VwGH vom 22.08.2019, Ra 2019/21/0128

VwGH vom 22.08.2019, Ra 2019/21/0128

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des B G in T, vertreten durch Dr. Manfred Fuchsbichler, Rechtsanwalt in 4600 Wels, Traunaustraße 23/8/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , L504 21208038- 1/26E, betreffend insbesondere Abweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 und Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt befristetem Einreiseverbot (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der 1975 in Linz geborene Revisionswerber ist türkischer Staatsangehöriger und in Österreich aufgewachsen. Gegen ihn wurde im März 1995 ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen, das im Jänner 2003 (antragsgemäß) wieder aufgehoben wurde. Hierauf kehrte der Revisionswerber Anfang August 2003 nach Österreich zurück, wo er sich in der Folge rechtmäßig aufhielt. Ihm wurden nämlich Aufenthaltstitel erteilt, und zwar zuletzt eine bis gültige Niederlassungsbewilligung. Ein diesbezüglicher Verlängerungsantrag wurde nicht mehr gestellt. 2 In der Folge heiratete der in Österreich verbliebene Revisionswerber am eine - 1974 in der Türkei geborene und dort aufgewachsene - österreichische Staatsbürgerin. Die Ehefrau war 1992 im Zusammenhang mit ihrer ersten Ehe nach Österreich gekommen und hatte im April 2003 die österreichische Staatsbürgerschaft erworben. Der im Jahr 2011 begonnenen Beziehung mit dem Revisionswerber entstammen zwei minderjährige Kinder, die am und am geboren wurden und ebenfalls die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Alle leben im gemeinsamen Haushalt. Der Revisionswerber verfügt für den Fall der Erteilung eines Aufenthaltstitels über eine Arbeitsplatzzusage.

3 Am stellte der Revisionswerber den Antrag, ihm einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens zu erteilen.

4 Diesen Antrag wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom ab. Unter einem wurde gegen den Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen und damit gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein mit drei Jahren befristetes Einreiseverbot verbunden. Des Weiteren stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei zulässig sei.

5 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), nachdem es am eine mündliche Verhandlung durchgeführt hatte, mit dem angefochtenen Erkenntnis vom als unbegründet ab, und zwar in Bezug auf das Einreisverbot mit der Maßgabe, dass es auf § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 2 und 3 FPG gestützt werde. Es sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende - nach Ablehnung der Behandlung und Abtretung der an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde (Beschlüsse vom und vom zu E 1/2019) fristgerecht eingebrachte - außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

7 Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - wie sich aus den weiteren Ausführungen ergibt - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig; sie ist auch berechtigt. 8 Der Revisionswerber beantragte die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005. Diese Bestimmung lautet in der (vom BVwG schon anzuwendenden) seit geltenden Fassung des FrÄG 2018 samt Überschrift:

"Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK

§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine ‚Aufenthaltsberechtigung plus' zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine ‚Aufenthaltsberechtigung' zu erteilen."

9 Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung zuletzt etwa , Rn 9, mwN).

10 Bei dieser Interessenabwägung legte das BVwG zugrunde, in Anbetracht der persönlichen Umstände der Ehefrau - sie sei in der Türkei aufgewachsen und sozialisiert worden, sie verfüge dort noch über Familienangehörige und Verwandte und sie spreche auch Türkisch - scheine es nicht unmöglich oder unzumutbar, dass sie mit dem Revisionswerber "mitreisen" könnte, sofern sie dazu gewillt wäre. Auch hinsichtlich der minderjährigen Kinder erscheine dies nicht unmöglich oder unzumutbar, zumal sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befänden, die türkische Sprache erlernten und die Eltern die maßgeblichen sozialen Kontakte darstellten.

11 Die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts haben bereits wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht (siehe dazu die Nachweise in , Rn. 16). Dem wurde das BVwG - wie in der Revision im Ergebnis zu Recht gerügt wird - nicht gerecht. Trotz des anpassungsfähigen Alters der Kinder wäre nämlich zu berücksichtigen gewesen, dass sie nicht nur in Österreich geboren wurden, sondern vor allem die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Im Übrigen geht es nicht um ein bloßes "Mitreisen" der Ehefrau und Kinder mit dem Revisionswerber, sondern um eine Wohnsitzverlegung der gesamten Familie, was in der Regel einerseits mit der Aufgabe der bisherigen Wohnung und der Berufstätigkeit in Österreich sowie dem Verlust der sozialen Anknüpfungspunkte und andererseits mit der Neugründung eines Haushalts und Suche nach einer Beschäftigung in der Türkei sowie in Bezug auf das ältere Kind dem Beginn eines Schulbesuchs in einem fremden Land verbunden wäre. Wie sich das im vorliegenden Fall konkret gestalten würde und welche "beachtlichen Auswirkungen" - so das BVwG nur generalisierend - im Einzelnen damit verbunden wären, hat das BVwG unerörtert gelassen, obwohl sich dafür die abgehaltene mündliche Verhandlung angeboten hätte. Da es im Übrigen auch nicht aufzeigte, in welcher Form dem Revisionswerber gemeinsam mit seinen Angehörigen eine legale Rückkehr und neuerliche Wohnsitznahme in Österreich nach Ablauf der Befristung des Einreiseverbotes möglich wäre, hätte überdies in Betracht gezogen werden müssen, dass die für zumutbar erachtete Ausreise der gesamten Familie in die Türkei voraussichtlich auf Dauer werde erfolgen müssen. Das wäre den österreichischen Kindern, die grundsätzlich einen Anspruch auf ein gemeinsames Familienleben mit beiden Elternteilen haben, nicht zumutbar. Das gilt aber auch für die Ehefrau des Revisionswerbers, die sich seit etwa 27 Jahren rechtmäßig in Österreich aufhält und seit mehr als 15 Jahren die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt. 12 Das BVwG bedachte aber - im Hinblick auf die Äußerung der Ehefrau des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung, nicht mit ihrem Ehemann in die Türkei übersiedeln zu wollen - auch den Fall der Trennung der Angehörigen und es meinte, dann könne der Kontakt im Wege moderner Medien, wie etwa Skype, aufrecht erhalten werden. Dabei lässt das BVwG jedoch außer Acht, dass die Aufrechterhaltung des Kontaktes mittels moderner Kommunikationsmittel mit einem Kleinkind, wie dem jüngeren Kind des Revisionswerbers, kaum möglich ist und dem Vater eines Kindes (und umgekehrt) grundsätzlich das Recht auf persönlichen Kontakt zukommt (so schon , mwN; vgl. etwa auch ).

13 In diesem Zusammenhang ist aber auch noch darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof in seiner rezenten Judikatur eine Trennung von einem österreichischen oder in Österreich dauerhaft niedergelassenen Ehepartner im Ergebnis nur dann für gerechtfertigt erachtete, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie insbesondere bei Straffälligkeit des Fremden (vgl. etwa , Rn. 12, mit dem Hinweis auf , Rn. 13 f, mwN). Nun ging aber das BVwG selbst davon aus, dass aus den vom Revisionswerber im Zeitraum 2004 bis 2009 begangenen Straftaten (Delikte gegen die körperliche Integrität und einmal auch gegen fremdes Vermögen), die zu einer bedingt nachgesehenen Geldstrafe und einer bedingt nachgesehenen Zusatz-Freiheitsstrafe von zwei Monaten sowie zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von fünf Monaten samt einer unbedingten Geldstrafe und zuletzt zu einer Geldstrafe geführt hatten, wegen des seither in dieser Hinsicht gegebenen Wohlverhaltens keine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinne des § 53 Abs. 3 FPG mehr abzuleiten sei. Das BVwG stützte das Einreiseverbot - anders als das BFA, das noch das Vorliegen einer solchen Gefährdung unterstellt hatte - daher nicht auf § 53 Abs. 3 FPG, sondern auf § 53 Abs. 2 FPG. Es ging dabei vom Vorliegen einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit im Sinne der zuletzt genannten Bestimmung wegen Verwirklichung des Tatbestandes der Z 2 erste Alternative ("wenn der Drittstaatsangehörige wegen einer Verwaltungsübertretung mit einer Geldstrafe von mindestens 1.000,- EUR rechtskräftig bestraft wurde") und des Tatbestandes der Z 3 erste Alternative ("wegen einer Übertretung dieses Bundesgesetzes bestraft worden ist") aus. Diesbezüglich stellte das BVwG fest, über den Revisionswerber sei von der Bezirkshauptmannschaft Linz-Land am "wegen einer Verwaltungsübertretung" rechtskräftig eine Geldstrafe in der Höhe von 1.480,- EUR und mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Wels-Land vom wegen nicht rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß § 120 Abs. 1a FPG rechtskräftig eine Geldstrafe in der Höhe von 600,- EUR verhängt worden. Abgesehen davon, dass zur erstgenannten Bestrafung sonst keine näheren Feststellungen getroffen wurden und sich seit der zweitgenannten Bestrafung die maßgeblichen familiären Verhältnisses des Revisionswerbers grundlegend geändert haben, liegen diese Verwaltungsübertretungen schon so lange zurück, dass sich daraus für sich genommen keine derart große Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ableiten lässt, dass der Revisionswerber und seine Familienangehörigen eine - wenn auch nur vorübergehende - Trennung in Kauf nehmen müssten. Dabei wäre auch angemessen zu berücksichtigen gewesen, dass sich der 43-jährige Revisionswerber nunmehr insgesamt 35 Jahre in Österreich aufhält.

14 Nun hat das BVwG zwar noch zahlreiche (insgesamt 20) andere im Zeitraum Februar 2014 bis Juni 2017 vom Revisionswerber begangene "Verwaltungsübertretungen nach dem KFG und der StVO" ins Treffen geführt und sie teilweise nach dem Inhalt der übertretenen Normen auch beschrieben. Weitere nähere Angaben enthält das angefochtene Erkenntnis dazu nicht. Da das BVwG aber nicht auch von der Verwirklichung des Tatbestandes der Z 1 des § 53 Abs. 2 FPG ausgegangen ist, dürfte es sich somit jedenfalls nicht um die dort angeführten (schwerwiegenderen) Delikte nach der StVO handeln (vgl. dazu , Rn. 9). Die vorgeworfenen Verwaltungsübertretungen weisen demnach nicht schon für sich genommen eine solche Schwere auf, dass sie die Gefährdungsannahme des § 53 Abs. 2 FPG ohne weiteres indizieren würden (siehe zu diesem Gesichtspunkt , Rn. 10). Schon deshalb hätte es dazu näherer Feststellungen bedurft, um die daraus ableitbare aktuelle Gefährdung und die Frage der Rechtfertigung des mit den aufenthaltsbeendenden Maßnahmen verbundenen besonders gravierenden Eingriffs in das Privat- und Familienleben des Revisionswerbers und seiner Angehörigen beurteilen zu können.

15 Aus all diesen Gründen war das angefochtene Erkenntnis somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

16 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die § 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

17 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210128.L00
Schlagworte:
Besondere Rechtsgebiete

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