VwGH vom 17.09.2019, Ra 2019/22/0106
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom , LVwG- 2018/30/2777-5, betreffend Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Landeshauptstadt Innsbruck; mitbeteiligte Partei: N N in I), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.
Begründung
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis behob das Landesverwaltungsgericht Tirol (LVwG) aufgrund der Beschwerde des Mitbeteiligten den Bescheid des Bürgermeisters der Stadt Innsbruck (Behörde), mit dem der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU" abgewiesen worden war, erteilte dem Mitbeteiligten den beantragten Aufenthaltstitel und erklärte die ordentliche Revision für nicht zulässig. Begründend führte das LVwG im Wesentlichen aus, dem Mitbeteiligten, einem afghanischen Staatsangehörigen, sei mit Bescheid des Bundesasylamtes vom der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz (AsylG) eine befristete Aufenthaltsbewilligung erteilt worden, die in der Folge mehrmals verlängert worden sei. Er erfülle das Modul 2 der Integrationsvereinbarung, verfüge über eine ortsübliche Unterkunft und absolviere seit eine Lehre in einem Modefachmarkt. Daraus beziehe er ein durchschnittliches monatliches Einkommen unter Einrechnung der Sonderzahlungen in Höhe von EUR 840,25. Die Familienbeihilfe samt Kinderabsetzbetrag in Höhe von EUR 223,50 und die vom Land Tirol gewährte Ausbildungshilfe (Stipendium für Lehrlinge) von EUR 100,-
- seien bei der Beurteilung der regelmäßigen eigenen Einkünfte des Mitbeteiligten gemäß § 11 Abs. 5 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) - entgegen der Ansicht der Behörde - sehr wohl zu berücksichtigen, weil auf diese Unterstützungen bzw. Beihilfen ein Rechtsanspruch bestehe und diese unabhängig von der Erteilung des Aufenthaltstitels gewährt würden bzw. bereits gewährt worden seien. Darüber hinaus habe der Mitbeteiligte eine Steuerrückerstattung für das Jahr 2018 in Höhe von EUR 400,-- erhalten und könne auch für 2019 mit einer Rückerstattung in Form einer Negativsteuer in gleicher Höhe rechnen. Es ergäben sich somit regelmäßige monatliche Einkünfte des Mitbeteiligten von EUR 1.197,08; dem stehe ein monatliches Mindesteinkommen (nach Abzug der Miete und unter Berücksichtigung der freien Station) von EUR 967,41 gegenüber. Somit lägen die Voraussetzungen für die Erteilung des Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU" gemäß § 45 Abs. 12 NAG vor.
2 Dagegen richtet sich die außerordentliche Amtsrevision des Bundesministers für Inneres.
3 Der Mitbeteiligte wandte sich gegen eine Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
4 Der Revisionswerber rügt in der Zulässigkeitsbegründung zunächst einen Widerspruch des angefochtenen Erkenntnisses zur ständigen hg. Rechtsprechung hinsichtlich der Unterhaltsberechnung, weil das LVwG sowohl die Familienbeihilfe, als auch die Ausbildungshilfe und die Negativsteuer berücksichtigt habe.
5 Die Revision zeigt zwar nicht auf, von welchen konkreten hg. Entscheidungen das angefochtene Erkenntnis ihrer Ansicht nach abweiche. Ein Vergreifen in der Bezeichnung der Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (Widerspruch zur hg. Rechtsprechung statt Fehlen einer solchen) macht die Revision jedoch nicht schon deshalb unzulässig. Es trifft zu, dass noch keine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage der Berücksichtigung der Familienbeihilfe in einer Konstellation wie der vorliegenden vorliegt. Die Revision ist daher zulässig.
6 § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017, lauten:
"Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel
§ 11. (1) ...
(2) ...
...
der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung
einer Gebietskörperschaft führen könnte;
5....
(5) Der Aufenthalt eines Fremden führt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (Abs. 2 Z 4), wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und der Höhe nach den Richtsätzen des § 293 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, entsprechen. Feste und regelmäßige eigene Einkünfte werden durch regelmäßige Aufwendungen geschmälert, insbesondere durch Mietbelastungen, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen. Dabei bleibt einmalig ein Betrag bis zu der in § 292 Abs. 3 zweiter Satz ASVG festgelegten Höhe unberücksichtigt und führt zu keiner Erhöhung der notwendigen Einkünfte im Sinne des ersten Satzes. Bei Nachweis der Unterhaltsmittel durch Unterhaltsansprüche (§ 2 Abs. 4 Z 3) oder durch eine Haftungserklärung (§ 2 Abs. 1 Z 15) ist zur Berechnung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten nur der das pfändungsfreie Existenzminimum gemäß § 291a der Exekutionsordnung (EO), RGBl. Nr. 79/1896, übersteigende Einkommensteil zu berücksichtigen. In Verfahren bei Erstanträgen sind soziale Leistungen nicht zu berücksichtigen, auf die ein Anspruch erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde, insbesondere Sozialhilfeleistungen oder die Ausgleichszulage.
(6) ..."
7 Der Verwaltungsgerichtshof judizierte bereits wiederholt, dass die Familienbeihilfe - anders als der Kinderabsetzbetrag - nach dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck ausschließlich für jene Personen zu verwenden sei, für die sie bezahlt werde; es sei somit nicht erlaubt, bei der Prüfung des Nachweises ausreichender Unterhaltsmittel für den Fremden die dem Zusammenführenden für ein Kind gewährte Familienbeihilfe zu berücksichtigen (vgl. etwa , mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, des Obersten Gerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes). Diesen Verfahren lag jeweils die Frage zugrunde, ob die einem Unterhaltspflichtigen für ein in seinem Haushalt betreutes Kind überwiesene Familienbeihilfe bei der Feststellung der erforderlichen Unterhaltsmittel gemäß § 293 ASVG bzw. bei der Beurteilung der Tragfähigkeit einer Haftungserklärung (vgl. , mit Hinweis auf ) für eine andere Person als das unterhaltsberechtigte Kind berücksichtigt werden kann.
Diese Sachverhalte unterscheiden sich jedoch wesentlich von dem nunmehr zu beurteilenden Fall. Vorliegend hat der Mitbeteiligte gemäß § 6 Abs. 5 iVm Abs. 2 lit. a Familienlastenausgleichsgesetz 1967 einen Anspruch auf Familienbeihilfe; diese wird ihm - den Verfahrensakten zufolge - auf sein Konto überwiesen und steht ihm als Beitrag zur Bestreitung seines eigenen Unterhaltes zur Verfügung.
In einer Konstellation, in der (wie vorliegend) der Antragsteller über die Familienbeihilfe frei verfügen und diese ganz für sich selbst verwenden kann, ergibt sich aber aus dem Zweck der Familienbeihilfe, wonach sie ausschließlich für jene Personen zu verwenden sei, für die sie bezahlt werde, keine Einschränkung hinsichtlich ihrer Berücksichtigung für die maßgeblichen Unterhaltsmittel gemäß § 11 Abs. 5 NAG (vgl. in diesem Sinn zur Berücksichtigung der Familienbeihilfe als Teil des Haushaltseinkommens nach § 10 Abs. 5 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 - StbG auch , wonach die Familienbeihilfe dann zu berücksichtigen sei, wenn der hinreichend gesicherte Lebensunterhalt des Staatsbürgerschaftswerbers anhand des Einkommens jenes - desselben - Haushaltes zu beurteilen ist, in dem auch die Kinder leben, für die Familienbeihilfe bezogen wird). Wenn aber der Zweck der Familienbeihilfe in einer Konstellation wie der vorliegenden keine Einschränkung hinsichtlich ihrer Berücksichtigung nach sich zieht, dann besteht auch kein Grund zur Annahme, die Familienbeihilfe als nicht vom (weiten) Begriff der eigenen Einkünfte im Sinn des § 11 Abs. 5 NAG erfasst anzusehen (vgl. insoweit zu § 10 Abs. 5 StbG erneut VwGH 2011/01/0217).
Entgegen der Auffassung des Revisionswerbers lässt sich aus den Ausführungen im hg. Erkenntnis Ro 2017/22/0002 nicht Gegenteiliges ableiten. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Erkenntnis im Zusammenhang mit einer Sozialhilfeleistung festgehalten, aus § 11 Abs. 5 letzter Satz NAG könne nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass Sozialhilfeleistungen, auf die bereits vor der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels (auf Grund anderer Bestimmungen) ein Rechtsanspruch bestand, in Verfahren über Erstanträge als eigene Einkünfte zu berücksichtigen seien. Dies wurde ua. damit begründet, dass durch § 11 Abs. 5 letzter Satz NAG für Verfahren über Erstanträge - was den Nachweis von Einkünften durch den Bezug von Sozialhilfeleistungen betrifft -
keine großzügigere Regelung als bei Verfahren über Verlängerungsanträge (bei denen nach § 11 Abs. 5 erster Satz NAG Sozialhilfeleistungen nicht zu berücksichtigen sind) getroffen werden sollte. Da die hier gegenständliche Familienbeihilfe zwar eine soziale Leistung, aber keine Sozialhilfeleistung (vgl. dazu ) darstellt, ist sie von der Regelung des § 11 Abs. 5 erster Satz NAG nicht erfasst und die Berücksichtigung der Familienbeihilfe - sofern diese wie im Fall des Mitbeteiligten ausschließlich für den Anspruchsberechtigten verwendet werden kann - kann keine Privilegierung von Erstanträgen gegenüber Verlängerungsanträgen nach sich ziehen. Ausgehend davon besteht aber kein Grund dafür, § 11 Abs. 5 letzter Satz NAG dahingehend auszulegen, dass in Verfahren über Erstanträge auch solche Leistungen aus der Familienbeihilfe nicht zu berücksichtigen sind, auf die ein Rechtsanspruch bereits vor der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitel bestand.
Das LVwG ging somit zutreffend davon aus, dass bei der Berechnung der erforderlichen Unterhaltsmittel für den Mitbeteiligten auch die Familienbeihilfe zu berücksichtigen ist. Dadurch verfügt der Mitbeteiligte mit seiner durchschnittlichen monatlichen Lehrlingsentschädigung unter Einrechnung der Sonderzahlungen in Höhe von EUR 840,25 und der Familienbeihilfe samt Kinderabsetzbetrag in Höhe von EUR 223,50 bereits über die erforderlichen Unterhaltsmittel in Höhe von EUR 967,41, sodass auf die Frage, ob auch die Ausbildungshilfe und die Negativsteuer zu berücksichtigen wären, nicht mehr einzugehen war.
8 Die Revision rügt darüber hinaus, der Sachverhalt sei mangelhaft festgestellt worden, weil die Lehrzeit des Mitbeteiligten am - 16 Monate nach Erteilung des Aufenthaltstitels - ende und im Lehrvertrag eine Weiterverwendung nur "für die Zeit der Weiterverwendungspflicht" vereinbart worden sei. Das LVwG habe bei Erteilung des unbefristeten Aufenthaltstitels nicht berücksichtigt, dass in absehbarer Zeit mit einer Änderung der Einkommensverhältnisse zu rechnen sei (Hinweis auf , mwN). Mangels Vorliegen einer allgemeinen Erteilungsvoraussetzung wäre eine Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG durchzuführen gewesen.
In dem zitierten hg. Erkenntnis wird ausgeführt, dass bei der Prüfung ausreichender Unterhaltsmittel eine Prognose über die Erzielbarkeit ausreichender Mittel zu treffen sei; grundsätzlich komme zwar den Verhältnissen zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung und auch der Frage früherer Beschäftigungsverhältnisse Bedeutung zu (vgl. ), ein Abstellen allein auf den Zeitpunkt der Bescheiderlassung verbiete sich jedoch dann, wenn in absehbarer Zeit mit einer Änderung der Einkommensverhältnisse zu rechnen sei (dort mit dem Ende der Tätigkeit als Zivildiener); für den Nachweis ausreichender Unterhaltsmittel reiche es, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht bestehe, der Fremde könnte im Fall der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels einer näher konkretisierten Erwerbstätigkeit nachgehen und damit das notwendige Ausmaß an Einkommen erwirtschaften; wenn bereits ein Arbeitsverhältnis eingegangen worden sei, sei dieses bei der Ermittlung der erforderlichen Unterhaltsmittel zu berücksichtigen, sofern keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass der Fremde nach Erteilung des Aufenthaltstitels nicht weiterhin beschäftigt sein werde (Hinweis auf ).
Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass ein befristet abgeschlossenes Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnis jedenfalls die Annahme rechtfertige, der Fremde erziele nach Ablauf des Arbeitsbzw. Ausbildungsverhältnisses keine Erwerbseinkünfte mehr. Vielmehr ist gerade nach einer erfolgreich abgeschlossenen Lehre davon auszugehen, dass der Fremde - zu besseren finanziellen Rahmenbedingungen als während der Ausbildung - in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden kann. Anhaltspunkte dafür, dass der Mitbeteiligte nach Ablauf seiner Lehrzeit nicht (bei einem anderen Arbeitgeber) weiterhin beschäftigt sein werde, bringt der Revisionswerber nicht vor.
Die vom LVwG erstellte Prognose, der Mitbeteiligte verfüge über ausreichende Unterhaltsmittel im Sinn des § 11 Abs. 5 NAG, kann somit nicht als rechtswidrig erkannt werden. Angesichts dessen ist die Rüge der fehlenden Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG bzw. Art. 8 EMRK nicht zielführend.
9 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
10 Ein Kostenzuspruch konnte entfallen, weil der Mitbeteiligte keinen Antrag auf Kostenersatz stellte.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019220106.L00 |
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