VwGH vom 08.07.2020, Ra 2019/22/0169
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtes Wien jeweils vom , 1. VGW-151/017/1065/2019-15 und 2. VGW-151/017/1066/2019-3, jeweils betreffend Daueraufenthaltskarte (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Parteien: 1. I N, und 2. A N, beide vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11), zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufgehoben.
Begründung
1Die Erstmitbeteiligte ist die Mutter des Zweitmitbeteiligten. Beide sind Staatsangehörige der Ukraine.
2Die mitbeteiligten Parteien verfügten über Aufenthaltskarten als Familienangehörige eines EWR-Bürgers mit Gültigkeit bis zum 5. bzw. .
3Am (Erstmitbeteiligte) und am (Zweitmitbeteiligter) stellten die mitbeteiligten Parteien Anträge auf Ausstellung von Daueraufenthaltskarten beim Landeshauptmann von Wien.
4Am erhoben die mitbeteiligten Parteien Säumnisbeschwerde an das Verwaltungsgericht Wien.
5Mit den nunmehr angefochtenen Erkenntnissen stellte das Verwaltungsgericht jeweils in Stattgebung der Säumnisbeschwerde gemäß § 8 iVm § 28 Abs. 1 VwGVG fest, dass die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte im Sinn des § 54 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) vorlägen. Weiters sprach es aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.
6Das Verwaltungsgericht führte - soweit für den vorliegenden Fall relevant - begründend aus, die Ehe der Erstmitbeteiligten mit einem polnischen Staatsangehörigen, von dem sie ihr bis gültiges Aufenthaltsrecht abgeleitet hatte, sei am einvernehmlich geschieden worden. Die Erstmitbeteiligte habe das alleinige Sorgerecht für den Zweitmitbeteiligten erhalten. Am habe der Landeshauptmann von Wien der Erstmitbeteiligten mitgeteilt, dass mangels Erfüllung der Erteilungsvoraussetzungen eine Anfrage gemäß § 55 Abs. 3 NAG beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) erfolgen werde. Mit Schreiben vom habe das BFA mitgeteilt, dass kein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme eingeleitet werde.
7In seiner rechtlichen Beurteilung ging das Verwaltungsgericht davon aus, dass die mitbeteiligten Parteien die Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 NAG beantragt hätten und der Landeshauptmann von Wien säumig gewesen sei.
8Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
9Die Revision wendet sich nicht gegen die Beurteilung des Verwaltungsgerichtes, wonach der Landeshauptmann von Wien säumig gewesen sei. In der Zulässigkeitsbegründung führt die Revision im Wesentlichen aus, das Verwaltungsgericht habe durch die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen gemäß § 54 NAG seine Befugnis zur Entscheidung in der Sache überschritten. Der verfahrenseinleitende Antrag auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte sei unerledigt geblieben.
10Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung eines Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:
11Die Revision ist im Hinblick auf das Revisionsvorbringen zulässig und begründet.
12Die entscheidungsrelevanten Vorschriften des NAG lauten auszugsweise:
„Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts
§ 9. (1) Zur Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts für mehr als drei Monate werden auf Antrag ausgestellt:
1.eine „Anmeldebescheinigung“ (§ 53) für EWR-Bürger, die sich länger als drei Monate in Österreich aufhalten, und
2.eine „Aufenthaltskarte für Angehörige eines EWR-Bürgers“ (§ 54) für Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern sind.
(2) Zur Dokumentation des unionsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts werden auf Antrag ausgestellt:
1.eine „Bescheinigung des Daueraufenthalts“ (§ 53a) für EWR-Bürger, die das Daueraufenthaltsrecht erworben haben, und
2.eine „Daueraufenthaltskarte“ (§ 54a) für Drittstaatsangehörige, die Angehörige eines EWR-Bürgers sind und das Recht auf Daueraufenthalt erworben haben.
(3) ...
Aufenthaltskarten für Angehörige eines EWR-Bürgers
§ 54. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§ 51) sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, sind zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt. Ihnen ist auf Antrag eine Aufenthaltskarte für die Dauer von fünf Jahren oder für die geplante kürzere Aufenthaltsdauer auszustellen. Dieser Antrag ist innerhalb von vier Monaten ab Einreise zu stellen. § 1 Abs. 2 Z 1 gilt nicht.
[...]
Daueraufenthaltskarten
§ 54a. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, erwerben das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie sich fünf Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. § 53a Abs. 2 ist bei der Berechnung der Fünfjahresfrist zu berücksichtigen.
(2) Vor Ablauf der Fünfjahresfrist erwerben diese Angehörigen das Daueraufenthaltsrecht in den in § 53a Abs. 4 und 5 genannten Fällen.
(3) Zum Daueraufenthalt berechtigten Angehörigen gemäß Abs. 1 und 2 ist auf Antrag bei Vorliegen der Voraussetzungen der Abs. 1 und 2 eine Daueraufenthaltskarte für die Dauer von zehn Jahren auszustellen. Dieser Antrag ist vor Ablauf der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltskarte zu stellen. § 1 Abs. 2 Z 1 gilt nicht.“
13Gemäß § 8 Abs. 1 VwGVG kann Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG (Säumnisbeschwerde) erhoben werden, wenn die Behörde die Sache (ausgenommen kürzerer oder längerer gesetzlicher Entscheidungsfristen) nicht innerhalb von sechs Monaten entschieden hat.
14Die mitbeteiligten Parteien stellten am bzw. Anträge auf Ausstellung von Daueraufenthaltskarten gemäß § 54a NAG. Nachdem die Behörde über die Anträge nicht entschieden hat, erhoben die Mitbeteiligten am Säumnisbeschwerde an das Verwaltungsgericht.
15Eine Daueraufenthaltskarte nach § 54a NAG gehört gemäß § 9 Abs. 2 Z 2 NAG zu den Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes. In diesen Fällen ergibt sich das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht nicht aus einer nationalen gesetzlichen Berechtigung, sondern Kraft unmittelbar anwendbaren Unionsrechts (vgl. , zu § 54 NAG). Die Bescheinigung hat bloß deklaratorische Wirkung; ein das Aufenthaltsrecht konstitutiv begründender Aufenthaltstitel liegt mit der Daueraufenthaltskarte damit nicht vor.
16 Mit Erkenntnis vom , 2002/18/0152, hat der Verwaltungsgerichtshof zur Rechtslage vor Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgesprochen, dass der Devolutionsantrag gemäß § 73 AVG einen Rechtsschutz gegen die Säumnis einer Behörde bei Bescheiderlassung bietet, jedoch nicht dazu geeignet ist, die Ausstellung einer Urkunde zu begehren. Wird die Behörde aber mit der Ausstellung einer nicht als Bescheid zu qualifizierenden Urkunde säumig, hat die im Devolutionsweg angerufene Behörde - falls sie den Anspruch als gegeben erachtet - mit Bescheid festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Urkundenausstellung gegeben sind. Diese Rechtsprechung lässt sich auf die Rechtslage nach Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz mit in Bezug auf Säumnisbeschwerden an das Verwaltungsgericht übertragen.
17Das Verwaltungsgericht war daher berechtigt, im Säumnisbeschwerdeverfahren aufgrund des Antrages auf Ausstellung von Daueraufenthaltskarten festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte gemäß § 54a NAG gegeben sind.
18Das Verwaltungsgericht hat jedoch festgestellt, dass jeweils die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte im Sinn des § 54 Abs. 1 NAG vorlägen.
19Sache vor dem Verwaltungsgericht war jedoch die Säumnisbeschwerde betreffend die Anträge der Mitbeteiligten auf Ausstellung von Daueraufenthaltskarten gemäß § 54a NAG. Das Verwaltungsgericht hat keine Feststellung betreffend das (Nicht)Vorliegen der Voraussetzungen für die Ausstellung von Daueraufenthaltskarten gemäß § 54a NAG getroffen. Eine Antragsänderung wurde vom Verwaltungsgericht nicht festgestellt und lässt sich auch dem Akteninhalt nicht entnehmen. Indem das Verwaltungsgericht in Stattgebung der Säumnisbeschwerden festgestellt hat, dass jeweils die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte im Sinn des § 54 Abs. 1 NAG vorlägen, hat es seine Entscheidungsbefugnis überschritten.
20Das Verwaltungsgericht hat somit seine Entscheidung mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit belastet. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG aufzuheben.
Wien, am
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019220169.L00 |
Schlagworte: | Anspruch auf bescheidmäßige Erledigung und auf Zustellung, Recht der Behörde zur Bescheiderlassung konstitutive Bescheide Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Bescheidbegriff Mangelnder Bescheidcharakter Beurkundungen und Bescheinigungen Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Richtlinie unmittelbare Anwendung EURallg4/1 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2 |
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