VwGH vom 22.02.2012, 2011/08/0050
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Müller und die Hofräte Dr. Strohmayer, Dr. Lehofer und MMag. Maislinger sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Peck, über die Beschwerde des M H in L, vertreten durch Mag. Eva Pany, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Raubergasse 16/I, gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Steiermark vom , Zl. LGS600/SfA/0566/2010-Dr.Si/S, betreffend Einstellung der Notstandshilfe, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
In einer am von der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice aufgenommenen Niederschrift erklärte der Beschwerdeführer, dass er seit seine Mutter rund um die Uhr pflege. Dem Beschwerdeführer wurde mitgeteilt, dass er aufgrund der Pflege seiner Mutter dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehe und ihm daher ab keine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung gebühre. In einem Aktenvermerk wurde dazu festgehalten, dass der Beschwerdeführer nicht bereit sei, das Gespräch fortzuführen und die Niederschrift zu unterfertigen.
Der Beschwerdeführer legte den Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt vom vor, wonach für ihn ab der Anspruch auf Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege seiner Mutter (Pflegestufe 5) anerkannt werde, wobei darauf verwiesen wurde, dass der Beitrag zur Selbstversicherung zur Gänze aus Mitteln des Bundes getragen werde. Auch legte der Beschwerdeführer eine Erklärung des Sachwalters seiner Mutter vor, wonach der Beschwerdeführer seine Mutter pflege.
Mit Bescheid der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice vom wurde die Notstandshilfe mangels Verfügbarkeit am Arbeitsmarkt ab dem eingestellt. Begründend führte die regionale Geschäftsstelle aus, der Beschwerdeführer sei durch die Notwendigkeit der Betreuung seiner erkrankten Mutter am Antritt einer Ganztagsarbeitsstelle gehindert und habe daher keinen Anspruch auf Notstandshilfe.
Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid Berufung. Aufgrund einer Fehlinformation habe er fälschlicherweise den Anspruch auf Selbstversicherung für die Pflege eines nahen Angehörigen geltend gemacht. Er stehe dem Arbeitsmarkt zur Gänze zur Verfügung. Die Pflege seiner Mutter werde durch die Hauskrankenpflege des Roten Kreuzes erbracht. Weiter beziehe seine Mutter eine Verpflegung von D. Diese Leistungen würden über das Pflegegeld seiner Mutter finanziert. Er legte hiezu ein Konvolut von Unterlagen vor (monatliche Rechnungen des Roten Kreuzes über Hauskrankenpflege und Alten-/Pflegehilfe samt Nebenleistungen; Bestätigung des Gasthauses D, wonach die Mutter des Beschwerdeführers von diesem Gasthaus das "Mittagessen auf Rädern" beziehe; Beschlüsse des Pflegschaftsgerichtes, mit denen die Rechnungslegung des Sachwalters bestätigt wurde).
In einem Telefonat teilte der Sachwalter der Mutter des Beschwerdeführers mit, dessen Mutter sei gehfähig und könne vieles noch alleine machen. Das Rote Kreuz komme täglich mehrmals ins Haus. Der Beschwerdeführer stehe also durchaus dem Arbeitsmarkt zur Verfügung; die Darstellung des Beschwerdeführers sei nicht richtig gewesen.
Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung keine Folge. Begründend führte sie aus, laut Auskunft der Pensionsversicherungsanstalt bedeute die Pflegestufe 5 einen notwendigen Betreuungsbedarf von 180 Stunden monatlich, also volle Bereitschaft für die Pflegenden. Der Beschwerdeführer habe per und auch davor einen Anspruch auf Selbstversicherung in der Pensionsversicherung anerkannt bekommen, welcher nur zustehe, wenn volle Bereitschaft zur Betreuung vorhanden sei. Jemand, der mindestens 180 Stunden monatlich - etwa 45 Stunden wöchentlich - einen Angehörigen pflege, könne nicht gleichzeitig einer auf dem Arbeitsmarkt üblichen Beschäftigung nachgehen. Dieser Meinung scheine auch der Beschwerdeführer zu sein, da er am in der regionalen Geschäftsstelle sehr erbost darüber gewesen sei, dass ihm zugemutet werde, eine Beschäftigung zu suchen, obwohl er nachts immer wieder für seine Mutter aufstehen müsse.
Es bestehe kein Zweifel daran, dass die erforderliche Pflege der Mutter, gestützt auf die Aussagen des Beschwerdeführers und die zuerkannte Selbstversicherung bei der Pensionsversicherungsanstalt, mit dem Ziel, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, nicht in Einklang zu bringen sei und daher die Vermutung gerechtfertigt sei, dass der Beschwerdeführer für die Dauer der Erbringung dieser Pflegeleistung in eigener Person gar nicht das Ziel verfolge, am allgemeinen Arbeitsmarkt teilzunehmen.
Im Zuge des Berufungsverfahrens habe der Beschwerdeführer ein Schreiben an die Pensionsversicherungsanstalt verfasst, wonach er die Auflösung der Gewährung der Selbstversicherung mit sofortiger Wirkung sowie rückwirkend ab begehre. Der Sachwalter der Mutter des Beschwerdeführers habe bekannt gegeben, dass die Mutter gehfähig sei, vieles alleine machen könne und das Rote Kreuz mehrmals täglich ins Haus komme.
Wenn der Beschwerdeführer behaupte, dass die Pflegeleistungen ausgelagert würden, so müsse dies nachträglich als Schutzbehauptung gesehen werden und ändere nichts daran, dass der Beschwerdeführer aufgrund der Zuerkennung der Selbstversicherung, die vom Beschwerdeführer angestrebt worden sei, an anderen Zielen als der Arbeitssuche interessiert gewesen sei. Da der Beschwerdeführer jedenfalls am nicht verfügbar gewesen sei, habe die regionale Geschäftsstelle zu Recht die Notstandshilfe eingestellt.
Schließlich wies die belangte Behörde darauf hin, dass die Pensionsversicherungsanstalt mittlerweile die Selbstversicherung mit im Hauptverband der Sozialversicherungsträger gelöscht habe, weshalb ab zu entscheiden sein werde, ob Verfügbarkeit gegeben sei.
Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Akten des Verwaltungsverfahrens und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:
1. Gemäß § 33 Abs. 2 AlVG ist Notstandshilfe nur zu gewähren, wenn der Arbeitslose der Vermittlung zur Verfügung steht (§ 7 Abs. 2 und 3 AlVG) und sich in Notlage befindet.
Nach § 7 Abs. 2 AlVG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf und arbeitsfähig, arbeitswillig und arbeitslos ist. Eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf eine Person, die sich (u.a.) zur Aufnahme und Ausübung einer auf dem Arbeitsmarkt üblicherweise angebotenen, den gesetzlichen und kollektivvertraglichen Vorschriften entsprechenden zumutbaren versicherungspflichtigen Beschäftigung bereithält (§ 7 Abs. 3 Z 1 AlVG).
Nach § 7 Abs. 7 AlVG gilt als auf dem Arbeitsmarkt üblicherweise angebotene, den gesetzlichen und kollektivvertraglichen Voraussetzungen entsprechende Beschäftigung ein Arbeitsverhältnis mit einer wöchentlichen Normalarbeitszeit von mindestens 20 Stunden. Personen mit Betreuungsverpflichtungen für Kinder bis zum vollendeten zehnten Lebensjahr oder behinderte Kinder, für die nachweislich keine längere Betreuungsmöglichkeit besteht, erfüllen die Voraussetzung des § 7 Abs. 3 Z 1 AlVG auch dann, wenn sie sich für ein Arbeitsverhältnis mit einer wöchentlichen Normalarbeitszeit von mindestens 16 Stunden bereithalten.
2. Der Beschwerdeführer macht geltend, im Akt fehle ein Nachweis dafür, dass die belangte Behörde tatsächlich mit dem Sachwalter der Mutter des Beschwerdeführers Kontakt aufgenommen habe. Auch sei nicht erkennbar, dass der Beschwerdeführer am schuldhaft einen Termin bei der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice versäumt habe. Die Bescheidbegründung sei auch insoweit mangelhaft oder unschlüssig, weil der Sachwalter nicht bestätigt habe, dass der Beschwerdeführer seine Mutter 45 Stunden wöchentlich pflege. Die belangte Behörde hätte sich damit auseinandersetzen müssen, ob der Beschwerdeführer seine Mutter pflege oder nicht und zwar unabhängig davon, ob und welche Erklärung der Beschwerdeführer gegenüber der Pensionsversicherungsanstalt abgegeben habe. Der Beschwerdeführer habe auch eine Vielzahl an Nachweisen vorgelegt, welche objektiv belegten, dass die Pflege der Mutter des Beschwerdeführers tatsächlich durch Dritte erfolgt sei und die Pflege damit "voll ausgelagert" sei. Aufgrund der vorliegenden Beweisergebnisse dränge sich geradezu auf, dass die vor der Pensionsversicherungsanstalt abgegebene Erklärung unrichtig gewesen sei. Es könne nicht ohne weiteres angenommen werden, dass aufgrund der Unterstützungstätigkeit des Beschwerdeführers für seine Mutter, deren Ausmaß in zeitlicher Hinsicht von der belangten Behörde nicht festgestellt worden sei, der Beschwerdeführer eine Tätigkeit unter den üblichen und zumutbaren Bedingungen des Arbeitsmarktes nicht ausüben könne.
3. Die belangte Behörde hat die Einstellung des Notstandshilfebezuges darauf gestützt, dass der Beschwerdeführer der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe.
Ein Arbeitsloser erfüllt die Anspruchsvoraussetzung der Verfügbarkeit nur dann, wenn er bereit und in der Lage ist, jederzeit eine sich bietende Arbeitsmöglichkeit zumindest im Umfang der Verfügbarkeitsgrenze tatsächlich aufzunehmen und nicht z. B. durch eine anderweitige zeitliche Inanspruchnahme (Erwerbstätigkeit, umfangreiche ehrenamtliche Tätigkeit; hier durch die Pflege seiner Mutter) oder allenfalls bestehende rechtliche Hindernisse daran gehindert ist. Das Fehlen der Verfügbarkeit ergibt sich aus Umständen, wonach in aller Regel angenommen werden kann, dass der Arbeitslose nicht an einer entsprechenden neuen Beschäftigung, sondern vorwiegend an anderen Zielen interessiert ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2010/08/0092).
Verfügbarkeit iSd § 7 Abs. 3 Z 1 AlVG ist dann gegeben, wenn keine Bindung rechtlicher oder faktischer Art vorliegt, die erst beseitigt werden müsste, um eine die Arbeitslosigkeit beendende Beschäftigung aufzunehmen. Die erforderliche Pflege naher Angehöriger kann die Verfügbarkeit ausschließen, wenn eine andere Pflegeperson nicht zur Verfügung steht (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/08/0164, mwN).
Nach § 4 Abs. 2 Bundespflegegeldgesetz besteht Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 für Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich ist. Nach § 18b Abs. 1 ASVG können sich Personen, die eine nahe Angehörige mit Anspruch auf Pflegegeld zumindest in Höhe der Stufe 3 nach § 5 des Bundespflegegeldgesetzes oder nach den Bestimmungen der Landespflegegeldgesetze unter erheblicher Beanspruchung ihrer Arbeitskraft in häuslicher Umgebung pflegen, solange sie während des Zeitraumes dieser Pflegetätigkeit ihren Wohnsitz im Inland haben, in der Pensionsversicherung selbstversichern. Nach § 77 Abs. 8 ASVG sind die Beiträge für nach § 18b ASVG Selbstversicherte zur Gänze aus Mitteln des Bundes zu tragen.
In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zum Sozialversicherungs-Änderungsgesetz 2005, BGBl. I Nr. 132/2005, mit welchem die Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege naher Angehöriger geschaffen wurde, wurde u. a. ausgeführt (1111 BlgNR 22. GP, 4), die neue Selbstversicherung solle - anders als die bereits mögliche Weiterversicherung nach § 17 iVm § 77 Abs. 6 ASVG oder die Selbstversicherung nach § 18a iVm § 77 Abs. 7 ASVG, welche jeweils eine gänzliche Beanspruchung der Arbeitskraft voraussetzten - auch neben einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit bestehen können. In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zur Abänderung des § 77 Abs. 8 ASVG mit BGBl. I Nr. 83/2009 (179 BlgNR 24. GP, 8) wurde angemerkt, dass für die Inanspruchnahme der freiwilligen Versicherungen nach den §§ 18a und 77 Abs. 6 ASVG weiterhin auf die gänzliche Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Pflege abgestellt werde, zumal darin zum einen der subsidiäre Charakter dieser Versicherungen zum Ausdruck komme und zum anderen dem Umstand Rechnung getragen werde, dass die Pflegetätigkeit über reine Pflegeleistungen hinaus die Arbeitskraft der Pflegeperson durch Aufsichts- und Versorgungsleistungen umfassend binde. Im Unterschied dazu solle die freiwillige Selbstversicherung nach § 18b ASVG (die bloß eine "erhebliche" Beanspruchung der Arbeitskraft verlange) Versicherungsschutz auch neben einer bestehenden Pflichtversicherung ermöglichen.
Mit diesen Erläuterungen übereinstimmend setzt eine Selbstversicherung nach § 18a Abs. 1 ASVG voraus, dass die Arbeitskraft für die Pflege eines im gemeinsamen Haushalt lebenden behinderten Kindes "gänzlich" beansprucht wird; ebenso setzt die Tragung der Beiträge aus Mitteln des Bundes nach § 77 Abs. 6 ASVG (im Rahmen der Weiterversicherung nach § 17 ASVG) voraus, dass die Pflege eines nahen Angehörigen unter "gänzlicher" Beanspruchung ihrer Arbeitskraft erfolgt. Hingegen setzt die Selbstversicherung nach § 18b Abs. 1 ASVG lediglich eine "erhebliche" Beanspruchung der Arbeitskraft voraus. Entsprechend den Erläuterungen soll damit eine freiwillige Selbstversicherung auch neben einer bestehenden Pflichtversicherung ermöglicht werden. Damit kann aber aus dem Umstand einer Selbstversicherung nach § 18b ASVG schon deshalb nicht (jedenfalls) abgeleitet werden, dass Verfügbarkeit iSd § 7 Abs. 3 Z 1 AlVG nicht gegeben sei. Im Übrigen kommt dem Bestehen einer solchen Selbstversicherung lediglich Indizwirkung zu, die nur soweit maßgeblich sein kann, als nicht andere Umstände erwiesen sind.
Der Beschwerdeführer hatte in der Berufung eingewendet - und dazu auch Urkunden vorgelegt -, dass die notwendige Pflege seiner Mutter (jedenfalls zum Teil) nicht von ihm persönlich erbracht wird. Mit diesen Berufungseinwendungen hat sich die belangte Behörde nicht näher auseinandergesetzt, sondern lediglich angeführt, es handle sich um eine nachträgliche Schutzbehauptung. Begründet wurde dies damit, dass der Beschwerdeführer aufgrund der Zuerkennung der Selbstversicherung, die von ihm angestrebt worden sei, an anderen Zielen als an einer Arbeitssuche interessiert gewesen sei. Die zuerkannte (und vom Beschwerdeführer angestrebte) Selbstversicherung nach § 18b ASVG steht aber - wie bereits dargelegt - nicht jedenfalls der Verfügbarkeit entgegen, sodass die "Auslagerung" der Pflegeleistungen insoweit auch nicht als nachträgliche Schutzbehauptung beurteilt werden kann. Auch hat sich die belangte Behörde dazu nicht mit der telefonischen Mitteilung des Sachwalters der Mutter des Beschwerdeführers auseinandergesetzt, wonach die Darstellung des Beschwerdeführers (gemeint offenbar: im erstinstanzlichen Verfahren) nicht richtig gewesen sei; die Mutter des Beschwerdeführers könne vieles alleine machen und das Rote Kreuz komme mehrmals täglich ins Haus. Damit erweist sich aber die Beweiswürdigung der belangten Behörde zur Frage, in welchem Umfang der Beschwerdeführer der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehe, als unschlüssig.
Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.
Wien, am