VwGH vom 04.05.2022, Ra 2020/01/0076

VwGH vom 04.05.2022, Ra 2020/01/0076

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Fasching sowie Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der S Ö, in W, vertreten durch Dr. Mehmet Saim Akagündüz, Rechtsanwalt in 1170 Wien, Ottakringer Straße 54/Top 3.2, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , Zl. VGW-153/019/22/2019-15, betreffend Staatsbürgerschaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Wiener Landesregierung), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Wien hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Mit dem angefochtenen Erkenntnis stellte das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) in der Sache gemäß § 39 und § 42 Abs. 3 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) - unter Entfall der Wortfolge „spätestens mit Wirkung vom “ im Spruch des von der Revisionswerberin angefochtenen Bescheides der Wiener Landesregierung - fest, dass die Revisionswerberin die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG durch Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit verloren hat und sie nicht österreichische Staatsbürgerin ist. Die Revision gegen dieses Erkenntnis wurde für nicht zulässig erklärt.

2Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung - soweit im Revisionsverfahren wesentlich - zusammengefasst folgende Feststellungen zugrunde:

Der in der Türkei geborenen Revisionswerberin sei mit Bescheid der Wiener Landesregierung (belangte Behörde) vom die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden, woraufhin sie mit Wirkung vom aus dem türkischen Staatsverband entlassen worden sei.

Danach habe die Revisionswerberin „zu einem nicht mehr exakt feststellbaren Zeitpunkt“ über ihren Antrag neuerlich die türkische Staatsangehörigkeit verliehen bekommen, ohne dass sie die Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 28 StbG beantragt habe. „Mit Entlassungsurkunde aus der türkischen Staatsangehörigkeit vom “ sei sie erneut aus dem türkischen Staatsverband ausgeschieden. Sie sei seither staatenlos.

Die Revisionswerberin halte sich seit 1979 im Bundesgebiet auf, habe drei in Österreich geborene Kinder, die österreichische Staatsbürger seien. Ihr Ehemann und Kindesvater sei türkischer Staatsangehöriger und im Besitz einer Niederlassungsbewilligung „Daueraufenthalt-EU“. Die Revisionswerberin wohne mit ihrer Familie in einer Gemeindewohnung in Wien. Seit 2012 sei sie durchgehend als Arbeiterin gemeldet und derzeit als Reinigungskraft bei der Stadt Wien beschäftigt. Ebenso in Österreich wohnten ihre Eltern, Geschwister und Tanten.

3Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht auf das Wesentliche zusammengefasst aus, der vom Freiheitlichen Parlamentsklub am der belangten Partei übermittelte Datensatz stelle nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (Verweis auf ) für die Zwecke des § 27 Abs. 1 StbG kein taugliches Beweismittel dar.

Hingegen habe die Revisionswerberin die „Entlassungsurkunde“ vom vorgelegt. Voraussetzung für die Ausstellung dieser Urkunde sei gemäß den näher wiedergegebenen Art. 27 des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes Nr. 5901 vom , dass die betreffende Person die türkische Staatsangehörigkeit besitze, weil mit der Übergabe dieser Urkunde die türkische Staatsangehörigkeit verloren gehe. Ein solcher Verlust setze denklogisch voraus, dass die Revisionswerberin nach Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft und Verlust der türkischen Staatsangehörigkeit durch Aushändigung der „Entlassungsurkunde“ im Jahr 1996 neuerlich die türkische Staatsangehörigkeit erworben habe.

„Für die Bewerbung um die Einbürgerung zur türkischen Staatsangehörigkeit“ sei gemäß näher wiedergegebenem Art. 11 erster Satz des Staatsangehörigkeitsgesetz Nr. 403 vom ausdrücklich ein Antrag bei der zuständigen Behörde erforderlich, wobei Art. 8 letzter Satz leg. cit. von der Niederlassungspflicht als materielle Voraussetzung im Fall der Wiederaufnahme in den türkischen Staatsverband absehe. Dies gelte auch für das türkische Staatsangehörigkeitsgesetz Nr. 5901 vom , das an die Stelle des Staatsangehörigkeitsgesetzes aus 1964 getreten sei. Demgegenüber seien die Aussagen der Revisionswerberin und ihres Gatten, die Revisionswerberin habe zu keiner Zeit die erneute Verleihung der türkischen Staatsangehörigkeit beantragt, nicht glaubwürdig.

4In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, ausgehend vom festgestellten Sachverhalt habe die Revisionswerberin die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG ex lege verloren. Der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft sei unter Bedachtnahme auf die Möglichkeit, in Österreich eine Niederlassungsbewilligung zu erlangen, weiterhin hier niederlassungs- bzw. aufenthaltsberechtigt zu sein, als Staatenlose einen Fremdenpass zu beantragen, um Einschränkungen ihrer Reisebewegungen vorzubeugen und hier einer rechtmäßigen Beschäftigung nachzugehen, sowie im Hinblick auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (; , E 2283/2019) verhältnismäßig. Schließlich stehe der Revisionswerberin der Wiedererwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft unter Bedachtnahme auf § 12 Abs. 1 Z 1 lit. a bzw. § 10 Abs. 4 Z 1 StbG offen.

Die Wortfolge „spätestens mit Wirkung vom “ im angefochtenen Bescheid habe zu entfallen, weil dieses Datum auf die Übermittlung des von der Freiheitlichen Partei übermittelten Datensatzes abstelle, bei dem es sich um kein taugliches Beweismittel handle. Das „genaue Datum, zu dem die Beschwerdeführerin die türkische Staatsangehörigkeit über ihren Antrag wieder erworben“ habe, habe hingegen nicht festgestellt werden können.

5Den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht mit dem Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG.

6Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Die belangte Behörde nahm nach Einleitung des Vorverfahrens von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Zulässigkeit

7Die Revision ist zu der im Zulässigkeitsvorbringen dargelegten Rechtsfrage zur Rechtmäßigkeit der Feststellung des Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG ohne Feststellung eines konkreten Zeitpunktes des Verlusts zulässig und berechtigt.

Rechtslage

8Gemäß § 27 Abs. 1 StbG verliert die Staatsbürgerschaft, wer auf Grund seines Antrages, seiner Erklärung oder seiner ausdrücklichen Zustimmung eine fremde Staatsbürgerschaft erwirbt, sofern ihm nicht vorher die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft bewilligt worden ist.

9Gemäß § 42 Abs. 3 StbG kann ein Feststellungsbescheid von Amts wegen erlassen werden, wenn ein öffentliches Interesse an der Feststellung besteht.

Zu der zur Feststellung nach § 27 StbG führenden Beweiswürdigung

10Die Revisionswerberin moniert zum festgestellten Sachverhalt zusammengefasst, die „Entlassungsurkunde aus dem türkischen Staatsverband“ sei kein taugliches Beweismittel für den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit und eine auf einen solchen Wiedererwerb gerichtete „positive“ Willenserklärung. Dafür bedürfe es viel mehr „unbedenklicher Urkunden“, aufgrund derer „mit hundertprozentiger Sicherheit“ festgestellt werden könne, dass die Revisionswerberin die türkische Staatsangehörigkeit aufgrund ihres Antrags bzw. einer „positiven“ Willenserklärung wieder erworben habe.

Zwar sehe das türkische Gesetz einen Antrag zum Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit vor, jedoch sei daraus nicht zwingend abzuleiten, dass im Fall der Revisionswerberin eine „positive“ Willenserklärung dem Wiedererwerb zugrunde gelegen sei. Das Verwaltungsgericht habe auch die genauen Umstände bei der ersten Entlassung aus dem türkischen Staatsverband nicht detailliert ermittelt. Insofern habe das Verwaltungsgericht seine Verpflichtung zur amtswegigen Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts „in qualifizierter Weise“ verletzt. Tatsächlich könne nicht festgestellt werden, dass die Revisionswerberin eine „positive“ Willenserklärung zum Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit abgegeben habe.

11Dieses Vorbringen richtet sich gegen die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts, ohne eine krasse Fehlbeurteilung aufzuzeigen:

12Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes verlangt § 27 Abs. 1 StbG nicht eine „hundertprozentige Sicherheit“ für die Feststellung des (Wieder-)Erwerbs einer fremden Staatsangehörigkeit auf Grund des Antrages, der Erklärung oder der ausdrücklichen Zustimmung des Betroffenen. Vielmehr ist das Verwaltungsgericht im Feststellungsverfahren nach § 27 Abs. 1 StbG verpflichtet, den zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln. In diesem Zusammenhang ist auf den mit § 45 Abs. 2 AVG normierten Grundsatz der freien Beweiswürdigung hinzuweisen, wonach die Behörde bzw. iVm § 17 VwGVG das Verwaltungsgericht bei der Beweiswürdigung nicht an feste Beweisregeln gebunden ist, sondern den Wert der aufgenommenen Beweise nach bestem Wissen und Gewissen nach deren innerem Wahrheitsgehalt zu beurteilen hat (vgl. zu allem , Rn. 12, mwN).

13Insofern ist es keinesfalls unvertretbar, wenn das Verwaltungsgericht angesichts der im Zeitpunkt des (Wieder-)Erwerbs der türkischen Staatsangehörigkeit geltenden (nicht bestrittenen) türkischen Rechtslage, wonach die (Wieder-)Einbürgerung eines Antrags des (Wieder-)Einzubürgernden bedürfe, sowie der (ebenfalls nicht bestrittenen) Tatsache, dass der Revisionswerberin die türkische Staatsangehörigkeit (wieder-)verliehen wurde, davon ausging, dass der Verleihung ein Antrag der Revisionswerberin zugrunde lag. Der Verwaltungsgerichtshof hat auch bereits vielfach auf die (von der Revisionswerberin nicht bestrittene) offenkundige Unmöglichkeit, von Amts wegen personenbezogene Auskünfte von den türkischen Behörden zu erhalten, und die sich daraus ergebende Mitwirkungspflicht der Betroffenen durch Vorlage entsprechender Auszüge bzw. Aktenabschriften hingewiesen. Die Mitwirkungspflicht der Partei ist gegenüber der Pflicht zur amtswegigen Erforschung des gemäß § 27 Abs. 1 StbG maßgeblichen Sachverhalts umso größer, als es der Behörde bzw. dem Verwaltungsgericht unmöglich ist, personenbezogene Auskünfte über einen Betroffenen zu erhalten und es deshalb der Mitwirkung des Betroffenen bedarf (vgl. , Rn. 19, jeweils mwN).

Erfordernis der Feststellung des Zeitpunkts des Verlusts

14Gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG zu einem näher bezeichneten Zeitpunkt festzustellen (vgl. etwa jüngst , Rn. 26, mwN). Dies entspricht dem Gebot der hinreichenden Bestimmtheit, aber auch angesichts der Rechtsfolgen einer Feststellung des Verlustes der Staatsbürgerschaft dem Gebot der Rechtssicherheit für den Betroffenen (vgl. , Rn. 18 mwN).

15Die im Spruch des Bescheides der belangten Behörde enthaltene und vom Verwaltungsgericht in seiner Maßgabebestätigung beseitigte Wortfolge „spätestens mit Wirkung vom“ ist dahin auszulegen, dass der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG mit dem genannten Zeitpunkt () festgestellt wird, zumal die belangte Behörde in ihrer Bescheidbegründung vom Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit zumindest im Zeitpunkt der Übermittlung des eine bzw. einen Teil einer authentischen türkischen Wählerevidenzliste darstellenden Datensatzes am ausging, und entspricht insofern dem Bestimmtheitsgebot (vgl. zur Auslegung dieser Wortfolge , Rn. 45). Demgegenüber widerspricht das Abstellen nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt, sondern diesen offen lassend auf einen Zeitraum den oben angeführten Leitlinien des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. , Rn. 19).

16Das Verwaltungsgericht begründete den ersatzlosen Entfall der Wortfolge „spätestens mit Wirkung vom “ damit, das genaue Datum, zu dem die Revisionswerberin die türkische Staatsangehörigkeit über ihren Antrag wieder erworben habe, nicht feststellen zu können. Demgegenüber genügt, sofern der genaue Zeitpunkt der Verleihung der fremden Staatsangehörigkeit nicht feststellbar ist, die Feststellung des Zeitpunkts, zu dem jedenfalls beweiswürdigend feststeht, dass der Betroffene nach Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft eine fremde Staatsangehörigkeit erworben hat, um den oben dargelegten Leitlinien des Verwaltungsgerichtshofes zu entsprechen.

17Indem das Verwaltungsgericht lediglich den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG feststellte, nicht jedoch, zu welchem näher bezeichneten Zeitpunkt, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit.

18Da dem festzustellenden Zeitpunkt des Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG auch für die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom in der Rechtssache C-221/17, Tjebbes u.a., unionsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung Bedeutung zukommt, erübrigt es sich, auf das die konkrete Verhältnismäßigkeitsprüfung bekämpfende Revisionsvorbringen einzugehen.

Ergebnis

19Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

20Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.

21Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020010076.L00

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