VwGH vom 19.09.2019, Ra 2019/21/0204
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Karlovits, LL.M., über die Revision des W C in W, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , W279 2220543-1/4E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein nigerianischer Staatsangehöriger, stellte im April 2015, im Jänner 2017 und im Mai 2018 erfolglos gebliebene Anträge auf internationalen Schutz, wobei gegen ihn jeweils Rückkehrentscheidungen, zuletzt auch ein mit zwei Jahren befristetes Einreiseverbot, rechtskräftig erlassen wurden. 2 Nach einem (zufälligen) Aufgriff im Rahmen einer fremdenpolizeilichen Kontrolle wurde der Revisionswerber in Vollziehung eines mittlerweile erlassenen Festnahmeauftrags am festgenommen und über ihn nach seiner Vernehmung mit Mandatsbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom selben Tag gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG Schubhaft "zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme" und "zur Sicherung der Abschiebung" verhängt.
3 Während der Schubhaft stellte der Revisionswerber am einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, zu dem am , beginnend ab 8.21 Uhr, die Erstbefragung stattfand. Demnach halte der Revisionswerber seine bisherigen Fluchtgründe aufrecht. Die Polizei in Nigeria suche ihn noch immer, weshalb sein Leben weiterhin in Gefahr sei. Außerdem möchte er seine Familie hier in Österreich nicht im Stich lassen. 4 Hierauf wurde ein - in einer dem Revisionswerber verständlichen Sprache übersetzter und ihm sodann auch ausgehändigter - Aktenvermerk verfasst, wonach das BFA im Sinne des § 76 Abs. 6 FPG davon ausgehe, der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz sei vom Revisionswerber zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt worden. Die Schubhaft werde daher gestützt auf die genannte Bestimmung aufrechterhalten. Am selben Tag wurde der Revisionswerber einer Delegation der nigerianischen Botschaft zur Vorbereitung der Ausstellung eines sogenannten Heimreisezertifikates vorgeführt.
5 Am erhob der Revisionswerber eine Schubhaftbeschwerde mit dem Antrag, die Anhaltung ab für rechtswidrig zu erklären. Dazu brachte er neben der Bestreitung von Fluchtgefahr - wie schon bei der Befragung am - vor, seine nigerianische Lebensgefährtin habe im Mai 2019 eine gemeinsame Tochter zur Welt gebracht. Ergänzend machte er geltend, der für das Kind (bezogen auf die Mutter) gestellte Antrag auf internationalen Schutz sei zugelassen worden. Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 sei daher auch das "Asylverfahren" des Revisionswerbers zuzulassen und er sei deshalb zum Aufenthalt in Österreich berechtigt. Es bestehe daher kein Grund, ihn weiter in Schubhaft anzuhalten, weshalb die Anhaltung "ab Datum Asylantragstellung" jedenfalls rechtswidrig sei.
6 Diese Beschwerde wies das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vom "gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG iVm § 22 Abs. 1 BFA-VG" als unbegründet ab und es erklärte die Anhaltung des Revisionswerbers in Schubhaft ab für rechtmäßig. Unter einem stellte das BVwG "gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 FPG" fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die maßgeblichen Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft vorlägen. Des Weiteren traf es noch diesem Verfahrensergebnis entsprechende Kostenentscheidungen und sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. 7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen hat.
8 Die Revision erweist sich - wie die weiteren Ausführungen zeigen - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig und im Ergebnis auch als berechtigt. 9 Das BFA hatte den Schubhaftbescheid noch auf § 76 Abs. 2 Z 2 FPG gestützt, während es die (in Beschwerde gezogene) weitere Anhaltung nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz ab auf das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 76 Abs. 6 FPG gründete. Demgegenüber beruhte die vom BVwG vorgenommene Beschwerdeabweisung in Bezug auf den Zeitraum vom bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses vom laut dessen Spruch auf § 76 Abs. 2 Z 1 FPG. Ob das auch für den Fortsetzungsausspruch zu gelten habe, bleibt unklar, weil insoweit im Spruch keine nähere Präzisierung der materiellen Rechtsgrundlage mit der bloß pauschalen Nennung von "§ 76 FPG" erfolgte. Diese mit "Schubhaft" überschriebene Bestimmung lautet in der seit geltenden Fassung des FrÄG 2018 (auszugsweise) wie folgt:
"§ 76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel (§ 77) erreicht werden kann. Unmündige Minderjährige dürfen nicht in Schubhaft angehalten werden.
(2) Die Schubhaft darf nur angeordnet werden, wenn
1. dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist,
2. dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach dem 8. Hauptstück oder der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder
3. die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung vorliegen.
(...)
(3) Eine Fluchtgefahr im Sinne des Abs. 2 Z 1 oder 2 oder im Sinne des Art. 2 lit. n Dublin-Verordnung liegt vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen wird oder dass der Fremde die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen,
1. ob der Fremde (...) die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert;
(...)
3. ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht;
(...)
8. ob (...) Anordnungen der Unterkunftnahme gemäß § 52a, 56, 57 oder 71 FPG, (...) verletzt wurden, insbesondere bei Vorliegen einer aktuell oder zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutzes durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme;
(...)
(6) Stellt ein Fremder während einer Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, so kann diese aufrechterhalten werden, wenn Gründe zur Annahme bestehen, dass der Antrag zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt wurde. Das Vorliegen der Voraussetzungen ist mit Aktenvermerk festzuhalten; dieser ist dem Fremden zur Kenntnis zu bringen. § 11 Abs. 8 und § 12 Abs. 1 BFA-VG gelten sinngemäß."
10 Davon ausgehend ist zunächst festzuhalten, dass der auch (der Sache nach: nur) zur Sicherung der Abschiebung erlassene Schubhaftbescheid vom zu Recht auf § 76 Abs. 2 Z 2 FPG gestützt wurde, weil damals eine durchsetzbare aufenthaltsbeende Maßnahme vorlag. Es durfte auch vom Vorliegen von Fluchtgefahr ausgegangen werden. Der Revisionswerber war nämlich seit Anfang Dezember 2018 nicht mehr aufrecht gemeldet und ohne festen Wohnsitz, was schon für sich allein genügte, um es im Sinne des § 76 Abs. 3 Z 1 FPG als gerechtfertigt anzusehen, der Revisionswerber werde sich (auch in Zukunft) der Abschiebung entziehen. Angesichts dessen kommt es - anders als der Revisionswerber meint - nicht mehr darauf an, aus welchen Gründen er einer ihm gemäß § 57 FPG im Dezember 2018 zunächst mit Mandatsbescheid erteilten und dann von ihm mit Vorstellung bekämpften Wohnsitzauflage nicht Folge leistete und ob dieser Auftrag berechtigt war oder nicht. Vor diesem Hintergrund war es mangels diesbezüglicher Sachverhaltsänderung somit im Ergebnis auch nicht rechtswidrig, dass das BVwG ebenfalls noch vom Vorliegen von Fluchtgefahr ausgegangen ist, auch wenn dessen Unterstellung, es liege (weiterhin) eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung vor, im Hinblick auf den dem Revisionswerber nach der Stellung seines Asylfolgeantrags wieder zukommenden faktischen Abschiebeschutz (vgl. § 12 Abs. 1 iVm § 12a Abs. 2 AsylG 2005) verfehlt war. Darauf wird aber noch (siehe Rn. 18) einzugehen sein.
11 In Bezug auf die Beschwerdeabweisung war es nur Aufgabe des BVwG, die ab dem vom BFA auf § 76 Abs. 6 FPG gegründete Anhaltung des Revisionswerbers in Schubhaft einer nachträglichen Kontrolle zu unterziehen (vgl. in diesem Sinn zuletzt , Rn. 9, mwN). Von daher war es von vornherein verfehlt, im Spruch des angefochtenen Erkenntnisses als materielle Rechtsgrundlage für die Beschwerdeabweisung § 76 Abs. 2 Z 1 FPG anzuführen. Diese Bestimmung verlangt als Tatbestandsvoraussetzung im Übrigen nicht nur die Annahme von Fluchtgefahr, sondern auch das Vorliegen einer vom Aufenthalt des Fremden ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemäß § 67 FPG, somit eine "tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt" (siehe zu § 76 Abs. 2 Z 1 FPG idF des FrÄG 2018 des Näheren , Rn. 16 ff). Das stand aber im vorliegenden Fall überhaupt nicht zur Debatte und offenbar deshalb findet sich im gesamten angefochtenen Erkenntnis auch kein Hinweis darauf, dass von einer solchen Gefahr beim Revisionswerber auszugehen gewesen wäre. Vielmehr wurde festgestellt, der Revisionswerber sei unbescholten. Auch das gegen ihn bestehende Einreiseverbot wurde vom BVwG nicht einmal erwähnt, bei dem aber schon aufgrund seiner kurzen Befristung nicht anzunehmen ist, ihm liege ein Verhalten des Revisionswerbers zugrunde, aus dem auf das Vorliegen des qualifizierten Gefährdungsmaßstabs nach § 67 Abs. 1 FPG hätte geschlossen werden können. Demzufolge wäre § 76 Abs. 2 Z 1 FPG - wie zur Vollständigkeit anzumerken ist - auch keine tragfähige Rechtsgrundlage für den Fortsetzungsausspruch gewesen. 12 In Wahrheit dürfte das BVwG aber ohnehin sowohl die Beschwerdeabweisung als auch den Fortsetzungsausspruch auf § 76 Abs. 6 FPG gestützt haben, weil es sich in der Begründung seines Erkenntnisses - neben den Ausführungen zur Fluchtgefahr und zur Verhältnismäßigkeit - inhaltlich nur auf diese Bestimmung bezog und dazu meinte, von einer entsprechenden Verzögerungsabsicht sei nicht nur das BFA ausgegangen, sondern auch das BVwG gehe von dieser Annahme aus. Das wird allerdings - wie schon an dieser Stelle zu bemängeln ist - nicht näher begründet und ist fallbezogen trotz des bisherigen Verhaltens des Revisionswerbers auch nicht evident. Der Revisionswerber hatte sich zwar schon vor seiner Festnahme für längere Zeit der Abschiebung entzogen und bereits drei erfolglose Anträge auf internationalen Schutz gestellt und sich dann beim vierten Antrag im Rahmen der Ersteinvernahme wieder auf die schon bisher geltend gemachten Fluchtgründe bezogen. Außerdem stellte er diesen Antrag kurz vor seiner zum Zweck der Ausstellung eines Ersatzreisedokumentes vorgenommenen Präsentation vor den nigerianischen Botschaftsangehörigen, was aus der damaligen Sicht des Revisionswerbers eine zeitnah bevorstehende Außerlandesbringung vermuten lassen musste. Jedoch hatte der Revisionswerber den in der Schubhaft gestellten Asylfolgeantrag auch damit begründet, dass er seine Familie in Österreich nicht im Stich lassen wolle. Dem kommt aus nachstehenden Gründen Relevanz zu.
13 Die Bestimmung des § 76 Abs. 6 FPG dient der Aufrechterhaltung einer schon in Vollzug befindlichen Schubhaft gegenüber einem (nunmehrigen) Asylwerber; insoweit wird Art. 8 Abs. 3 lit. d der Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahme-RL) abgebildet (, Rn. 30; vgl. auch , 00013, Rn. 20). Diese Bestimmung lautet:
"(3) Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,
(...)
d) wenn er sich aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der Richtlinie 2008/115/EG (...) in Haft befindet und der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien, einschließlich der Tatsache, dass der Antragsteller bereits Gelegenheit zum Zugang zum Asylverfahren hatte, belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass er den Antrag auf internationalen Schutz nur beantragt, um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln;" 14 Anders als die zitierte Bestimmung stellt der Wortlaut des § 76 Abs. 6 FPG nur auf die Absicht zur "Verzögerung" der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme ab; das erfasst allerdings im Sinne eines Größenschlusses ohnehin auch die beabsichtigte "Vereitelung" einer Abschiebung. Bedeutsam ist jedoch, dass im Text der nationalen Regelung - anders als in der damit umgesetzten Norm der Aufnahme-RL - nicht zum Ausdruck kommt, die beabsichtigte Verzögerung müsse der ausschließliche Grund für die Stellung des Antrags auf internationalen Schutz gewesen sein (vgl. dazu auch Arslan, C-534/11, Rn. 63, in dem in einer solchen Konstellation, wenn auch noch vor dem Hintergrund der damals geltenden Unionsrechtslage, für die Zulässigkeit der Fortsetzung der Haft verlangt wurde, dass der Antrag auf internationalen Schutz "einzig und allein" zu dem Zweck gestellt wurde, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern oder zu gefährden). Insoweit ist somit eine unionsrechtskonforme korrigierende Auslegung vorzunehmen. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich bereits zum Ausdruck gebracht, es könne kein Zweifel bestehen, dass im Anwendungsbereich der Aufnahme-RL eine an deren Regelungen zur Haft orientierte unionsrechtskonforme Auslegung des § 76 FPG Platz zu greifen habe (, Rn. 18; siehe darauf Bezug nehmend auch , 0013, allgemein in Rn. 17 und im Besonderen zur richtlinienkonformen Auslegung des § 76 Abs. 6 FPG in Rn. 21). 15 Vor diesem Hintergrund wäre bei der gebotenen Begründung für die Annahme, die weitere Anhaltung in Schubhaft sei nach § 76 Abs. 6 FPG gerechtfertigt, einzubeziehen gewesen, dass der Revisionswerber den Antrag auf internationalen Schutz den diesbezüglich angegebenen Gründen zufolge auch stellte, um bei seinen Familienangehörigen in Österreich bleiben zu können. Das wäre bei verständiger Würdigung dahin zu deuten gewesen, dass der Revisionswerber auf diesem Weg im Hinblick auf die schon in der Vernehmung am vorgetragenen geänderten Prämissen in Bezug auf sein Familienleben in Österreich eine "Revidierung" der Rückkehrentscheidung erreichen wollte. Davon ausgehend war es nicht offensichtlich, dass der Asylfolgeantrag ausschließlich und zur Gänze missbräuchlich zur Verzögerung der Abschiebung gestellt wurde, sodass das BVwG nicht ohne Weiteres und ohne diesbezügliche Begründung die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen nach § 76 Abs. 6 FPG hätte unterstellen dürfen.
16 Im Übrigen ist aber auch noch darauf einzugehen, dass der Revisionswerber in der Revision unter Wiederholung des Vorbringens in der Beschwerde der Sache nach - wie auch schon dort - vor allem die Verhältnismäßigkeit seiner weiteren Anhaltung nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz bestreitet. Dazu hielt das BVwG nur fest, die Verhältnismäßigkeit der "Schubhaftnahme" sei "nach Ansicht des erkennenden Gerichts" gegeben. In diesem Zusammenhang verweist das BVwG wiederum nur auf die Verletzung der Wohnsitzauflage und das darauffolgende Untertauchen, weshalb sich die Schubhaft als "ultima ratio" erweise und bis zur Abschiebung weiterzuführen sei. Das greift zu kurz.
17 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits klargestellt, dass bei einer Anhaltung in Schubhaft auf der Grundlage des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG die Verfahrenssicherung im Vordergrund stehe. Das sei insbesondere im Rahmen der gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu beachten, wobei auch die Frage der voraussichtlichen Dauer des Asylverfahrens bzw. eines dem Asylwerber weiterhin zukommenden "Bleiberechts" einzubeziehen sei (vgl. , Rn. 17, mwN). Das gilt sinngemäß auch für eine (weitere) Anhaltung in Schubhaft auf Basis des § 76 Abs. 6 FPG, bei der ebenfalls die Sicherung des "Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme" im Vordergrund steht und bei der - mag dies auch (anders als in § 76 Abs. 2 Z 1 und 2 FPG) nicht ausdrücklich in den Wortlaut dieser Bestimmung aufgenommen worden sein - ebenfalls eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen ist. Nach der im Verfassungsrang stehenden Bestimmung des Art. 1 Abs. 3 PersFrG ist Schubhaft nämlich (immer) nur dann gerechtfertigt, wenn der Eingriff zum Zweck der Maßnahme notwendig ist und nur soweit der Freiheitsentzug nicht zum Zweck der Maßnahme außer Verhältnis steht (vgl. dazu mit Hinweisen auf seine Vorjudikatur ua., VfSlg. 19.675, Punkte III.2.1.1. und III.2.1.2. der Entscheidungsgründe; siehe dazu auch , Punkt 3.1. der Entscheidungsgründe, und darauf Bezug nehmend Punkt 2.2.1. in ).
18 Bei dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung wäre vom BVwG, wie schon erwähnt, zu beachten gewesen, dass dem Revisionswerber infolge des von ihm (wenn auch wiederholt) gestellten Antrags auf internationalen Schutz gemäß § 12 Abs. 1 AsylG 2005 nunmehr wieder faktischer Abschiebeschutz zukam. Demzufolge konnte der Revisionswerber bis zur (neuerlichen) Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung nicht abgeschoben werden. Dieser faktische Abschiebeschutz hätte in der vorliegenden Konstellation nach innerstaatlichem Recht nur gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen vom BFA mit Bescheid aberkannt werden können. Dass ein solcher Bescheid ergangen wäre, hat das BVwG aber nicht festgestellt. Der Revisionswerber hatte demnach aufgrund des ihm zukommenden faktischen Abschiebeschutzes ein "Bleiberecht" während des Verfahrens über seinen am gestellten Antrag. Vor diesem Hintergrund hätte das BVwG der Frage nachgehen müssen, wann gegenüber dem Revisionswerber mit der Erlassung einer durchsetzbaren und auch durchführbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme voraussichtlich zu rechnen sei. Dabei wäre einzubeziehen gewesen, dass mit der Geburt seiner Tochter im Mai 2019 nicht von vornherein unmaßgebliche Änderungen in Bezug auf sein in Österreich bestehendes Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK eingetreten sind. Abhängig von diesem Ergebnis wäre dann unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit die Zulässigkeit der weiteren Anhaltung des Revisionswerbers nach der Stellung seines Antrags auf internationalen Schutz ab zu beurteilen gewesen. Dabei wäre im Übrigen auch der - vom BVwG völlig außer Acht gelassene - Umstand einzubeziehen gewesen, dass die Botschaftsdelegation Nigerias nach dem im Akt befindlichen Vermerk am zwar die nigerianische Staatsangehörigkeit des Revisionswerbers bestätigte, jedoch für weitere Schritte den Ausgang des anhängigen Verfahrens über seinen Asylfolgeantrag abwarten wolle.
19 Aus all diesen Gründen war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
20 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 und 6 VwGG abgesehen werden.
21 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210204.L00 |
Schlagworte: | Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Beachtung einer Änderung der Rechtslage sowie neuer Tatsachen und Beweise |
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