VwGH vom 30.06.2011, 2008/23/0159

VwGH vom 30.06.2011, 2008/23/0159

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofräte Dr. Hofbauer und Dr. Fasching, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Feiel als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Stelzl, über die Beschwerde der Bundesministerin für Inneres in 1014 Wien, Herrengasse 7, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom , Zl. 309.115-C1/E1-II/04/07, betreffend § 38 Asylgesetz 2005 (mitbeteiligte Partei: C Ö), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Der Mitbeteiligte ist türkischer Staatsangehöriger türkischer Volksgruppenzugehörigkeit, lebt seit 1997 - seinem 12. Lebensjahr -

in Österreich und stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, dass er trotz des gegen ihn infolge seiner mehrfachen Verurteilungen wegen Eigentums- und Suchtgiftdelikten verhängten und seit rechtskräftigen Aufenthaltsverbots nicht in die Türkei abgeschoben werden, sondern bei seinen Eltern in Österreich bleiben wolle. Später ergänzte er, er wolle auch nicht den türkischen Wehrdienst ableisten, da er streng gläubig sei und fünfmal am Tag bete; er habe gehört, dass dies beim Militärdienst untersagt sei.

Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom den Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, stellte fest, dass ihm weder der Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.), noch eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) zuerkannt werde, und wies den Mitbeteiligten gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei aus (Spruchpunkt III.) Mit Spruchpunkt IV. erkannte das Bundesasylamt gemäß § 38 Abs. 1 Z 2, 4 und 6 AsylG 2005 einer Berufung gegen diesen Bescheid die aufschiebende Wirkung ab. In seiner Begründung führte das Bundesasylamt aus, dass den Angaben des Mitbeteiligten die Glaubwürdigkeit abgesprochen werde, da es sich bei seinem Vorbringen um rein hypothetische Befürchtungen und unbelegte Behauptungen handle, die der Mitbeteiligte nicht näher habe ausführen können. Zudem habe er die religiösen Gründe in Zusammenhang mit der Militärdienstableistung erst sehr spät im Verfahren vorgebracht. Vielmehr sei aufgrund des Zeitpunkts der Antragstellung (nach Inschubhaftnahme und Erlassung des Aufenthaltsverbots) davon auszugehen, dass der Antrag nur den Zweck verfolge, dem Aufenthaltsverbot zu entgehen und unter Umgehung der fremdenpolizeilichen Bestimmungen den (illegalen) Aufenthalt zu verlängern. Subsidiäre Schutzgründe lägen nicht vor; die Interessenabwägung zur Beurteilung der Zulässigkeit des Eingriffs in sein Recht auf Familien- und Privatleben durch eine Ausweisung falle aufgrund seiner Straffälligkeit sowie einer negativen Verhaltensprognose zu Lasten des Mitbeteiligten aus.

Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Berufung, in der er in knappen Worten dem Bundesasylamt eine mangelhafte Auseinandersetzung mit seinen Fluchtgründen vorwarf.

Einer Mitteilung der Fremdenpolizei vom an das Bundesasylamt zufolge wurde der Mitbeteiligte am selben Tag aufgrund eines fehlenden Heimreisezertifikats aus der Schubhaft entlassen.

Mit dem angefochtenen Bescheid behob die belangte Behörde (lediglich) Spruchteil IV. des erstinstanzlichen Bescheids "im Grunde des § 64 Abs. 2 AVG"; die Berufung gegen die übrigen Spruchpunkte blieb unerledigt. Das Verfahren darüber ist nach wie vor anhängig.

Zur Behebung führte die belangte Behörde begründend aus, nach ihrer Auffassung sei bei der Auslegung des § 38 AsylG 2005 mitzubedenken, dass dieser den Materialien zufolge eine lex specialis zu § 64 Abs. 2 AVG darstelle, so dass § 38 AsylG 2005 nicht isoliert, sondern vor dem Hintergrund der allgemeinen Regelung des § 64 AVG zu sehen sei. Daraus ergebe sich zunächst, dass - auch wenn der Wortlaut des § 38 Abs. 2 AsylG 2005, isoliert betrachtet, anderes nahe legen würde - die in § 38 Abs. 2 AsylG 2005 geregelte Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nichts anderes sei als eine Rechtsmittelentscheidung (§ 63 Abs. 1 AVG) über den vom Bundesasylamt nach § 38 Abs. 1 AsylG 2005 (iVm § 64 Abs. 2 AVG) verfügten Ausschluss der ansonsten nach § 64 Abs. 1 AVG einer Berufung zukommenden aufschiebenden Wirkung. § 38 Abs. 2 AsylG 2005 modifiziere die gerade dargestellte Rechtslage jedoch insofern, als die diesbezügliche Rechtsmittelzuständigkeit des unabhängigen Bundesasylsenats keinen ausdrücklich auf den Ausspruch des Bundesasylamts nach "(§ 64 Abs. 2 AVG iVm) § 38 Abs. 1 AsylG (2005)" bezogenen "begründeten Berufungsantrag" im Sinne des § 63 Abs. 3 AVG erfordere, vielmehr bereits aus Anlass einer überhaupt gegen jenen Bescheid, hinsichtlich dessen ein Ausspruch des Bundesasylamts nach "(§ 64 Abs. 2 AVG iVm) § 38 Abs. 1 AsylG 2005" erfolgt sei, erhobenen Berufung eine Verpflichtung des unabhängigen Bundesasylsenates nach § 38 Abs. 2 AsylG 2005 entstehe.

Ferner ergebe sich aus der dargelegten Rechtsanschauung, dass der Ausschluss (bzw. die Aberkennung) der aufschiebenden Wirkung nach "(§ 64 Abs. 2 AVG iVm) § 38 Abs. 1 AsylG (2005)" nicht nur eine Bedachtnahme auf die in § 38 Abs. 1 AsylG 2005 angeführten Tatbestände, sondern - im Falle von deren Vorliegen - überdies auf jene in § 64 Abs. 2 AVG genannten erfordere. Auch die Gesetzesmaterialien stünden dieser Sicht nicht entgegen, sondern würden nur hervorheben, dass in nicht in § 38 AsylG 2005 geregelten Fällen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Berufung nicht möglich sei. § 64 Abs. 2 AVG fordere nun als Voraussetzung des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung, dass die vorzeitige Vollstreckung im Interesse des öffentlichen Wohles wegen Gefahr im Verzug dringend geboten sei. Von der Erfüllung dieses Tatbestandsmerkmales könne nun in einer verfahrensrechtlichen Konstellation wie der vorliegenden so lange nicht die Rede sein, als die - vorzeitige - Effektuierung der in "Spruchteil III des angefochtenen Bescheides verfügten Ausweisung mangels vom betrachteten Herkunftsstaat ausgestellten Heimreisezertifikates ohnedies nicht möglich" sei. Die Situation stelle sich hier nicht anders dar als in Bezug auf die Frage der Zulässigkeit der Schubhaft. Spruchteil IV. des erstinstanzlichen Bescheides sei daher "ohne Bedachtnahme auf die in § 38 Abs. 2 AsylG 2005 einzig angeführten Gründe" zu beheben.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Amtsbeschwerde, die sich zusammengefasst gegen die Auffassung der belangten Behörde wendet, wonach eine Aberkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 38 Abs. 1 AsylG 2005 nicht bloß auf die dort angeführten Tatbestände gestützt werden dürfe, sondern kumulativ auch die Voraussetzungen des § 64 Abs. 2 AVG zu beachten seien, weshalb bei mangelnder tatsächlicher Effektuierbarkeit einer vorzeitigen Vollstreckung der Ausweisung, etwa wie im gegebenen Fall mangels Vorliegens eines Heimreisezertifikats, automatisch auch die rechtliche Zulässigkeit des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung wegfalle.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die maßgeblichen Bestimmungen des AsylG 2005 in der hier anzuwendenden Stammfassung BGBl. I Nr. 100/2005 lauten:

"§ 36 (1) Einer Berufung gegen eine Entscheidung, mit der ein Antrag zurückgewiesen wird, kommt eine aufschiebende Wirkung nicht zu. Einer Berufung gegen eine mit einer solchen Entscheidung verbundenen Ausweisung kommt die aufschiebende Wirkung nur zu, wenn sie vom unabhängigen Bundesasylsenat zuerkannt wird.

(2) Der Berufung gegen andere Entscheidungen und der damit verbundenen Ausweisung kommt die aufschiebende Wirkung zu, wenn sie nicht aberkannt wird.

(…)

§ 38 (1) Einer Berufung gegen eine abweisende Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz und der damit verbundenen Ausweisung kann das Bundesasylamt die aufschiebende Wirkung aberkennen, wenn

1. der Asylwerber aus einem sicheren Herkunftsstaat (§ 39) stammt;

2. sich der Asylwerber vor der Antragstellung schon mindestens drei Monate in Österreich aufgehalten hat, es sei denn, dass er den Antrag auf internationalen Schutz auf Grund besonderer, nicht von ihm zu vertretender Umstände nicht binnen drei Monaten nach der Einreise stellen konnte. Dem gleichzuhalten sind erhebliche, verfolgungsrelevante Änderungen der Umstände im Herkunftsstaat;

3. der Asylwerber die Asylbehörde über seine wahre Identität, seine Staatsangehörigkeit oder die Echtheit seiner Dokumente trotz Belehrung über die Folgen zu täuschen versucht hat;


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4.
der Asylwerber Verfolgungsgründe nicht vorgebracht hat;
5.
das Vorbringen des Asylwerbers zu seiner Bedrohungssituation offensichtlich nicht den Tatsachen entspricht oder
6.
gegen den Asylwerber vor Stellung des Antrags auf internationalen Schutz eine durchsetzbare Ausweisung und ein durchsetzbares Aufenthaltsverbot erlassen worden ist.

(2) Der unabhängige Bundesasylsenat hat der Berufung, der die aufschiebende Wirkung vom Bundesasylamt aberkannt wurde, binnen sieben Tagen ab Berufungsvorlage mit Bescheid die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wenn anzunehmen ist, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde."

§ 64 AVG lautet:

"(1) Rechtzeitig eingebrachte Berufungen haben aufschiebende Wirkung.

(2) Die Behörde kann die aufschiebende Wirkung ausschließen, wenn die vorzeitige Vollstreckung im Interesse einer Partei oder des öffentlichen Wohles wegen Gefahr im Verzug dringend geboten ist. Ein solcher Ausspruch ist tunlichst schon in den über die Hauptsache ergehenden Bescheid aufzunehmen."

Die Amtsbeschwerde geht davon aus, dass § 38 Abs. 1 AsylG 2005 eine lex specialis zu § 64 Abs. 2 AVG darstelle und daher § 64 Abs. 2 AVG auf die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Berufung gegen eine abweisende Entscheidung in einer Asylangelegenheit nicht anwendbar sei.

Damit ist die Amtsbeschwerde im Recht.

Die Gesetzesmaterialien zur Stammfassung des § 38 AsylG 2005 (RV 952 BlgNR 22. GP 56) führen dazu aus (Schreibfehler im Original):

"§ 38 stellt eine lex specialis zu § 64 Abs. 2 AVG dar; in nicht in § 38 geregelten Fällen ist die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Berufung nicht möglich.

Natürlich geht einer Entscheidung über die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Berufung eine vollinhaltliche Prüfung voraus, in der sich die Behörde bereits mit allen Vorbringen des Asylwerbers auseinander zu setzen hat.

Die in Abs. 1 genannten Fälle stellen nach der Erfahrung der Praxis jene Fälle dar, in denen das Rechtsschutzinteresse mangels echter Gefährdung des Antragstellers am geringsten ist (…).

Um entsprechende Rechtssicherheit gewährleisten zu können - eine Abschiebung in Durchsetzung einer Ausweisung, die mit einer abweisenden Entscheidung verbunden wurde, geht in den Herkunftsstaat -, kennt der Entwurf einen höheren Rechtsschutzstandard als das AVG. Zwar wird der Berufung - wie im AVG - durch die Behörde 1. Instanz die aufschiebenden Wirkung aberkennt, allerdings wird die Durchführung der die durchsetzbare Entscheidung umsetzenden Ausweisung bis zu einer Überprüfung durch den unabhängigen Bundesasylsenat ausgesetzt; die Entscheidung ist - etwa im Hinblick auf Schubhaft - weiterhin durchsetzbar, aber dem unabhängiger Bundesasylsenat kommt noch die Möglichkeit einer entsprechenden Korrektur binnen sieben Tagen ab Berufungsvorlage zu. Zur Verfassungskonformität siehe VfGH 237, 238/03 ua."

Weder aus dem Wortlaut des Gesetzes noch aus den Gesetzesmaterialien lässt sich ein Anhaltspunkt für die Annahme ableiten, dass neben den in § 38 Abs. 1 AsylG 2005 umschriebenen Tatbeständen zusätzlich noch die Voraussetzungen des § 64 Abs. 2 AVG als Entscheidungskriterien für die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung zum Tragen kommen sollen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber § 38 Abs. 1 AsylG 2005 gezielt als eine von § 64 Abs. 2 AVG abweichende Regelung konzipiert hat zur Verfassungskonformität einer solchen Regelung im Zusammenhang mit der Asylgesetznovelle 2003 (vgl. das Erkenntnis des Zlen. G 237, 238/2003, u. a.).

Entgegen der Auffassung der belangten Behörde bleibt angesichts der Sonderbestimmung des § 38 Abs. 1 AsylG 2005 somit für die Anwendung des § 64 Abs. 2 AVG kein Raum (so auch Feßl/Holzschuster , Asylgesetz 2005, S. 515).

Allerdings ist das Bundeasylamt in der Ausübung seines in § 38 Abs. 1 AsylG 2005 eingeräumten Ermessens (" kann …aberkennen") gebunden. Es hat daher einerseits dem Willen des Gesetzgebers zufolge vor einer Entscheidung über die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Berufung eine vollinhaltliche Prüfung des gesamten Vorbringens des Asylwerbers vorzunehmen. Sollte demnach eine Gefährdung etwa iS der EMRK vertretbar behauptet worden sein, wird eine Aberkennung der aufschiebenden Wirkung nicht mehr möglich sein. Andererseits hat das Bundesasylamt auch auf die in § 38 Abs. 2 AsylG 2005 genannten Kriterien Bedacht zu nehmen (vgl. dazu auch Putzer/Rohrböck , Leitfaden Asylrecht (2007), Rz 589, 586; Feßl/Holzschuster , Asylgesetz 2005, S. 524). Schließlich ist nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber bewusst eine Divergenz der Kriterien für die (zunächst ermessengebundene) Aberkennung nach § 38 Abs. 1 AsylG 2005 von jenen für die (nachfolgend zwingend vorzunehmende) Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nach § 38 Abs. 2 AsylG 2005 bei gleicher Sachlage normieren wollte (vgl. in diesem Sinne auch Putzer/Rohrböck , Rz 586, sowie Feßl/Holzschuster , S. 524).

Da die belangte Behörde aber ausgehend von einer unzutreffenden Rechtsansicht den gegenständlichen Spruchteil des erstinstanzlichen Bescheids nicht etwa deswegen behoben hat, weil die vom Bundesasylamt herangezogenen Tatbestandsvoraussetzungen nicht zutrafen oder Gründe für eine Zuerkennung nach § 38 Abs. 2 AsylG 2005 vorlagen, sondern ausschließlich wegen der faktischen Unmöglichkeit der Effektuierbarkeit einer durchsetzbaren Entscheidung, ohne dass dieses Kriterium bei der Entscheidung über die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung zu berücksichtigen gewesen wäre, war der angefochtene Bescheid schon aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

Wien, am