden sollte - zunächst auf unbestimmte Zeit vertagt wurde.
5Anschließend wurde der Verordnungsakt beigeschafft und eine weitere Tagsatzung anberaumt, welche jedoch zunächst vertagt und in der Folge wieder abberaumt wurde.
6Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Verwaltungsgerichts wurde sodann - ohne Fortsetzung der mündlichen Verhandlung - der Beschwerde des Revisionswerbers gegen Spruchpunkt 1. des Straferkenntnisses keine Folge gegeben (Spruchpunkt 1.), gegen Spruchpunkt 2. des Straferkenntnisses dahingehend Folge gegeben, als nach § 45 Abs. 1 Z 4 iVm § 45 Abs. 1 zweiter Satz VStG von einer Bestrafung abgesehen und dem Revisionswerber eine Ermahnung erteilt werde (Spruchpunkt 2.), gegen die Spruchpunkte 3. und 4. des Straferkenntnisses insofern stattgegeben, als die beiden Tatbeschreibungen zu einer einzigen Tatbeschreibung zusammengefasst und nach § 134 Abs. 1 iVm § 134 Abs. 1b KFG eine Geldstrafe in der Höhe von € 300,-- (Ersatzfreiheitsstrafe 60 Stunden) verhängt werde (Spruchpunkt 3.) sowie gegen Spruchpunkt 5. des Straferkenntnisses Folge gegeben, das angefochtene Straferkenntnis in diesem Spruchpunkt behoben und das Verwaltungsstrafverfahren nach § 45 Abs. 1 Z 1 VStG eingestellt (Spruchpunkt 4.). Unter einem setzte es die Kosten des verwaltungsbehördlichen Verfahrens mit € 90,-- neu fest und verpflichtete den Revisionswerber zur Zahlung eines Beitrages zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens (Spruchpunkt 5.). Die Revision erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig (Spruchpunkt .).
7Begründend führte das Verwaltungsgericht - soweit für das gegenständliche Revisionsverfahren relevant - aus, dass im Gemeindegebiet von Deutsch Wagram auf der L6 bei Straßenkilometer 014,600 in Fahrtrichtung S1 ein Fahrverbot für Fahrzeuge über 3,5 t verordnet und unmittelbar bei der Einfahrt von der B 8 in die L 6 und anschließend etwa 500 m danach in Fahrtrichtung S1 entsprechend kundgemacht sei. Beweiswürdigend stützte sich das Verwaltungsgericht diesbezüglich auf den beigeschafften Verordnungsakt sowie die als glaubwürdig erachteten Angaben des als Zeugen befragten Polizeibeamten. Die Beachtung der Gewichtsbeschränkung wäre dem Revisionswerber als Fahrzeuglenker auch jedenfalls zumutbar gewesen, weshalb das angefochtene Straferkenntnis in seinem Spruchpunkt 1. vollinhaltlich zu bestätigen gewesen sei. Hinsichtlich der Spruchpunkte 3. und 4. des Straferkenntnisses führte das Verwaltungsgericht aus, dass der Aufenthalt im Führerhaus des Fahrzeuges während der Be- und Entladung des Fahrzeuges - entgegen der Verantwortung des Revisionswerbers - keine Ruhezeit darstelle, weil Ruhezeiten dem Lenker für private Zwecke bzw. zur Befriedigung seines Schlafbedürfnisses dienen sollten. Es handle sich bei den angelasteten Übertretungen allerdings um ein Dauerdelikt, weshalb nicht von gesondert zu bestrafenden Delikten auszugehen sei und die Übertretungen spruchgemäß zu einem Tatvorwurf zusammenzufassen seien und eine einzige Geldstrafe zu verhängen sei.
8Gegen die Spruchpunkte 1. und 3. dieses Erkenntnisses wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
9Die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
10Zur Begründung der Zulässigkeit wird in der Revision unter anderem vorgebracht, das Verwaltungsgericht habe mit dem angefochtenen Erkenntnis gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz verstoßen und sei aufgrund der Unterlassung (der Fortsetzung) der mündlichen Verhandlung von näher bezeichneter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes abgewichen.
11Mit diesem Vorbringen erweist sich die Revision als zulässig und auch begründet.
12Gemäß § 44 Abs. 5 VwGVG kann das Verwaltungsgericht von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden. Durch die Wortfolge „wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten“ wurde vom Gesetzgeber klargestellt, dass es hierbei auf eine ausdrückliche Willenserklärung der Parteien ankommt (, mwN).
13Gemäß § 48 VwGVG ist in Verfahren in Verwaltungsstrafsachen, wenn eine Verhandlung durchgeführt wurde, bei der Fällung eines Erkenntnisses nur auf das Rücksicht zu nehmen, was in der Verhandlung vorgekommen ist. Auf Aktenstücke ist nur insoweit Rücksicht zu nehmen, als sie bei der Verhandlung verlesen wurden, es sei denn, der Beschuldigte hätte darauf verzichtet, oder als es sich um Beweiserhebungen handelt, deren Erörterung infolge Verzichts auf eine fortgesetzte Verhandlung gemäß § 44 Abs. 5 VwGVG entfallen ist.
14§ 48 VwGVG legt die Geltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Verwaltungsstrafverfahren fest, der für den Beschuldigten an Art. 6 EMRK zu messen ist. Demnach darf das Verwaltungsgericht, soweit es eine Verhandlung durchführt, bei seiner Entscheidung nur auf die in der Verhandlung selbst vorgekommenen Beweise Rücksicht nehmen. Die Anforderungen an ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK gebieten es, alle Beweise grundsätzlich in einer öffentlichen Verhandlung mit dem Ziel einer kontradiktorischen Erörterung aufzunehmen (vgl. , mwN).
15Fallbezogen hat der Revisionswerber nicht auf die Fortsetzung der Verhandlung verzichtet. Vielmehr hat er den von der belangten Behörde angenommenen Sachverhalt hinsichtlich der ordnungsgemäßen Kundmachung des Fahrverbots für Fahrzeuge über 3,5 t auf der vom Revisionswerber befahrenen Strecke konkret bestritten und diesbezüglich die Durchführung eines Lokalaugenscheines beantragt.
16Indem das Verwaltungsgericht den nach Durchführung der mündlichen Verhandlung am beigeschafften Verordnungsakt seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat, obwohl der Revisionswerber nicht auf die Fortsetzung dieser Verhandlung und somit auch nicht auf die Erörterung des Verordnungsaktes verzichtet hat, ist ihm ein Verstoß gegen die Verhandlungspflicht bzw. den Unmittelbarkeitsgrundsatz nach § 48 VwGVG vorzuwerfen. Dies stellt einen Verstoß gegen tragende Verfahrensgrundsätze bzw. eine konkrete schwerwiegende Verletzung von Verfahrensvorschriften und damit eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung dar (vgl. erneut , mwN).
17Dies trifft auch auf den Vorwurf des Revisionswerbers zu, dass sich das Verwaltungsgericht nicht mit den weiteren Beweisanträgen auseinandergesetzt oder das Beweisverfahren für geschlossen erklärt hat und der Revisionswerber im Vertrauen auf die Fortsetzung der mündlichen Verhandlung auch keine Schlussausführungen erstatten konnte.
18Gemäß § 47 Abs. 1 VwGVG ist das Verfahren möglichst in einer Verhandlung abzuschließen. Wenn die Rechtssache reif zur Entscheidung ist, dann ist „die Beweisaufnahme zu schließen“ (Abs. 2). Nach Schluss der Beweisaufnahme ist den Parteien Gelegenheit zu ihren Schlussausführungen zu geben, wobei dem Beschuldigten das Recht zusteht, sich als letzter zu äußern (Abs. 3). Nach Abs. 4 ist hierauf „die Verhandlung zu schließen“; im Verfahren vor dem Senat zieht sich dieser zur Beratung und Abstimmung zurück. Der Spruch des Erkenntnisses und seine wesentliche Begründung sind „nach Möglichkeit sofort zu beschließen und zu verkünden“. § 47 VwGVG entspricht § 51h VStG in der Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 33/2013; die zu § 51h VStG ergangene Rechtsprechung ist daher auch auf § 47 VwGVG 2014 übertragbar (vgl. ).
19Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 51h VStG verletzt die belangte Behörde (hier: das Verwaltungsgericht) mit der Erlassung des angefochtenen Bescheides (hier: Erkenntnisses) noch vor Schluss des Beweisverfahrens fundamentale Verfahrensbestimmungen. Der Gesetzgeber hat dem Beschuldigten das Recht eingeräumt, nach Schluss der Beweisaufnahme in seinen Schlussausführungen zu dem ihm vorgeworfenen strafrechtlich relevanten Verhalten abschließend Stellung zu beziehen. Damit wird es dem Beschuldigten ermöglicht, durch sein persönliches und glaubwürdiges Auftreten auf die bevorstehende Entscheidung in einem Strafverfahren, in dem unter anderem auch die Verschuldensfrage zu entscheiden ist, Einfluss zu nehmen (vgl. ).
20Dem Revisionswerber wurde dieses Recht nicht gewährt.
21Ein Verstoß des Verwaltungsgerichts gegen die aus Art. 6 Abs. 1 EMRK abgeleitete Verhandlungspflicht führt auch ohne nähere Prüfung einer Relevanz dieses Verfahrensmangels zur Aufhebung des Erkenntnisses gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG, sofern sich der Verwaltungsgerichtshof - wie im vorliegenden Fall - nicht veranlasst sieht, in der Sache selbst zu entscheiden. Bei diesem Ergebnis muss auf weiteres Revisionsvorbringen nicht mehr eingegangen werden (vgl. erneut , mwN).
22Das angefochtene Erkenntnis war daher bereits aufgrund der unterlassenen Fortsetzung der mündlichen Verhandlung im angefochtenen Umfang sowie hinsichtlich der darauf aufbauenden Kostenentscheidung (Spruchpunkt 5.) gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
23Das Verwaltungsgericht wird im fortgesetzten Verfahren zudem zu ermitteln haben, welche einmündende Straße auf den von der Verordnung betroffenen Straßenabschnitt der Revisionswerber tatsächlich befahren hat und ob er dabei ein entsprechendes Vorschriftszeichen passiert hat (vgl. zum Erfordernis der Kundmachung eines Fahrverbots auf einer einmündenden Straße etwa , sowie ).
24Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, wobei dieser Entscheidung zugrunde zu legen ist, dass die belangte Behörde in Vollziehung des KFG für den Bund und in Vollziehung der StVO für das Land Niederösterreich tätig geworden war, sodass der dem Revisionswerber zu leistende Aufwandersatz zu gleichen Teilen dem Bund und dem Land Niederösterreich aufzuerlegen war (vgl. hierzu ).
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020020127.L00 |
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