VwGH vom 14.12.2010, 2008/22/0929
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung
verbunden):
2008/22/0930
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerden
1. des N und 2. der S, beide in W und vertreten durch die Graff Nestl Baurecht Zorn Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Weihburggasse 4/22, gegen die Bescheide der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 304.040/16-III/4/08 (hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers zu 2008/22/0929) und Zl. 304.040/17-III/4/08 (hinsichtlich der Zweitbeschwerdeführerin zu 2008/22/0930), jeweils betreffend Niederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhalts aufgehoben.
Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit den im Instanzenzug ergangenen Bescheiden vom wies die belangte Behörde die Anträge der beschwerdeführenden Parteien (Vater und Tochter serbischer Staatsangehörigkeit) vom auf Erteilung von Niederlassungsbewilligungen als Angehörige gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.
Zur Begründung führte die belangte Behörde im Wesentlichen - in beiden Bescheiden annähernd gleichlautend - aus, der Erstbeschwerdeführer habe sich bereits in den Jahren 1986 bis 1994 in Österreich bei seiner Mutter aufgehalten. Dann sei er zu seinem Vater nach Serbien zurückgekehrt, habe im Jahr 1996 in Serbien geheiratet und dort eine Familie gegründet. Der Erstbeschwerdeführer sei mit einem vom bis gültigen Visum eingereist, die Zweitbeschwerdeführerin mit ihrer Mutter mit einem vom bis (richtig: 2003, durch Griechenland ausgestellten) gültigen Visum. Die Ehefrau des Erstbeschwerdeführers (Mutter der Zweitbeschwerdeführerin) habe bisher keinen Aufenthaltstitel beantragt.
Die beschwerdeführenden Parteien hätten die Anträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einbringen und die Entscheidung im Ausland abwarten müssen. Da sie sich zum Zeitpunkt der Antragstellung sowie zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag nicht rechtmäßig im Inland aufgehalten hätten, stehe § 21 Abs. 1 NAG einer Bewilligung entgegen. Ein längerer unrechtmäßiger Aufenthalt im Bundesgebiet rechtfertige die Annahme einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung.
Gemäß § 74 NAG könne die Behörde von Amts wegen die Inlandsantragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder die Heilung von sonstigen Verfahrensmängeln zulassen, wenn die Voraussetzungen des § 72 NAG erfüllt würden.
Die Anträge der beschwerdeführenden Parteien und deren Berufungen enthielten eine Behauptung humanitärer Gründe. Es wäre ihnen unzumutbar, in das Heimatland zu fahren und dort den Erstantrag zu stellen, weil sie keinerlei Bindung zum Heimatland mehr hätten. Auf Grund der Romazugehörigkeit hätte der Erstbeschwerdeführer bei einer erzwungenen Rückkehr große Schwierigkeiten betreffend den Zugang zum Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Gesundheitswesen und Sozialversicherungswesen.
Aus diesem Grund sei von Amts wegen eine Überprüfung im Sinn des § 72 NAG durchgeführt worden. Auf Grund der Anführung von (bloß) wirtschaftlichen Gründen sei kein ausreichender besonders berücksichtigungswürdiger humanitärer Aspekt gegeben. Die beschwerdeführenden Parteien hätten bis zur Einreise nach Österreich in Serbien ein gemeinsames Familienleben mit der Ehefrau bzw. Mutter geführt. Der bloße Umstand, dass die Mutter des Erstbeschwerdeführers seit österreichische Staatsbürgerin sei, stelle keinen humanitären Aspekt dar. Das Fehlen von Anknüpfungspunkten im Heimatland und die Integration in Österreich stellten keine Grundlage für einen besonders berücksichtigungswürdigen Fall dar.
Selbst wenn die Inlandsantragstellung dem Aufenthaltstitel nicht entgegenstehen würde, wäre die Erteilung eines solchen nicht möglich, weil festgestellt worden sei, dass die Mutter des Erstbeschwerdeführers nicht über ausreichende Unterhaltsmittel für die gesamte Familie verfüge. Außerdem sei die Mutter bereits 22 Jahre in Österreich niedergelassen und es erscheine daher wenig plausibel, dass die beschwerdeführenden Parteien mit der Mutter des Erstbeschwerdeführers bereits im Herkunftsstaat in einem engeren Naheverhältnis in häuslicher Gemeinschaft gelebt und Unterhalt bezogen hätten oder nur Unterhalt bezogen hätten. Somit sei die besondere Erteilungsvoraussetzung des § 47 Abs. 3 NAG ebenfalls nicht gegeben.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Bescheide erhobenen und zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Beschwerden nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:
Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass die belangte Behörde dem jeweiligen Bescheidspruch zufolge die Antragsabweisungen ausschließlich auf § 21 Abs. 1 NAG gestützt hat. Soweit in den Erwägungen aber auch auf das Fehlen der besonderen Erteilungsvoraussetzung der Unterhaltsgewährung im Heimatland abgestellt wurde (§ 47 Abs. 3 Z 3 NAG), bleibt die belangte Behörde eine nachvollziehbare Begründung schuldig. Im bloßen Hinweis, dies erscheine ihr (bloß) angesichts des langjährigen Aufenthalts der Zusammenführenden in Österreich "wenig plausibel", kann eine der Schlüssigkeitsprüfung standhaltende Beweiswürdigung nicht erblickt werden. Die beschwerdeführenden Parteien bestreiten nicht, dass sie die gegenständlichen Anträge in Österreich gestellt haben und sich seit ihrer Einreise im Jahr 2004 in Österreich aufhalten.
Somit hegt der Gerichtshof keine Bedenken gegen die Heranziehung des § 21 Abs. 1 NAG durch die belangte Behörde. Nach dieser Bestimmung sind Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen und es ist die Entscheidung im Ausland abzuwarten.
Gemäß § 74 NAG (in der Stammfassung) hat aber die Behörde in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen aus humanitären Gründen von Amts wegen die Inlandsantragstellung zuzulassen. Besonders berücksichtigungswürdige Gründe liegen dabei insbesondere vor, wenn der Drittstaatsangehörige einer Gefahr gemäß § 50 FPG ausgesetzt ist oder wenn ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch (etwa auf Familiennachzug) besteht (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2008/22/0265 bis 0267, mwN).
Mit der Rüge, dass die belangte Behörde nur mangelhafte Feststellungen über die im verwaltungsbehördlichen Verfahren behaupteten Umstände getroffen habe, zeigen die beschwerdeführenden Parteien eine den angefochtenen Bescheiden anhaftende Rechtswidrigkeit auf.
In einer umfangreichen Niederschrift hat der Erstbeschwerdeführer am vor der erstinstanzlichen Behörde ausgeführt, dass er seine Wohnung nach dem Tod des Vaters in Serbien verloren habe und seine Ehefrau noch nie erwerbstätig gewesen sei. Ergänzend brachte er in der Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid vor, dass er auf Grund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Roma bei einer erzwungenen Rückkehr vor großen Schwierigkeiten betreffend den Zugang zum Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Gesundheitswesen und Sozialversicherungswesen stünde. Roma seien bei einer Rückkehr nach Serbien kaum in der Lage, einen offiziellen Arbeitsplatz zu erhalten oder eine Unterkunft zu erlangen. Es sei als sehr wahrscheinlich anzusehen, dass ein Angehöriger der Roma bei einer Rückkehr nach Serbien in große existentielle Nöte geraten werde.
Die belangte Behörde hat rechtsirrig angenommen, dass dem Fehlen von Anknüpfungspunkten im Heimatland und der Integration in Österreich keine Relevanz für die Beurteilung nach Art. 8 EMRK zukomme (vgl. demgegenüber etwa das hg. Erkenntnis vom , 2008/22/0681). Sie hat bei ihrer Beurteilung nach Art. 8 EMRK in Wahrheit - abgesehen von Gründen einer Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention - nur den Umstand gewertet, dass die Mutter des Erstbeschwerdeführers seit österreichische Staatsbürgerin sei und dies keinen humanitären Aspekt darstelle. Sie hat aber keine Feststellungen zur Situation der beschwerdeführenden Parteien als Angehörige der Volksgruppe der Roma bei einer Rückkehr nach Serbien getroffen. Dass der Frage der Existenzmöglichkeit als Angehöriger der Roma in Serbien im gegebenen Zusammenhang rechtliche Bedeutung zukommen kann, hat der Gerichtshof im Erkenntnis vom , 2009/22/0048, dargelegt.
Dem Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien im Verwaltungsverfahren kann somit die Relevanz nicht abgesprochen werden. In Verbindung mit einem nun schon längeren Aufenthalt in Österreich und dem Umstand, dass die Zweitbeschwerdeführerin seit ihrem achten Lebensjahr in Österreich lebt und hier die Schule besucht, und dass weiters familiäre Bindungen zu einer österreichischen Staatsbürgerin bestehen, kann - auch wenn dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung ein hoher Stellenwert zukommt - nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass eine Beurteilung nach § 72 NAG - ebenso wie eine nach § 11 Abs. 3 NAG, die bei der in der Bescheidbegründung angesprochenen fehlenden Erteilungsvoraussetzung des ausreichenden Unterhalts vorzunehmen wäre - zu einem Überwiegen der persönlichen Interessen der beschwerdeführenden Parteien führen kann.
Da die belangte Behörde - insbesondere ausgehend von ihrem Rechtsirrtum - relevante Feststellungen nicht getroffen hat, waren die Bescheide wegen - vorrangig wahrzunehmender - inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 6 VwGG Abstand genommen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
PAAAE-85670