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VwGH vom 14.12.2010, 2008/22/0882

VwGH vom 14.12.2010, 2008/22/0882

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der S, vertreten durch die Karasek Wietrzyk Rechtsanwälte GmbH in 1220 Wien, Wagramer Straße 19, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom , Zl. 151.134/2- III/4/07, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid vom behob die belangte Behörde den von der Beschwerdeführerin mit Berufung angefochtenen Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom gemäß § 66 Abs. 4 AVG ersatzlos.

Mit dem genannten erstinstanzlichen Bescheid war der Antrag der Beschwerdeführerin, einer Staatsangehörigen von Jamaika, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 iVm § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) abgewiesen worden.

Zur Begründung führte die belangte Behörde - wie schon die erstinstanzliche Behörde - aus, dass die am geborene Beschwerdeführerin am , noch vor der Ausfolgung des Aufenthaltstitels, die Volljährigkeit erreicht und somit gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 NAG nicht mehr zum Kreis der Familienangehörigen gezählt habe. Sie habe dadurch die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 47 Abs. 2 NAG nicht mehr erfüllt.

Die Beschwerdeführerin sei mit einem vom bis gültigen Visum eingereist. Ihr damaliger gesetzlicher Vertreter habe am einen Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" zum Zweck der Familienzusammenführung mit dem österreichischen Vater der Beschwerdeführerin gestellt.

Der erstinstanzliche Bescheid sei (nur) deswegen zu beheben, weil die erstinstanzliche Behörde es versäumt habe, die Beschwerdeführerin gemäß § 13 Abs. 3 AVG und § 23 Abs. 1 NAG über die Notwendigkeit eines anderen Aufenthaltszweckes zu belehren.

Der Verfassungsgerichtshof hat die gegen diesen Bescheid an ihn erhobene Beschwerde nach Ablehnung ihrer Behandlung mit nachträglichem Beschluss vom , B 1029/08-8, gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten, der über die ergänzte Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen hat:

Nach dem klaren Wortlaut des Bescheidspruchs hat die normative Erledigung der belangten Behörde den Inhalt, den in Berufung gezogenen Bescheid "ersatzlos" zu "beheben". Ein solcher Abspruch hat zur Folge, dass die erstinstanzliche Behörde über den Antrag der Beschwerdeführerin nicht neuerlich entscheiden darf (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2008/22/0403, mwN, sowie Hengstschläger/Leeb, AVG § 66 Rz. 108). Es bestand im vorliegenden Fall aber keine rechtliche Veranlassung zu einer ersatzlosen Behebung. Auch nach der in der Bescheidbegründung dargelegten Ansicht hätte die erstinstanzliche Behörde nach § 23 Abs. 1 NAG vorzugehen und somit dann neuerlich über den Antrag zu entscheiden (sofern dieser aufrecht gehalten wird). Bestand nun kein Grund für eine ersatzlose Behebung, ist die kassatorische Entscheidung der Rechtsmittelbehörde inhaltlich rechtswidrig (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG § 66 Rz. 110, mwN). Aus diesem Grund war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Der Gerichtshof sieht sich veranlasst, für das fortzusetzende Verfahren auf Folgendes hinzuweisen:

Gemäß § 62 AVG gilt ein Bescheid nur gegenüber jenen Parteien als erlassen, denen er mündlich verkündet oder zugestellt (ausgefolgt) wird (vgl. Hengstschläger/Leeb, § 62 Rz. 8).

Die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist im NAG im Grundsatz dahin geregelt, dass der Bundesminister für Inneres gemäß § 8 Abs. 3 NAG das Aussehen und den Inhalt der Aufenthaltstitel nach Abs. 1 durch Verordnung festlegt. Gemäß § 1 der Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung werden Aufenthaltstitel als Karte erteilt und sind nach einem festgelegten Muster auszustellen. Demnach bewirkt die Ausfolgung (tatsächliche Übergabe und Entgegennahme) des Aufenthaltstitels - im Erteilungsfall - in der Regel gleichzeitig den Akt der Zustellung und es entsteht die rechtliche Wirkung des Bescheides erst durch diesen Akt (vgl. Kutscher/Völker/Witt, Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht (2010), 35).

Im vorliegenden Fall wurde unbestritten ein Aufenthaltstitel auf die dargelegte Weise nicht erteilt. Es gibt aber auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ein Bescheid erlassen worden wäre, mit dem über den Antrag der Beschwerdeführerin abgesprochen worden wäre.

Entgegen der Beschwerdemeinung war mit der behaupteten Verständigung durch die erstinstanzliche Behörde, dass dem Antrag der Beschwerdeführerin auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung stattgegeben werden würde - den Verwaltungsakten ist allerdings eine Mitteilung mit einem derartigen Inhalt gar nicht zu entnehmen -, keine Rechtswirkung verbunden. Damit hatte schon die erstinstanzliche Behörde die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der erst dann erfolgten Bescheiderlassung anzuwenden, wobei sie von der inzwischen eingetretenen Volljährigkeit der Beschwerdeführerin auszugehen hatte. Zu Recht schloß sich die belangte Behörde dieser Rechtsansicht an.

Gemäß § 47 Abs. 2 NAG ist Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige von Zusammenführenden im Sinn des § 47 Abs. 1 NAG sind, ein Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des ersten Teiles des NAG erfüllen. Familienangehörige sind gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 NAG (in der hier maßgeblichen Stammfassung) u.a. Ehepartner und minderjährige ledige Kinder. Die Minderjährigkeit richtet sich dabei gemäß § 2 Abs. 4 Z 1 NAG nach den Bestimmungen des ABGB.

Unbestritten war die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der Zustellung des erstinstanzlichen Bescheides an ihren Vertreter am nicht mehr minderjährig. Sie beruft sich in der Beschwerde auf die Bestimmungen der §§ 51 ff NAG über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht. Dabei wird aber nicht behauptet, dass der österreichische Vater der Beschwerdeführerin sein gemeinschaftsrechtliches Recht auf Freizügigkeit ausgeübt habe. Dies wäre Voraussetzung, dass die Beschwerdeführerin als Angehörige eines sein Recht auf Freizügigkeit ausübenden Österreichers gemäß § 54 iVm § 57 NAG die Dokumentation ihres Aufenthaltsrechts begehren könnte.

Soweit die Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang gleichheitsrechtliche Bedenken anspricht, ist ihr zu entgegnen, dass der Verfassungsgerichtshof solchen in Ansehung des § 57 NAG im Erkenntnis vom , G 244/09 u.a., nicht gefolgt ist.

Demnach ist dem Beschwerdevorbringen, die belangte Behörde habe § 47 Abs. 2 NAG einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt, der Boden entzogen. Im Übrigen ist der Verfassungsgerichtshof auch Bedenken in Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit der in § 2 Abs. 4 Z 12 FPG definierten Einschränkung der Familienangehörigkeit der Kinder auf minderjährige ledige Kinder - § 2 Abs. 4 Z 11 FPG sieht hingegen in Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG eine Begrenzung bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres vor - nicht gefolgt (vgl. dessen Erkenntnis vom , G 284/09 u. a.).

Im Übrigen bestreitet die Beschwerdeführerin nicht die aus dem Ergebnis abzuleitende Ansicht der belangten Behörde, dass zur Beurteilung der Minderjährigkeit auf den Entscheidungszeitpunkt und nicht auf das Alter zur Zeit der Antragstellung abzustellen ist.

Gegen diese Ansicht hegt der Gerichtshof keine Bedenken. Während § 21 Abs. 3 Fremdengesetz 1997 idF BGBl. I Nr. 126/2002 ausdrücklich auf den Zeitpunkt der Antragstellung Bezug genommen hat, legt § 47 Abs. 2 NAG wieder (wie § 21 Abs. 3 Fremdengesetz 1997 in der Stammfassung) den Schwerpunkt auf die Sachlage bei Erteilung des Titels. Somit kann auf das hg. Erkenntnis vom , 99/19/0085, verwiesen werden, mit dem eine solche Rechtslage nicht als unsachlich gewertet wurde. Hingegen stellt das asylrechtliche Familienverfahren (§ 34 AsylG 2005) auf den Zeitpunkt der Antragstellung ab (vgl. in diesem Sinn schon das Erkenntnis eines verstärkten Senates vom , 2001/01/0429).

Diese ausdrücklich unterschiedlich gestaltete Rechtslage verbietet eine Auslegung, wonach für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 47 Abs. 2 NAG nicht die Sachlage im Zeitpunkt der Bescheiderlassung maßgeblich wäre. Zur Vermeidung eines unzulässigen Eingriffs in das Recht auf Privat- und Familienleben iSd Art. 8 EMRK stehen die Möglichkeiten der Erlangung eines Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen (§ 72 NAG in der Stammfassung bzw. § 43 Abs. 2 und § 44 Abs. 3 NAG in der geltenden Fassung) zur Verfügung.

Obwohl somit die rechtliche Beurteilung der belangten Behörde in der Sache nicht zu beanstanden ist, war wegen der von ihr ausgesprochenen ersatzlosen Behebung mit einer Aufhebung des angefochtenen Bescheides vorzugehen.

Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 6 VwGG Abstand genommen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am