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VwGH vom 08.07.2020, Ra 2019/22/0020

VwGH vom 08.07.2020, Ra 2019/22/0020

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der N O A K A, vertreten durch Dr. Stephan Messner, Rechtsanwalt in 1130 Wien, Hietzinger Hauptstraße 22/D/B10A, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom , VGW-151/018/6478/2018-8, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Die Revisionswerberin, eine irakische Staatsangehörige, stellte am bei der österreichischen Vertretungsbehörde in Amman einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zur Familienzusammenführung mit ihrem in Österreich rechtmäßig aufhältigen Ehemann, der ebenfalls irakischer Staatsangehöriger ist.

2Mit Bescheid vom wies der Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) den Antrag der Revisionswerberin mangels Vorliegen der Familienangehörigeneigenschaft gemäß § 2 Abs. 1 Z 9, 46 Abs. 1 Z 2 lit. c in Verbindung mit § 30 NAG ab. Begründend führte die belangte Behörde zusammengefasst aus, die Ehe zwischen der Revisionswerberin und dem Zusammenführenden sei in dessen Abwesenheit im Irak und somit ohne seine persönliche Erklärung zur Eingehung der Ehe geschlossen worden, sodass diese Ehe für den österreichischen Rechtsverkehr gemäß § 6 IPRG als ungültig zu qualifizieren sei. Daher könne sich die Revisionswerberin nicht auf die Bestimmungen des § 2 Abs. 1 Z 9 in Verbindung mit § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG berufen, die an das Vorliegen einer Ehe anknüpfen. Eine besondere Konstellation, in der zur Erzielung eines der EMRK gemäßen Ergebnisses der Begriff „Familienangehöriger“ von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG abzukoppeln und ein Anspruch auf Familiennachzug aus Art. 8 EMRK abzuleiten sei, liege mangels eines diesbezüglichen Vorbringens nicht vor. Selbst unter entsprechender Annahme wäre das behauptete Eheleben gemäß Art. 8 EMRK nicht schützenswert, zumal - angesichts der Eheschließung in Abwesenheit des Ehemannes und aufgrund seines Aufenthalts in Österreich seit dem Jahr 2012 - kein tatsächliches Eheleben geführt werde, weshalb § 30 NAG zur Anwendung gelange.

3Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerberin - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und bestätigte den angefochtenen Bescheid. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte es für unzulässig.

In den Entscheidungsgründen legte das Verwaltungsgericht zunächst den Verfahrensgang dar, indem es die Begründung des Bescheides der belangten Behörde sowie die dagegen erhobene Beschwerde wörtlich wiedergab. In der Folge stellte das Verwaltungsgericht fest, dass die am [gemeint wohl: ] zwischen der Revisionswerberin und dem Zusammenführenden, durch Bevollmächtigung seines Bruders, geschlossene Ehe mit Beschluss des irakischen Personenstandsgerichtes in A vom geschieden und in der Begründung (u.a.) ausgeführt worden sei, die eheliche Gemeinschaft habe nicht stattgefunden. Am habe die Revisionswerberin den Zusammenführenden im Irak geheiratet. Dem Zusammenführenden sei mit Bescheid des Bundesasylamtes vom der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden und er verfüge seit dem über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“.

In seiner Beweiswürdigung verwies das Verwaltungsgericht auf die in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Urkunden und den übrigen Akteninhalt.

In der rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht aus, dass sich die Revisionswerberin nicht mit Erfolg auf ein bestehendes Eheleben berufen könne, weil sich ihr Ehemann seit dem Jahr 2012 in Österreich befinde. Erst bei der Scheidung der ersten Ehe und der darauffolgenden Eheschließung am sei es nachweislich zu einem ersten Zusammentreffen gekommen. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK sei nach § 11 Abs. 3 Z 2 NAG insbesondere das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall habe ein schutzwürdiges Familienleben zu keinem Zeitpunkt bestanden, weshalb spruchgemäß zu entscheiden gewesen sei.

4Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

5Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6Zur Zulässigkeit der Revision wendet sich die Revisionswerberin gegen die Beurteilung des Verwaltungsgerichtes zum Bestehen eines Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK und bringt im Wesentlichen vor, das Verwaltungsgericht sei von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Bestehen eines Familienlebens bei Ehegatten und zum Fehlen eines gemeinsamen Haushaltes im Falle einer Familienzusammenführung abgewichen. Ferner wird die Intensität der Beziehung zwischen den Ehegatten und der Wille zur Fortführung bzw. Herstellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft unter Berufung insbesondere auf die Schwangerschaft der Revisionswerberin dargelegt, weshalb eine Aufenthaltsehe - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtes - gemäß § 30 NAG nicht vorliege.

Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und begründet.

7Gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG (in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 56/2018) ist Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ (ua.) zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen, ein Quotenplatz vorhanden ist und der Zusammenführende einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ innehat (lit. a) oder Asylberechtigter ist und § 34 Abs. 2 AsylG 2005 nicht gilt (lit. c). Nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG ist ein Familienangehöriger, wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie).

8Nach § 11 Abs. 1 Z 4 NAG in der hier maßgeblichen Fassung dürfen einem Fremden Aufenthaltstitel nicht erteilt werden, wenn (u.a.) eine Aufenthaltsehe (§ 30 Abs. 1 NAG) vorliegt. Gemäß § 30 Abs. 1 NAG dürfen sich Ehegatten oder eingetragene Partner, die ein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK nicht führen, für die Erteilung und Beibehaltung von Aufenthaltstiteln nicht auf die Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen.

9Der Tatbestand des § 30 Abs. 1 NAG ist u.a. dann erfüllt, wenn sich der Ehegatte zur Erteilung eines Aufenthaltstitels auf eine Ehe beruft, obwohl kein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK geführt wird. Dabei erfordert § 30 Abs. 1 NAG nicht, dass die Ehe - quasi in Missbrauchsabsicht - zu dem Zweck geschlossen wurde, einen Aufenthaltstitel zu erlangen, sondern dass zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde oder des Verwaltungsgerichtes kein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK (mehr) geführt wird. Beantragt ein Fremder die Erteilung eines Erstaufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinem Ehegatten, ist seine Absicht entscheidend, wie der angestrebte Titel genutzt werden solle. Ein formales Band der Ehe reicht nicht aus, um aufenthaltsrechtliche Wirkungen zugunsten des ausländischen Ehegatten abzuleiten (vgl. zu allem , Rn. 8; weiters , Ra 2016/22/0015, Rn. 12, jeweils mwN).

10Soweit die Revisionswerberin im Hinblick auf die Beurteilung des Verwaltungsgerichtes zum Bestehen eines Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK der Sache nach einen Begründungsmangel geltend macht, ist zunächst auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG zu verweisen, wonach die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den § 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Dies erfordert zunächst die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, eine nachvollziehbare Beweiswürdigung und schließlich die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides führten. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. , Rn. 8, mwN). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis aus nachstehenden Gründen nicht gerecht.

11Vorauszuschicken ist zunächst Folgendes: Die belangte Behörde qualifizierte die (Anfang 2017) in Abwesenheit des Zusammenführenden durch seinen bevollmächtigten Bruder geschlossene Ehe als ungültig, verneinte daher die Familienangehörigeneigenschaft der Revisionswerberin und stützte den abweisenden Bescheid (auch) auf § 2 Abs. 1 Z 9 NAG. Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis unstrittig die - in Anwesenheit der Revisionswerberin und ihres Ehemannes am - geschlossene Ehe festgestellt, dies seiner Entscheidung erkennbar zugrunde gelegt und somit - zumindest implizit - das Vorliegen der Familienangehörigeneigenschaft im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG bejaht. Im Hinblick darauf steht der Spruch des angefochtenen Erkenntnisses, der den tragend auf das Fehlen der Familienangehörigeneigenschaft gestützten abweisenden Bescheid der belangten Behörde ohne Maßgabe bestätigt, in Widerspruch zu dessen Begründung.

12Indem das Verwaltungsgericht das Bestehen eines Familienlebens verneinte (weshalb sich die Revisionswerberin nicht darauf berufen könne), ging es erkennbar von der Anwendung des § 30 Abs. 1 NAG aus. Für diese Beurteilung fehlen im angefochtenen Erkenntnis aber konkrete Feststellungen bzw. entsprechende beweiswürdigende Überlegungen, insbesondere betreffend die Einzelheiten der Beziehung zwischen der Revisionswerberin und ihrem Ehemann sowie die im verwaltungsgerichtlichen Verfahren mehrfach vorgebrachte Schwangerschaft der Revisionswerberin, welche für die Beurteilung des Bestehens eines Familienlebens wesentlich und notwendig gewesen wären. In der rechtlichen Beurteilung stützte das Verwaltungsgericht die Verneinung eines schützenswerten Familienlebens lediglich auf die Annahme, dass es zu einem ersten Zusammentreffen zwischen der Revisionswerberin und ihrem Ehemann bei der Eheschließung am gekommen sei, sowie auf die Tatsache, dass sich der Zusammenführende seit dem Jahr 2012 in Österreich aufhalte.

13Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind Beziehungen, die sich aus einer rechtmäßigen Eheschließung ergeben, auch dann von Art. 8 EMRK erfasst, wenn bestimmte Elemente eines typischen Familienlebens, wie z.B. eine gemeinsame Wohnung, (noch) nicht vorhanden sind (vgl. , mwN). Somit kann das Fehlen eines gemeinsamen Haushaltes oder eines gemeinsamen Wohnsitzes zwischen Ehegatten nicht per se zu der Annahme führen, es fehle das in § 30 Abs. 1 NAG angesprochene gemeinsame Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK (vgl. , sowie , 2008/22/0243, mwN). Das ergibt sich in einem Fall wie dem vorliegenden schon daraus, dass die die Erteilung eines Erstaufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem Ehegatten beantragende Fremde in Österreich regelmäßig noch keinen Wohnsitz begründet hat, bedarf es doch gerade dazu des angestrebten Titels (vgl. , mwN).

14Somit wäre das Verwaltungsgericht gehalten gewesen, konkrete Feststellungen zur - bei Erstanträgen zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidenden - Absicht der Revisionswerberin, wie der angestrebte Titel zu nutzen sei, sowie zu sonstigen, für die Beurteilung, ob tatsächlich ein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK geführt werde, maßgeblichen Umständen der Beziehung der Revisionswerberin mit ihrem Ehemann - fallbezogen etwa zum erwarteten gemeinsamen Kind - zu treffen.

15Im Hinblick darauf ist das angefochtene Erkenntnis einer nachprüfenden Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht zugänglich.

16Ergänzend wird noch auf folgende Aspekte hingewiesen:

17Wird-wie vom Verwaltungsgericht angenommen - der Tatbestand des § 30 Abs. 1 NAG erfüllt und liegt somit der absolute Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG vor (vgl. , Rn. 11, mwN), so ist eine Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG nicht vorzunehmen (vgl. wiederum Ra 2016/22/0015, Rn. 14, mwN), weshalb der Verweis des Verwaltungsgerichtes auf § 11 Abs. 3 Z 2 NAG fehl am Platz ist.

18Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung in der Regel an der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage auszurichten (vgl. , Pkt. 4.1., mwN). Nach den unbestrittenen Feststellungen verfügt der Zusammenführende seit dem über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“. Demnach zitierte bereits die belangte Behörde im Spruch des abweisenden Bescheides als Rechtsgrundlage zu Unrecht § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG, der nur dann zur Anwendung gelangen kann, wenn der Zusammenführende ein Asylberechtigter ist und § 34 Abs. 1 AsylG 2005 nicht gilt (vgl. , Rn. 39). Auch diesbezüglich fehlt es im angefochtenen Erkenntnis aber an einer - die Rechtsgrundlage richtig stellenden - Maßgabe.

19Das angefochtene Erkenntnis war aus den oben dargestellten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

20Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019220020.L00
Schlagworte:
Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete

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