VwGH vom 15.09.2010, 2008/23/0201
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall sowie die Hofräte Dr. Hofbauer und Mag. Dr. Wurdinger, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Feiel als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Stelzl, über die Beschwerde des T A, geboren 1981, vertreten durch Dr. Klaus Kocher und Mag. Wilfried Bucher, Rechtsanwälte in 8010 Graz, Sackstraße 36/II, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom , Zl. 315.547-1/4E-II/04/07, betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit, stellte am in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen wies das Bundesasylamt mit Bescheid vom gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, sprach aus, dass Bulgarien für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz gemäß Art. 9 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates (Dublin-Verordnung) zuständig sei, wies den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet "nach Rumänien" aus und erklärte "demzufolge" die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Bulgarien gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 für zulässig.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gegen den genannten Bescheid des Bundesasylamtes gemäß "§ 41 Abs. 3 AsylG 2005" mit der Maßgabe ab, "dass es in Spruchteil II anstelle der Wortfolge 'nach Rumänien ausgewiesen' richtig zu lauten (habe): 'nach Bulgarien ausgewiesen'".
Dagegen wendet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Die Beschwerde wendet sich unter anderem gegen die Auffassung der belangten Behörde, dass der Frage des tatsächlichen Einreisezeitpunkts eines Asylwerbers im Rahmen der Beurteilung der Anwendbarkeit des Zuständigkeitstatbestandes des Art. 9 Abs. 4 Dublin-Verordnung keine rechtserhebliche Bedeutung zukäme.
Zur Frage der Zuständigkeit Bulgariens auf Grundlage von Art. 9 Abs. 4 Dublin-Verordnung ging die belangte Behörde davon aus, dass allein der Umstand, dass dem Beschwerdeführer ein Visum eines Mitgliedstaates der Dublin-Verordnung erteilt wurde, welches seit weniger als sechs Monaten abgelaufen ist, ausreichen würde, um die Zuständigkeit des visumerteilenden Staates zu begründen, vorausgesetzt, die betroffene Person habe das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten seit ihrer Einreise nicht verlassen. Die Beschwerde rügt, dass die Zuständigkeitsbestimmung des Art. 9 Abs. 4 Dublin-Verordnung jedoch vielmehr neben dem Vorliegen eines Visums, dessen Gültigkeit vor weniger als sechs Monaten abgelaufen sei, verlange, dass die betroffene Person auf Grund dieses Visums in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates der Dublin-Verordnung einreisen habe können. Da es keinerlei Beleg dafür gebe, dass der Beschwerdeführer tatsächlich auf Grund des von den bulgarischen Behörden vermeintlich ausgestellten Visums nach Bulgarien eingereist sei, habe die belangte Behörde nicht nachvollziehbar begründet, warum sie ohne weitere Ermittlungen und ohne Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers von einer Zuständigkeit Bulgariens ausgehe.
Mit diesem Vorbringen ist die Beschwerde im Ergebnis im Recht.
Art. 9 Abs. 4 Dublin-Verordnung lautet - auszugsweise - wie folgt:
"Besitzt der Asylbewerber ... ein oder mehrere Visa, die seit
weniger als sechs Monaten abgelaufen sind aufgrund, deren er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnte, so sind die Absätze 1, 2 und 3 anwendbar, solange der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat. ..."
Art. 9 Abs. 4 Dublin-Verordnung stellt ausdrücklich darauf ab, ob das seit weniger als sechs Monaten abgelaufene Visum dem Asylwerber die Möglichkeit bot, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates einreisen zu können (Arg: "aufgrund deren er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnte", vgl. auch im gleichermaßen verbindlichen englischen Text der
Verordnung: "... and enabled him actually to enter the territory
of a Member State...", bzw. französischen Text: " ...lui ayant effectivement permis l'entree sur le territoire d'un Etat membre..."). Aus dem Wortlaut der Bestimmung geht damit hervor, dass die Einreise in das Gebiet der Mitgliedstaaten auf Grund des erteilten Visums auch tatsächlich ermöglicht worden sein muss (vgl. dazu insbesondere das hg. Erkenntnis vom , Zlen. 2002/20/0498 bis 0500, das sich zwar auf den Art. 5 Abs. 4 des Dubliner Übereinkommens bezog, aber aufgrund der nahezu wortgleichen Formulierung der Bestimmung auch auf Art. 9 Abs. 4 Dublin-Verordnung übertragbar ist; vgl. in diesem Sinne auch Filzwieser/Sprung , Dublin II-Verordnung3, 3. Auflage 2010, K 23 zu Art. 9, 101, die als Voraussetzung für eine Anknüpfung an abgelaufene Visa ansehen, dass diese rechtliche conditio sine qua non für die Einreise des späteren Asylwerbers in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates waren und die die Zuständigkeitsbegründung im Sinn des Art. 9 Abs. 4 Dublin-Verordnung im Fall einer visumsfreien Einreise in einen Mitgliedstaat verneinen; vgl. dazu auch Funke-Kaiser , Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz 1992, Stand: April 2009, Rdn. 188 zu § 27a, der zwar eine tatsächlich auf Grund des ausgestellten Visums erfolgte Einreise in das Gebiet der Mitgliedstaaten nicht für maßgeblich erachtet, aber jedenfalls auf die visumsbedingte rechtliche Möglichkeit zur Einreise abstellt). Wäre somit das von einem Mitgliedstaat ausgestellte Visum im Zeitpunkt der Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten bereits ungenützt abgelaufen, läge ein Anwendungsfall des Art. 9 Abs. 4 Dublin-Verordnung selbst dann nicht vor, wenn seit dem Ablaufen der Gültigkeit des Visums und der Asylantragstellung in einem Mitgliedstaat weniger als sechs Monate vergangen sind. Voraussetzung für die Zuständigkeitsbegründung nach Art. 9 Abs. 4 Dublin-Verordnung ist daher, dass die Einreise während des Zeitraums der Gültigkeit des Visums erfolgte, da anderenfalls das Visum nicht (mehr) die rechtliche Möglichkeit für die Einreise geboten hätte.
Die belangte Behörde hat es unter Zugrundelegung einer falschen Rechtsansicht unterlassen, zur Frage, ob der Beschwerdeführer noch während des Gültigkeitszeitraums des zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung bereits abgelaufenen bulgarischen Visums in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Dublin-Verordnung eingereist ist, Feststellungen zu treffen bzw. sich beweiswürdigend mit den dazu getätigten Angaben des Beschwerdeführers auseinander zu setzen. Der angefochtene Bescheid war aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.
Wien, am
Fundstelle(n):
HAAAE-85758