VwGH vom 17.09.2019, Ra 2019/22/0062

VwGH vom 17.09.2019, Ra 2019/22/0062

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , VGW-151/011/1265/2018-16, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: N H, vertreten durch Dr. Harald Kirchlechner, Rechtsanwalt in 1080 Wien, Lange Gasse 48/6), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1 Der Landeshauptmann von Wien (Behörde, Revisionswerber) wies mit Bescheid vom den Antrag der Mitbeteiligten, einer marokkanischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) wegen fehlender Unterhaltsmittel ab. Zusammenführender ist der Ehemann der Mitbeteiligten, ein österreichischer Staatsbürger.

2 Das Verwaltungsgericht Wien (VwG) gab der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde statt und erteilte der Mitbeteiligten den begehrten Aufenthaltstitel für die Dauer eines Jahres. Weiter erklärte es eine ordentliche Revision für unzulässig.

Das VwG stellte - soweit für das gegenständliche Verfahren relevant - fest, das Haushaltseinkommen sei "durch die Lohnverrechnungsnachweise, Beilagen A zum Verhandlungsprotokoll, mit durchschnittlichem Monatsbezug von ca. EUR 1.750,-- zuzüglich aliquoter Sonderzahlungen, abzgl. EUR 250,-- Miete (ihrerseits kompensiert durch die sog. Freie Logis)" nachgewiesen. Der Sprachnachweis sei in der mündlichen Verhandlung thematisiert worden. Die Mitbeteiligte sei Juristin, spreche englisch und französisch und habe "Versuche des Nachweises der Deutschkenntnisse, Blatt 3 des Verhandlungsprotokolles" unternommen; gleichzeitig werde ihr vom Allgemeinmediziner Dr. G. "ein psychischer Problemkreis zur Erlernung der deutschen Sprache attestiert."

In der rechtlichen Beurteilung führte das VwG aus, mit Ausnahme der Sprachnachweise seien alle Erteilungsvoraussetzungen gegeben. Im Hinblick auf die akademische Bildung der Mitbeteiligten wäre der Tatbestand des § 14a Abs. 3 Z 3 NAG zwar erfüllt, mitunter fehlten aber Nostrifikationsnachweise. Das VwG verwies auf Art. 8 EMRK iVm § 11 Abs. 3 NAG und kam - unter Hinweis auf das , Rs. Zambrano - erkennbar zum Ergebnis, dass der Aufenthaltstitel im Hinblick auf diese unionsrechtliche Überlegung trotz eines allenfalls fehlenden Sprachnachweises zu erteilen sei. 3 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.

4 Die Mitbeteiligte beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung eine Abweisung der Revision.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

5 In ihrer Zulässigkeitsbegründung rügt die Amtsrevision unter anderem ein Abweichen des angefochtenen Erkenntnisses von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinsichtlich der Begründungspflicht verwaltungsgerichtlicher Erkenntnisse (Hinweis auf ).

6 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

7 Der Verwaltungsgerichtshof sprach zur Begründung der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt aus, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den § 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte nur dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. , Rn. 9, mwN). 8 Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht. Wie die Revision zu Recht vorbringt, sind die Feststellungen des VwG zur Höhe des Haushaltseinkommens nicht nachvollziehbar. Laut Verhandlungsprotokoll wurden dem VwG Lohnbestätigungen des Zusammenführenden vorgelegt, wonach dieser in zwei Beschäftigungsverhältnissen insgesamt etwa EUR 1.200,-- monatlich verdiene; sein ältester Sohn überweise ihm aufgrund einer Wohnrechtsvereinbarung EUR 125,-- pro Monat; dem stünden Mietkosten von EUR 425,-- (abzüglich der freien Logis) gegenüber. Wie das VwG angesichts dieser Angaben ein Haushaltseinkommen "mit durchschnittlichem Monatsbezug von ca. EUR 1.750,-- zuzüglich aliquoter Sonderzahlungen, abzgl. EUR 250,-- Miete (ihrerseits kompensiert durch die sog. Freie Logis)" als erwiesen ansehen konnte, ist nicht nachvollziehbar (die als Beilage A zum Verhandlungsprotokoll genommenen Lohnverrechnungsnachweise beziehen sich auf den ältesten Sohn des Zusammenführenden, der eine Haftungserklärung abgab). Darüber hinaus leben im Haushalt des Zusammenführenden - eigenen Angaben in der Verhandlung zufolge - neben seinem ältesten Sohn noch zwei minderjährige Kinder. Ob der Zusammenführende für diese sorgepflichtig ist, wurde nicht festgestellt (laut Vergleichsausfertigung vom betreffend die Scheidung des Zusammenführenden von seiner ersten Ehefrau steht dem Zusammenführenden für die beiden nach wie vor minderjährigen Kinder die Obsorge zu;

Unterhaltsleistungen der Mutter wurden nicht vereinbart). 9 Damit ist es dem Verwaltungsgerichtshof nicht möglich, die angefochtene Entscheidung in der vom Gesetz geforderten Weise einer nachprüfenden Kontrolle dahingehend zu unterziehen, ob der Aufenthalt der Mitbeteiligten im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte.

10 Der Revisionswerber weist auch zutreffend darauf hin, dass das VwG keine ausreichenden Feststellungen für die Annahme traf, dass im vorliegenden Fall ein derartiger Ausnahmefall im Sinn des Art. 20 AEUV vorliege, weshalb der österreichische Ehemann der Mitbeteiligten de facto gezwungen wäre, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen und somit seine Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn der Mitbeteiligten der beantragte Aufenthaltstitel nicht erteilt würde; der Wunsch eines Unionsbürgers zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft mit seinem Ehepartner reiche nicht aus für die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn dem Ehepartner kein Aufenthaltsrecht gewährt werde (Hinweis auf EuGH, , C-256/11, Dereci). Der Hinweis auf eine - nicht näher konkretisierte - Krankheit des Zusammenführenden (dazu enthalten die vorgelegten Verfahrensakten keinerlei Unterlagen) und die "Vorzüge der Betreuung durch die beschwerdeführende Ehegattin" ist keinesfalls geeignet, darzulegen, dass der Zusammenführende ohne die Betreuung der Revisionswerberin gezwungen wäre, die Union zu verlassen, zumal auch einer seiner mittlerweile erwachsenen Söhne im gleichen Haushalt lebt.

11 Das angefochtene Erkenntnis war somit wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. 12 Im Übrigen wird angemerkt, dass die Revisionsausführungen, wonach bei Fehlen einer besonderen Erteilungsvoraussetzung - wie eines Nachweises von Deutschkenntnissen, sofern kein Antrag gemäß § 21a Abs. 5 NAG gestellt wurde - keine Interessenabwägung vorzunehmen sei, zutreffen (vgl. , mwN). Tatsächlich führte das VwG aber keine Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG durch, sondern beurteilte den Sachverhalt im Hinblick auf Art. 20 AEUV (Verwehren des tatsächlichen Genusses des Kernbestandes der Rechte des Unionsbürgerstatus hinsichtlich des österreichischen Ehemannes der Mitbeteiligten, sofern dieser kein Aufenthaltstitel erteilt werde). Der Mitbeteiligten wurde jedoch unbestritten der akademische Grad "Licence für Rechtswissenschaften" verliehen. Eine Verpflichtung zur Nostrifizierung eines ausländischen Studienabschlusses ist weder § 21a NAG noch § 9 IntG oder § 9 der Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung (NAG-DV) zu entnehmen (vgl. , Rn. 10). Im vorliegenden Fall wurde weder von der Behörde noch vom VwG dargelegt, dass die der Mitbeteiligten verliehene "Licence für Rechtswissenschaften" keinen Schulabschluss darstelle, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 Universitätsgesetz 2002, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspreche.

13 Gemäß § 47 Abs. 3 VwGG waren der Mitbeteiligten keine Kosten zuzusprechen.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019220062.L01
Schlagworte:
Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete

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