VwGH vom 16.07.2020, Ra 2019/21/0247
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant und die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher sowie den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , G314 2220617-1/2E, betreffend ersatzlose Behebung eines Aufenthaltsverbotes (mitbeteiligte Partei: S V in W), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im bekämpften Umfang (Spruchpunkt B.) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1Mit Bescheid vom erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen die Mitbeteiligte, eine slowakische Staatsangehörige, gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Aufenthaltsverbot und erteilte ihr gemäß § 70 Abs. 3 FPG keinen Durchsetzungsaufschub. Gemäß § 18 Abs. 3 BFA-VG wurde einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung aberkannt.
2Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit Spruchpunkt B. des nunmehr angefochtenen Erkenntnisses vom Folge und es behob den bekämpften Bescheid des BFA ersatzlos. Den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wies es als unzulässig zurück (Spruchpunkt A.).
3Das Bundesverwaltungsgericht stellte insbesondere fest, dass die Mitbeteiligte seit Oktober 2013 durchgehend mit Hauptwohnsitz in Wien gemeldet sei. Bis Ende September 2017 und wiederum seit Ende September 2018 habe sie in einem gemeinsamen Haushalt mit ihrer volljährigen Tochter sowie deren Ehemann und Töchtern gelebt. Die Mitbeteiligte habe in der Slowakei die Schule besucht und spreche slowakisch. Drei weitere erwachsene Kinder lebten in der Slowakei. Der Mitbeteiligten sei am erstmals eine Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmerin ausgestellt worden. Von November 2013 bis Oktober 2014 sei sie geringfügig im Bundesgebiet beschäftigt gewesen und von November 2014 bis Jänner 2015 in einem vollversicherten Beschäftigungsverhältnis als Arbeiterin gestanden. Im April 2015 sei die Mitbeteiligte wiederum geringfügig beschäftigt und anschließend bis Mai 2015 und von Juni 2015 bis August 2017 zwei Jahre vollversichert erwerbstätig gewesen. Zwischen August und November 2017 habe sie zeitweilig Arbeitslosengeld bezogen. Von November 2017 bis April 2018 sei sie vollversichert erwerbstätig gewesen. Zwischen Mai und August 2018 habe sie - mit Unterbrechungen - Arbeitslosengeld bezogen und danach bis September 2018 Notstandshilfe erhalten. Zuletzt sei die Mitbeteiligte von 3. bis als Arbeiterin erwerbstätig gewesen. Danach habe sie - wieder mit Unterbrechungen - Arbeitslosengeld bezogen und ab Februar 2019 Notstandshilfe erhalten.
4Am sei die Mitbeteiligte mit einem bosnisch-herzegowinischen Staatsangehörigen eine Ehe eingegangen, ohne ein gemeinsames Familienleben führen zu wollen, wobei sie gewusst habe, dass er sich für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe berufen wolle. Die Mitbeteiligte habe mit ihrem Ehemann kein gemeinsames Familienleben geführt. Wegen des Eingehens einer Aufenthaltsehe sei sie mit Urteil des Bezirksgerichts Mödling vom wegen des Vergehens nach § 117 Abs. 1 FPG - bei einer möglichen Geldstrafe von bis zu 360 Tagessätzen - zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 4 € verurteilt worden, die am „vollzogen“ worden sei. Bei der Strafbemessung sei ihre Unbescholtenheit als mildernd gewertet worden. Besondere Erschwerungsgründe seien nicht vorgelegen. Es handle sich um die erste und bislang einzige strafgerichtliche Verurteilung der Mitbeteiligten. Ihre Ehe sei mittlerweile geschieden worden.
5Rechtlich führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Mitbeteiligte aufgrund ihres bereits über fünfjährigen rechtmäßigen und kontinuierlichen Aufenthalts im Bundesgebiet seit November 2013 das Recht auf Daueraufenthalt gemäß § 53a NAG erworben habe. Bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen sie sei daher der in § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG vorgesehene Maßstab heranzuziehen gewesen. Trotz des hohen Störwerts der von der Mitbeteiligten eingegangenen Aufenthaltsehe in Bezug auf den geordneten Vollzug fremdenrechtlicher Vorschriften stelle ihr Verhalten keine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit im Sinne des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG dar, sodass der anzuwendende Gefährdungsmaßstab nicht erfüllt sei. Dabei sei zu berücksichtigen gewesen, dass der Mitbeteiligten keine weiteren Straftaten oder Verstöße gegen die öffentliche Ordnung anzulasten seien, der Strafrahmen nur zur Hälfte ausgenützt worden sei und seit dem Eingehen der Aufenthaltsehe bereits einige Zeit verstrichen sei, in der sie sich nichts mehr zuschulden kommen habe lassen.
6Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
Über die gegen dieses Erkenntnis (Spruchpunkt B.) erhobene außerordentliche Revision des BFA hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen:
7Die Amtsrevision macht unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung geltend, dass durch das Eingehen einer Aufenthaltsehe im Sinne des § 117 FPG die öffentliche Ordnung oder Sicherheit jedenfalls derart gefährdet worden sei, dass das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht der Mitbeteiligten nicht (mehr) bestehe und sie auch kein Daueraufenthaltsrecht im Sinne des § 53a NAG erworben habe. Daher hätte das Bundesverwaltungsgericht bei der Beurteilung der Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit - wie auch das BFA in seinem Bescheid - auf den weniger strengen Gefährdungsmaßstab des § 67 Abs. 1 erster Fall FPG zurückgreifen müssen.
8Das trifft - wie im Folgenden zu zeigen sein wird - zu, weshalb sich die Revision insgesamt als zulässig und berechtigt erweist.
9Das Bundesverwaltungsgericht ging davon aus, dass die Mitbeteilige aufgrund eines bereits über fünfjährigen rechtmäßigen und kontinuierlichen Aufenthalts ein Daueraufenthaltsrecht im Sinne des § 53a NAG erworben habe, und zog daher den Gefährdungsmaßstab des § 66 Abs. 1 letzter Halbsatz FPG heran. Es berücksichtigte jedoch nicht das von der Mitbeteiligten bereits im dritten Jahr ihres Aufenthalts gesetzte strafrechtliche Fehlverhalten. Eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit im Sinne des § 55 Abs. 3 NAG durch diese Straftat wäre dem Fortbestehen des Aufenthaltsrechts gemäß § 51 Abs. 1 NAG für die Mitbeteiligte und somit auch dem Erlangen eines Daueraufenthaltsrechtes nach § 53a NAG entgegen gestanden (vgl. , Rn. 16 f).
10Von einer Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gemäß § 55 Abs. 3 NAG ist im Sinn des Art. 27 der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) dann auszugehen, wenn das persönliche Verhalten des Fremden eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. , Rn. 15). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dies (unter anderem) dann der Fall, wenn der Fremde - im Sinn des Tatbestands des § 53 Abs. 2 Z 8 FPG - eine Aufenthaltsehe geschlossen, also mit dem Ehegatten ein gemeinsames Familienleben iSd Art. 8 EMRK nicht geführt und sich trotzdem (u.a.) für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe berufen hat (vgl. , Rn. 10, mwN). Zwar stellt § 53 Abs. 2 Z 8 FPG auf den Fremden ab, dem die Ehe zu Gute kommen soll (der also nach § 117 Abs. 4 FPG als Beitragstäter zu bestrafen wäre); von einer grundsätzlich gleichartigen Gefahr ist jedoch auch im hier vorliegenden Fall einer strafgerichtlichen Verurteilung als unmittelbarer Täter aufgrund des Tatbestandes des § 117 Abs. 1 FPG auszugehen, der insbesondere voraussetzt, dass der Täter weiß oder wissen musste, dass sich der Fremde (u.a.) für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf die Aufenthaltsehe berufen will.
11Die Bejahung des genannten Gefährdungsmaßstabs wird auch durch Art. 35 der Freizügigkeitsrichtlinie gestützt, wonach die Mitgliedstaaten die Maßnahmen erlassen können, die notwendig sind, um die durch die Richtlinie verliehenen Rechte „im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug - wie z.B. durch Eingehung von Scheinehen - zu verweigern“ (vgl. zu dieser Bestimmung auch , Rn. 7; , Rn. 12). Eine diesbezügliche Differenzierung zwischen dem Unionsbürger, der das Aufenthaltsrecht rechtsmissbräuchlich vermittelt, und seinem Ehegatten, der daraus eine Aufenthaltsberechtigung im Sinne des Art. 7 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie ableiten will, ist der Richtlinie nicht zu entnehmen.
12In Anbetracht dessen wäre aufgrund des Eingehens einer Aufenthaltsehe durch die Mitbeteiligte von einer Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit im Sinne des § 55 Abs. 3 NAG auszugehen und der Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts gemäß § 53a NAG schon deshalb zu verneinen gewesen. Hingegen ist im Hinblick auf das weitere Revisionsvorbringen klarzustellen, dass die Erwerbstätigeneigenschaft im Sinne des § 51 Abs. 1 Z 1 NAG gemäß § 51 Abs. 2 Z 2 und 3 NAG unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen aufrecht bleibt, wenn sich der arbeitslos gewordene EWR-Bürger der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt, unabhängig davon, ob er Arbeitslosengeld oder nach Erschöpfung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld nur mehr Notstandshilfe bezieht.
13Da die Mitbeteiligte nach dem oben Gesagten aber wegen des Eingehens einer Aufenthaltsehe nicht das Daueraufenthaltsrecht erworben hat, hätte das Bundesverwaltungsgericht nicht den Gefährdungsmaßstab des § 66 Abs. 1 letzter Halbsatz FPG heranziehen dürfen, sondern - wie von der Amtsrevision aufgezeigt - auf eine Gefährdung im Sinne des § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG abstellen müssen, deren Vorliegen nach der dargestellten Rechtsprechung auch zu bejahen wäre, sollte sich nicht auf Grund besonderer Umstände des Falles ausnahmsweise eine positive Zukunftsprognose für die Mitbeteiligte ergeben. Nach Maßgabe dieser Gefährdungsprognose und der gemäß § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung wäre vom Bundesverwaltungsgericht die Erlassung eines Aufenthaltsverbots zu prüfen gewesen.
14Das angefochtene Erkenntnis war daher im angefochtenen Umfang (Spruchpunkt B.) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019210247.L00 |
Schlagworte: | Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 |
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