VwGH vom 13.11.2012, 2008/22/0844
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober sowie den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des D, vertreten durch Dr. Rudolf Mayer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Universitätsstraße 8/2, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 118.533/10-III/4/08, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den im Wege der Österreichischen Botschaft Ankara gestellten Antrag des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, vom auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" zur Familienzusammenführung mit seiner österreichischen Ehegattin gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 iVm § 11 Abs. 4 Z 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer sei am illegal in Österreich eingereist und habe am einen Asylantrag gestellt; sein Asylverfahren sei am rechtskräftig in erster Instanz "negativ abgeschlossen" worden.
Der Beschwerdeführer sei mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom , rechtskräftig mit , gemäß §§ 297 Abs. 1 erster Fall (Verleumdung) und § 288 Abs. 1 StGB (falsche Beweisaussage) zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Monaten verurteilt worden; diese Strafe sei "mit verbüßt" worden. Ferner sei er mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom gemäß § 83 Abs. 1 StGB und § 84 Abs. 1 und 2 Z 1 StGB (Körperverletzung und schwere Körperverletzung, begangen am und am ) zu zehn Monaten Freiheitsstrafe, davon acht Monate bedingt, verurteilt worden; dieser Strafe sei laut erstinstanzlichem Bescheid zugrunde gelegen, dass der Beschwerdeführer im Zuge der Begehung des ersten Delikts einer Person mit einem Schlag in das Gesicht das Nasenbein gebrochen habe und im Zuge des zweiten Delikts mit einem Springmesser auf eine Person eingestochen habe.
Am habe er eine österreichische Staatsbürgerin in Wien geheiratet.
Mit Bescheid vom habe die Bundespolizeidirektion Wien gemäß § 53 Abs. 1 FPG gegen ihn eine Ausweisung erlassen; er habe dann am Österreich freiwillig verlassen.
Aufgrund der - wenn auch getilgten - strafgerichtlichen Verurteilungen und der teilbedingten Haftstrafe verneinte die belangte Behörde eine positive Zukunftsprognose; daran könne auch der Umstand, dass die Haftstrafe zum Teil bedingt nachgesehen worden sei und die Strafen "zwischenzeitig gänzlich getilgt" seien, nichts ändern. Auch seine Eheschließung habe ihn nicht von der Begehung eines weiteren Delikts abhalten können. Bei der Abwägung der privaten Interessen gegen die öffentlichen Interessen im Sinn des Art. 8 Abs. 2 EMRK gelangte die belangte Behörde zu dem Schluss, dass trotz des beträchtlichen Interesses des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet aufgrund seiner "familiären Bindungen" das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsverweigerung zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und zur Verhinderung von möglicherweise weiteren strafbaren Handlungen überwöge. Das von ihm "gesetzte Delikt", bei dem er "die verwerfliche Haltung und schädliche Neigung", vor allem im Hinblick auf seine Gewaltbereitschaft deutlich gezeigt habe, wöge für die Behörde besonders schwer.
Das Vorliegen eines Freizügigkeitssachverhalts schloss die belangte Behörde aus.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:
Der Beschwerdefall gleicht vor dem Hintergrund der Ausführungen des Gerichtshofes der Europäischen Union im Urteil (EuGH) vom , C-256/11 "Dereci u.a.", darin, dass die belangte Behörde in Verkennung der durch den EuGH nunmehr klargestellten Rechtslage nicht an Hand des unionsrechtlich vorgegebenen Maßstabes geprüft hat, ob der vorliegende Fall einen solchen Ausnahmefall, wonach es das Unionsrecht gebietet, dem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt zu gewähren, darstellt, sowie, dass sie nicht auf das Assoziationsrecht EU-Türkei Bedacht genommen hat, jenem Fall, der dem hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/22/0313, zu Grunde lag. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird sohin insoweit auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.
Auch im vorliegenden Fall wird die belangte Behörde dazu allenfalls im fortzusetzenden Verfahren nach Einräumung von Parteiengehör - diese Frage ist nicht mit der Beurteilung nach Art. 8 EMRK gleichzusetzen und war bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens - entsprechende Feststellungen zu treffen haben.
Im Beschwerdefall hat die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als Familienangehöriger seiner österreichischen Ehefrau mit Blick auf § 11 Abs. 2 Z 1 NAG iVm § 11 Abs. 4 NAG verweigert, weil der Beschwerdeführer durch seinen Aufenthalt in Österreich die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde.
Bei der Prüfung der Frage, ob die öffentliche Ordnung oder Sicherheit solchermaßen gefährdet sei, hätte die belangte Behörde - auf Grund der dem (wie aus der Aktenlage ersichtlich ist) erwerbstätigen türkischen Beschwerdeführer zu Gute kommenden Stillhalteklauseln - die unter Anwendung der günstigeren Bestimmungen des § 49 Abs. 1 iVm § 47 Abs. 2 Fremdengesetz zum Tragen kommenden unionsrechtlichen Maßstäbe heranziehen müssen (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/18/0430, mwH, auf dessen Entscheidungsgründe insoweit gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die auf den konkreten Fall abzustellende individuelle Prognosebeurteilung außerdem jeweils an Hand der Umstände des Einzelfalles vorzunehmen.
Bei der Beurteilung einer - im Falle der Erlaubnis zur Wiedereinreise und zu einem neuerlichen Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich - aktuell noch bestehenden Gefährdung hätte die belangte Behörde aber auch die weitere Entwicklung und das vom Beschwerdeführer in der Folge gezeigte Verhalten einbeziehen müssen. In diesem Zusammenhang maß die belangte Behörde dem Umstand, dass zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheids seit der Begehung der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Gewaltdelikte bereits vier bzw. fünf Jahre vergangen waren und der Beschwerdeführer danach unbescholten blieb bzw. keine weiteren Verurteilungen aktenkundig sind, kein Gewicht bei.
Ebenso wenig berücksichtigte die Behörde erkennbar, dass der Beschwerdeführer mit der freiwilligen Befolgung des mit der Ausweisung ausgesprochenen Ausreisebefehls sowie mit der dem Gesetz entsprechenden Stellung des gegenständlichen Antrags und dem Abwarten seiner Erledigung im Ausland seine Bereitschaft zum gesetzeskonformen Verhalten deutlich machte. Auch darauf weist die Beschwerde zutreffend hin. Schon dadurch ist der angefochtene Bescheid mit Rechtswidrigkeit behaftet.
Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
AAAAE-85503