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VwGH vom 12.11.2019, Ra 2019/21/0305

VwGH vom 12.11.2019, Ra 2019/21/0305

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , W154 2222477-1/12E, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: M G, im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, 1170 Wien, Wattgasse 48/3. Stock), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein georgischer Staatsangehöriger, reiste am legal mit dem Flugzeug nach Prag und begab sich anschließend per Reisebus nach Österreich. Seinen Angaben zufolge wohnte er dann in Wien in einem Hotel.

2 Der Mitbeteiligte wurde straffällig und deshalb am festgenommen und anschließend in Untersuchungshaft angehalten. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom wurde er dann wegen des Vergehens der (Beteiligung an einer) kriminellen Vereinigung gemäß § 278 Abs. 1 StGB und des Vergehens des gewerbsmäßig (und als Mitglied einer kriminellen Vereinigung unter Mitwirkung eines anderen Mitglieds dieser Vereinigung) begangenen Diebstahls nach § 127, 130 erster und zweiter Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünfzehn Monaten (davon zehn Monate bedingt nachgesehen) rechtskräftig verurteilt. Bei der Strafbemessung wurden der bisherige ordentliche Lebenswandel und das überwiegende Geständnis als mildernd gewertet, erschwerend hingegen vor allem die "Doppelqualifikation" beim Diebstahl und die Vielzahl der Tatangriffe innerhalb der Gewerbsmäßigkeit. Den unbedingten Strafteil verbüßte der Mitbeteiligte bis . 3 Nach der Entlassung aus der Strafhaft wurde der Mitbeteiligte in das Polizeianhaltezentrum Wien - Hernalser Gürtel überstellt und nach seiner Vernehmung über ihn mit Mandatsbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens über den von ihm am gestellten Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme angeordnet. 4 Der gegen den Schubhaftbescheid und gegen die darauf gegründete Anhaltung am erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom gemäß § 22a Abs. 1 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 1 FPG Folge. Es hob den Schubhaftbescheid auf und erklärte die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft seit für rechtswidrig. Des Weiteren stellte das BVwG gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 1 FPG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen. Schließlich traf das BVwG noch diesem Verfahrensergebnis entsprechende Kostenentscheidungen und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. 5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung - erwogen hat:

6 Die Amtsrevision erweist sich - wie die weiteren Ausführungen zeigen - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.

7 Nach dem im vorliegenden Fall maßgeblichen Tatbestand des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG idF des FrÄG 2018 darf Schubhaft angeordnet werden, wenn dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 FPG gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist.

8 Das BVwG ging in seinem Erkenntnis davon aus, es bestehe im vorliegenden Fall keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit iSd § 67 FPG, sodass schon deshalb der Schubhaftbescheid und die darauf gegründete Anhaltung in Schubhaft seit rechtswidrig seien und demzufolge auch deren Fortsetzung nicht zulässig sei. Das begründete das BVwG damit, dass ein Teil der Freiheitsstrafe von zehn Monaten wegen des bisherigen ordentlichen Lebenswandels und des überwiegenden Geständnisses des Mitbeteiligten bedingt nachgesehen worden sei, sich der Mitbeteiligte seit damals "nichts mehr hat zuschulden kommen lassen" und er eine schwere gesundheitliche

Beeinträchtigung (gravierende Sehbehinderung verursacht im Zuge einer Tumoroperation im Frühjahr 2019) aufweise.

9 Mit § 76 Abs. 2 Z 1 FPG in der durch das FrÄG 2018 geänderten Fassung hat sich der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis , in Rn. 16 und 17 iVm Rn. 10 unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien (ErläutRV 189 BlgNR 26. GP 18 f) näher befasst; darauf kann gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen werden. Demnach stellt sich diese Bestimmung als Umsetzung des Haftgrundes des Art. 8 Abs. 3 lit. e der Aufnahme-RL (Richtlinie 2013/33/EU) in seiner Ausprägung Erfordernis der Haft aus Gründen der öffentlichen Ordnung dar, sodass in dessen Rahmen nunmehr (auch außerhalb von durch die Z 3 des § 76 Abs. 2 FPG erfassten "Dublin-Konstellationen") Schubhaft grundsätzlich auch gegen Asylwerber mit Bleiberecht in Betracht kommt. Im Erkenntnis , hatte der Gerichtshof in Rn. 24 in diesem Zusammenhang bereits klargestellt, eine Haft, gestützt auf eine Umsetzung des Art. 8 Abs. 3 lit. e Aufnahme-RL, komme nach den Ausführungen in Rn. 67 des Urteils EuGH (Große Kammer) , J.N., C-601/15 PPU, nur in Frage, wenn das individuelle Verhalten eines Antragstellers eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dem entsprechend wird in § 76 Abs. 2 Z 1 FPG idF des FrÄG 2018 auf eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit "gemäß § 67 FPG" abgestellt, zumal diese Bestimmung (als Voraussetzung für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen den dort genannten Personenkreis) verlangt, dass auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist, wobei dieses persönliche Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Des Weiteren bestimmt § 67 Abs. 1 FPG - im Einklang mit dem damit umgesetzten Art. 27 Abs. 2 der Freizügigkeits-RL (Richtlinie 2004/38/EG; auch: Unionsbürger-RL) - , dass strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne Weiteres diese Maßnahmen begründen können und dass vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen nicht zulässig sind.

10 In Bezug auf Gefährdungsprognosen ist es ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. etwa aus der letzten Zeit , Rn. 9, mwN), dass bei deren Erstellung das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen ist, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs. 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" des Fremden abzustellen ist und strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne Weiteres die erforderliche Gefährdungsprognose begründen können.

11 Vor diesem Hintergrund wird vom BFA in der Amtsrevision bemängelt, das BVwG hätte zur Beurteilung von deren Art und Schwere und des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes des Mitbeteiligten konkrete Feststellungen zu den von ihm begangenen Straftaten und zu deren Begleitumständen vorzunehmen gehabt; außerdem habe es die "Verwerflichkeit" der vom Mitbeteiligten begangenen Straftaten unrichtig beurteilt.

12 Richtig ist, dass sich das BVwG im angefochtenen Erkenntnis - wie oben in Rn. 2 wiedergegeben - auf eine der Strafregisterauskunft folgende Beschreibung der strafgerichtlichen Verurteilung des Mitbeteiligten samt Anführung der Milderungs- und Erschwerungsgründe beschränkte und nur ergänzend erwähnte, dass es sich um "eine bestimmte Anzahl von Ladendiebstählen" gehandelt habe. Das ist nach der in Rn. 10 dargestellten Judikatur grundsätzlich nicht ausreichend, es sei denn, die zur Last liegenden Delikte würden schon für sich genommen jedenfalls und zwingend eine solche Schwere aufweisen, dass sie die hier maßgebliche Gefährdungsprognose iSd § 67 Abs. 1 FPG rechtfertigen (vgl. in diesem Sinn neuerlich , nunmehr Rn. 10, mwN).

13 Aus § 278 Abs. 2 und 3 StGB ergibt sich, dass eine kriminelle Vereinigung ein auf längere Zeit angelegter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen ist, der darauf ausgerichtet ist, dass von einem oder mehreren Mitgliedern der Vereinigung - fallbezogen in Betracht kommend - nicht nur geringfügige Diebstähle ausgeführt werden, wobei sich als Mitglied an einer kriminellen Vereinigung beteiligt, wer im Rahmen ihrer kriminellen Ausrichtung eine strafbare Handlung begeht. Dem Mitbeteiligten liegt aber nicht nur eine solche Beteiligung zur Last, sondern auch die gewerbsmäßige Begehung von

Ladendiebstählen. Das setzt nach dem fallbezogen in erster Linie in Betracht kommenden § 70 Abs. 1 Z 3 StGB voraus, dass die Taten in der Absicht ausgeführt wurden, sich durch ihre wiederkehrende Begehung längere Zeit hindurch ein nicht bloß geringfügiges fortlaufendes Einkommen zu verschaffen, und bereits zwei solche Taten begangen wurden. Nun hat das BVwG im Rahmen der Beweiswürdigung betreffend die Feststellungen zur strafgerichtlichen Verurteilung nicht nur auf die Strafregisterauskunft verwiesen, sondern sich dazu auch auf "die im Akt des BVwG einliegende (gekürzte) Urteilsausfertigung" berufen. Nach deren Inhalt hätte das BVwG berücksichtigen müssen, dass die kriminelle Vereinigung aus insgesamt fünf Personen und weiteren nicht ausforschbaren unbekannten Tätern gebildet wurde, dass in der Folge von den Vereinigungsmitgliedern im großen Stil Diebstähle (ausschließlich) von Parfüms zum Nachteil einer bestimmten Drogeriekette begangen wurden und dem Mitbeteiligten insgesamt sechs, im Zeitraum 5. bis verübte Fakten, viermal begangen unter Beteiligung eines weiteren Mitglieds der kriminellen Vereinigung, zur Last gelegt wurden. Dazu hat der Mitbeteiligte in seiner - auch im Schubhaftbescheid wörtlich wiedergegebenen - Vernehmung vor der Schubhaftverhängung angegeben, er sei straffällig geworden, weil er sein gesamtes Bargeld für das Hotel und die sonstige Finanzierung des Aufenthalts ausgegeben und kein Geld mehr gehabt habe, jedoch Drogen gebraucht und eigentlich nach Deutschland habe weiterreisen wollen.

14 Vor diesem faktischen Hintergrund erweist sich die Meinung des BVwG (vgl. Seite 8 iVm Seite 9 und 15 des angefochtenen Erkenntnisses), es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass durch den Aufenthalt des Mitbeteiligten eine Gefahr für die öffentliche Ordnung iSd § 67 Abs. 1 FPG bestehe, als rechtswidrig und es hätte daher dessen Anhaltung in Schubhaft nicht schon wegen Fehlens dieses Tatbestandselements für unzulässig erachten dürfen. Das BFA zeigt in der Amtsrevision nämlich auch zutreffend auf, dass die für diese Annahme herangezogenen Argumente des BVwG (siehe oben Rn. 8) nicht tragfähig sind. Aus der teilweisen bedingten Nachsicht der verhängten Freiheitsstrafe lässt sich schon deshalb nichts gewinnen, weil es ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist, dass das Fehlverhalten eines Fremden und die daraus abzuleitende Gefährlichkeit ausschließlich aus dem Blickwinkel des Fremdenrechts, also unabhängig von gerichtlichen Erwägungen über bedingte Strafnachsichten oder eine bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug, zu beurteilen ist (vgl. etwa , Rn. 12, mwN). Im Übrigen spricht es eigentlich gegen den Mitbeteiligten, dass das Strafgericht trotz der Milderungsgründe der bisherigen Unbescholtenheit und des Geständnisses die Strafe nicht zur Gänze bedingt nachgesehen hat. Des Weiteren ist es ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen ist, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug einer Haftstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat. Für die Annahme eines Wegfalls der aus dem bisherigen Fehlverhalten ableitbaren Gefährlichkeit eines Fremden ist somit in erster Linie das - hier beim Mitbeteiligten noch gar nicht gegebene - Verhalten in Freiheit maßgeblich (vgl. neuerlich , Rn. 12, mwN). Beide Gesichtspunkte hat das BVwG außer Acht gelassen. Dass "in Zusammenschau" mit der Sehbehinderung auf einem Auge - wie das BVwG noch unterstützend meint - von einem Wegfall der Gefährdung auszugehen wäre, hat aber nicht einmal der Mitbeteiligte in der Beschwerde behauptet. Dieses Thema wurde dort nur unter dem Gesichtspunkt der (Un-)Verhältnismäßigkeit der Schubhaft angesprochen.

15 Das angefochtene Erkenntnis ist daher mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet und war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210305.L00
Schlagworte:
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