VwGH vom 17.09.2019, Ra 2019/22/0063
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom , VGW-151/011/9793/2018-7, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: E A O, vertreten durch Dr. Gerfried Höfferer, Rechtsanwalt in 1020 Wien, Praterstern 2/1. DG), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Ein Kostenersatz findet nicht statt.
Begründung
1 Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom wurde der bei der österreichischen Vertretungsbehörde in A, Nigeria, gestellte Antrag des Mitbeteiligten, eines nigerianischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) abgewiesen, weil der Aufenthalt des Mitbeteiligten zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte und kein Rechtsanspruch auf eine ortsübliche Unterkunft im Bundesgebiet nachgewiesen worden sei. Die dem Mitbeteiligten zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel würden unter dem erforderlichen Richtsatz nach § 293 ASVG liegen und die voraussichtliche Wohnung - gemeinsam mit der zusammenführenden Ehegattin - wäre mit 25 m2 zu klein. 2 Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Verwaltungsgericht Wien mit dem vorliegenden Erkenntnis statt und erteilte den beantragten Aufenthaltstitel für die Dauer eines Jahres. Weiters sprach es aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.
3 Nach Darlegung des Verfahrensganges führte das Verwaltungsgericht in seiner Begründung aus, dass alle Erteilungsvoraussetzungen vorlägen. Der Mitbeteiligte verfüge über ein ausreichendes Haushaltseinkommen und der von der belangten Behörde "erhobene Einwand der ungenügenden Wohnfläche (werde) durch eine Abwägung zugunsten des Familienlebens entkräftet". 4 In seiner Beweiswürdigung führte das Verwaltungsgericht aus, dass die nach Aktenseite angeführten Unterlagen erfasst worden seien und das erkennende Gericht keine Zweifel an deren Echtheit habe.
5 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht nach Zitierung des § 47 NAG und des § 11 Abs. 3 NAG im Wesentlichen aus, dass die Ehegattin des Mitbeteiligten eine österreichische Staatsangehörige sei und in aufrechter Ehe mit dem Mitbeteiligten leben möchte. Weiters sei von einer Gefahr der Beeinträchtigung des Kernbestandes der Unionsbürgerrechte auszugehen. Würde man der Argumentation der belangten Behörde folgen, wonach die einem modernen Standard entsprechende Wohnung der österreichischen Ehegattin des Mitbeteiligten für ein junges Ehepaar zu klein wäre, so verwehrte man der österreichischen Staats- und Unionsbürgerin ihre aus der EMRK erfließenden Rechte. Weiters sei in Bezug auf das Haushaltseinkommen zu berücksichtigen, dass die Ehegattin des Mitbeteiligten vor dem Verwaltungsgericht ausgesagt habe, dass der Mitbeteiligte selbst "durch eigenes Einkommen" das Haushaltsbudget verstärken werde.
6 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
7 Die Revision rügt in der Zulässigkeitsbegründung im Wesentlichen eine Verletzung der Begründungspflicht des Verwaltungsgerichtes. Weiters vermag allein der Wunsch nach einem gemeinsamen Familienleben kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht begründen.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung eines Vorverfahrens - der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den § 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Fall des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. , Rn. 11, unter Hinweis auf , Ro 2014/03/0076).
11 Wie die Revision zutreffend ausführt, enthält das angefochtene Erkenntnis keine Feststellungen und keine Beweiswürdigung im Sinn der angeführten Rechtsprechung. Es lässt sich weder dem kursorisch dargestellten Verfahrensgang noch den rechtlichen Erwägungen entnehmen, dass sich das Verwaltungsgericht mit den entscheidungsrelevanten Umständen auseinandergesetzt hätte. Das Verwaltungsgericht verweist lediglich auf im Akt erliegende "Unterlagen" ohne sich inhaltlich mit diesen auseinander zu setzen. Es legt nicht dar, welcher entscheidungsrelevante Sachverhalt den Unterlagen zu entnehmen sei. Insbesondere fehlen entscheidungsrelevante Feststellungen zu dem (erwartbaren) Einkommen des Mitbeteiligten und seiner Ehegattin. Die (fälschlicherweise als Tatsachenfeststellung bezeichnete) rechtliche Schlussfolgerung, wonach alle Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 NAG erfüllt seien, entzieht sich somit einer nachprüfenden Kontrolle.
12 Soweit das Verwaltungsgericht der Ansicht ist, dass gemäß § 11 Abs. 3 NAG der beantragte Aufenthaltstitel trotz des Fehlens von Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 NAG zu erteilen wäre, ist zunächst auf den Gesetzestext des § 11 Abs. 3 NAG hinzuweisen, der wie folgt lautet:
"Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs. 1 Z 3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs. 2 Z 1 bis 7 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die
Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen
rechtswidrig war;
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
4. der Grad der Integration;
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Drittstaatsangehörigen;
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im
Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des
Drittstaatsangehörigen in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich
die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des
Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist."
13 Bei dieser Beurteilung nach § 11 Abs. 3 NAG wäre unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Versagung des Aufenthaltstitels mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen unter Berücksichtigung der im § 11 Abs. 3 NAG näher angeführten Kriterien in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. , Pkt. 8.2., mwN). Das Verwaltungsgericht traf weder Feststellungen im Sinn des § 11 Abs. 3 NAG noch führte es eine darauf basierende Interessenabwägung durch.
14 Soweit das Verwaltungsgericht auf das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom , C-256/11, Dereci u.a., verweist, ist ihm entgegenzuhalten, dass der Wunsch nach einem gemeinsamen Familienleben in Österreich noch keine Ausnahmesituation im Sinn der Ausführungen des EuGH begründet (). Der EuGH hat im angeführten Urteil Dereci u.a. ausgesprochen, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen dieser Status verleiht, verwehrt wird. Das Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, bezieht sich auf Sachverhalte, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaates, dem er angehört, sondern das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (). Inwiefern eine solche Situation vorliegen würde, ist dem angefochtenen Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes nicht zu entnehmen.
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. 16 Kosten waren nicht zuzusprechen, weil der Mitbeteiligte gemäß § 47 Abs. 3 VwGG nur im Fall der Abweisung der Revision Anspruch auf Aufwandersatz hätte.
Wien, am
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019220063.L01 |
Schlagworte: | Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete |
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Fundstelle(n):
XAAAE-85770