VwGH vom 29.06.2020, Ra 2019/21/0201
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant und den Hofrat Dr. Sulzbacher als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des R A in S, vertreten durch Mag. Alexander Enzenhofer, Rechtsanwalt in 3100 St. Pölten, Wiener Straße 3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W147 1318420-4/15E, betreffend Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1Der 1998 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts im angefochtenen Erkenntnis im Jahr 2007 in Österreich ein und stellte durch seine Mutter als gesetzliche Vertreterin einen Antrag auf internationalen Schutz. Der ihm zunächst zuerkannte subsidiäre Schutz wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom , bestätigt mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom , wieder aberkannt.
2Am reiste der Revisionswerber mit seinen Eltern und seiner Schwester von Deutschland kommend (abermals) in das Bundesgebiet ein und stellte am einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. Der Antrag wurde vollumfänglich abgewiesen, mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom wurde aber schließlich festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig sei.
3Am wurde dem Revisionswerber von der zuständigen Bezirkshauptmannschaft ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ erteilt.
4Der Revisionswerber war straffällig geworden. Mit Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom wurde er wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Es folgte eine Verurteilung durch das Landesgericht St. Pölten vom wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB, des Vergehens des Einbruchsdiebstahls (teils als Beteiligter) nach § 127 und 129 Abs. 1 Z 1 StGB, des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB und des Vergehens der dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs. 1 StGB zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Schließlich wurde der Revisionswerber mit Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom wegen des Vergehens des Einbruchsdiebstahls nach § 127 und 129 Abs. 1 Z 1 StGB und des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs. 1 und 2 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
5Mit Bescheid vom erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber (der einen rechtzeitigen Antrag auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels gestellt hatte) gemäß § 52 Abs. 4 FPG eine Rückkehrentscheidung samt Feststellung gemäß § 52 Abs. 9 FPG, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und gemäß § 53 Abs. 1 und 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot.
6Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit der Maßgabe abgewiesen, dass die Dauer des Einreiseverbots auf fünf Jahre herabgesetzt werde.
7Das Bundesverwaltungsgericht begründete die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung und des Einreiseverbots mit den strafgerichtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers. Aus seiner Vorgangsweise, nämlich dem Einbruch in Geschäftslokale in mehreren Angriffen, um sich eine regelmäßige Einnahmequelle durch Diebstahl zu verschaffen, und ohne vor der Anwendung von Gewalt zurückzuschrecken, resultiere eine schwerwiegende Gefährdung des großen öffentlichen Interesses an der Verhinderung von Gewalt- und Eigentumskriminalität. Auch wenn der Revisionswerber noch sehr jung sei, die Straftaten in einem Alter von unter 21 Jahren begangen habe und unter einer kognitiven Einschränkung leide, sei aufgrund seiner hohen kriminellen Energie, seiner Persönlichkeitsstörung, des raschen Rückfalls und der Tatsache, dass weder seine familiären Bindungen noch das erlittene Haftübel Rückfälle verhindert hätten, weiterhin von einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch den Revisionswerber auszugehen.
8Im Hinblick auf seine in Österreich lebende Familie (Eltern und Schwester mit zwei Kindern) sei mit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme ein erheblicher Eingriff in sein Privat- und Familienleben verbunden. Es sei jedoch zu berücksichtigen, dass die familiären und privaten Bindungen des Revisionswerbers ihn nicht von der Begehung mehrerer Straftaten abgehalten hätten. Gerade weil im letzten Strafurteil fünf Erschwernisgründe (zwei einschlägige Vorstrafen, rascher Rückfall, Tatbegehung während offener Probezeit, Zusammentreffen von einem Verbrechen mit einem Vergehen) nur drei Milderungsgründen (Geständnis, teilweises Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 31 und 40 StGB in Bezug auf das Vorurteil, teilweise Schadensgutmachung) gegenübergestanden seien, könne unter Abwägung aller Gesamtumstände und angesichts der Schwere der näheren Tatumstände keine günstige Verhaltensprognose gestellt werden. Ungeachtet der dargestellten familiären und privaten Interessen des Revisionswerbers sei daher von einem Überwiegen der überaus gravierenden öffentlichen Interessen an der Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbots auszugehen. Es sei auch zu berücksichtigen, dass der Revisionswerber in Österreich keine familienähnliche Beziehung mit einer Lebensgefährtin führe und keine Kinder habe. Er habe vor seiner Inhaftierung mit seinen Eltern in einem gemeinsamen Haushalt gelebt, ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis sei aber nicht dargetan worden. Da es sich bei seinen Familienangehörigen um Staatsangehörige der Russischen Föderation handle, könne auch nicht erkannt werden, dass einer Fortsetzung des Familienlebens im Herkunftsstaat unüberwindbare Hindernisse entgegenstünden.
9Der Revisionswerber sei im Kindesalter nach Österreich gekommen und habe „die Grundschule (Hauptschule und ein Polytechnikum)“ besucht. Einen Lehrberuf habe er nicht erlernt, und es sei ihm nicht gelungen, länger als 45 Tage bei einer Firma beschäftigt zu sein. Er verfüge über sehr gute Deutschkenntnisse. Demgegenüber könne aber auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Revisionswerber, der im Herkunftsland aufgewachsen sei und dort ein Jahr die Schule besucht habe sowie über entsprechende Russisch- und Tschetschenischkenntnisse verfüge, nach etwa elf Jahren Abwesenheit den Bezug zum Herkunftsland vollkommen verloren hätte. Es sei nicht wahrscheinlich, dass sich der arbeitsfähige, volljährige Revisionswerber, der über gute Sprachkenntnisse in Russisch, Tschetschenisch und Deutsch sowie über ein wenig Arbeitserfahrung verfüge, sich im Herkunftsland keine Existenz werde aufbauen können.
10Es könne im Ergebnis auch unter Berücksichtigung des langjährigen Aufenthalts nicht festgestellt werden, dass dem subjektiven Interesse des Revisionswerbers am Verbleib im Inland der Vorzug gegenüber dem maßgeblichen öffentlichen Interesse an der Verhinderung von strafbaren Handlungen zu geben sei.
11In Bezug auf den Ausspruch nach § 52 Abs. 9 FPG führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass der Revisionswerber eine Verfolgung im Sinn des § 50 Abs. 2 FPG niemals vorgebracht habe. Als Zivilperson wäre er in der Russischen Föderation keiner Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt. Es wäre ihm im Fall seiner Rückkehr auch nicht die notwendigste Lebensgrundlage entzogen. Auf die Frage nach seinem Gesundheitszustand habe der Revisionswerber in der Beschwerdeverhandlung angegeben, dass er den vorgelegten Befund betreffend seine kognitiven Fähigkeiten kenne, es für ihn aber keine Auswirkungen diesbezüglich gebe.
12Die Herabsetzung des Einreiseverbots auf fünf Jahre begründete das Bundesverwaltungsgericht insbesondere mit den familiären Bindungen des Revisionswerbers in Österreich und dem Beginn einer Therapie während der Haft.
13Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die nach Ablehnung der Behandlung und Abtretung der Verfassungsgerichtshofsbeschwerde () ausgeführte Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
14Der Revisionswerber erblickt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG darin, dass das Bundesverwaltungsgericht die „Beweiswürdigung“ in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Weise vorgenommen habe. In diesem Zusammenhang bezieht er sich im Wesentlichen auf seine kognitive Beeinträchtigung, der das Bundesverwaltungsgericht keine ausreichende Bedeutung zugemessen habe. Es müsse angenommen werden, dass der Revisionswerber im Fall seiner Abschiebung nach Russland mit herausfordernden Situationen konfrontiert würde, zu deren Bewältigung ihm die erforderlichen Kompetenzen fehlen würden, zumal er keine Russischkenntnisse im Lesen und Schreiben habe. In Österreich verfüge er demgegenüber über ein stark stützendes familiäres Netz. Für die Beurteilung der Schwere der Beeinträchtigung des Revisionswerbers und deren Auswirkungen im Fall seiner Rückkehr hätte es zumindest einer Befragung der medizinischen Experten bzw. eines psychologischen Gutachtens bedurft.
15Mit diesem Vorbringen ist der Revisionswerber im Recht: Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar auf seine kognitive Beeinträchtigung Bedacht genommen, indem es sie einerseits im Sinne eines mildernden Umstands und andererseits als die objektiv vom Revisionswerber ausgehende Gefährdung erhöhend gewürdigt hat. Allerdings hat sich das Bundesverwaltungsgericht nicht damit auseinandergesetzt, wie sich die Intelligenzminderung des Revisionswerbers - laut vorgelegten psychologischen Befunden verfügt er über einen IQ von nur 61 (was dem Intelligenzalter eines neun- bis zwölfjährigen Kindes entspricht) - in Verbindung mit bloß mündlichen Russischkenntnissen (worauf schon in der Beschwerde hingewiesen wurde) auf seine Rückkehrsituation auswirkt. Insbesondere greift die Aussage, es sei nicht wahrscheinlich, dass sich der arbeitsfähige, volljährige Revisionswerber, der über gute Sprachkenntnisse in Russisch, Tschetschenisch und Deutsch sowie über „ein wenig Arbeitserfahrung“ verfüge, im Herkunftsland keine Existenz werde aufbauen können, zu kurz. Vielmehr hätte es - allenfalls unter Beiziehung eines psychologischen Sachverständigen - näherer Feststellungen einerseits zu den tatsächlichen Fähigkeiten des Revisionswerbers und andererseits zum allfälligen Vorhandensein eines - sei es staatlichen, sei es privaten - sozialen Netzes zur Unterstützung bei der Existenzsicherung im Herkunftsland bedurft. Erst auf Basis solcher Feststellungen wäre eine verlässliche Beurteilung möglich, ob nicht - trotz seiner Straffälligkeit - doch den persönlichen Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich der Vorrang einzuräumen ist.
16Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
17Die Kostenentscheidung gründet sich auf die § 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil die Umsatzsteuer in den Pauschalbeträgen nach der genannten Verordnung bereits enthalten ist.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019210201.L00 |
Schlagworte: | Besondere Rechtsgebiete Parteiengehör |
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