VwGH vom 24.10.2019, Ra 2019/21/0127
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des A K J, vertreten durch Mag. Thomas Pfaller, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Neubaugasse 12- 14/19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. G307 2212246-1/8E, betreffend Aufenthaltsverbot (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein polnischer Staatsangehöriger, ist seit August 2012 in Österreich aufhältig und verfügt seit dem über eine Anmeldebescheinigung. Er stand nahezu durchgehend in Beschäftigungsverhältnissen.
2 Mit Urteil vom wurde er nach dem SMG zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Er wurde für schuldig befunden, vorschriftswidrig Suchtgift in einer die Grenzmenge übersteigenden Menge anderen überlassen zu haben, indem er in der Zeit von Februar 2018 bis Juli 2018 insgesamt etwa 2.500 Gramm Cannabiskraut verkauft habe, und Cannabiskraut und Kokain seit einem nicht mehr festzustellenden Zeitraum im Jahr 2017 bis zumindest in wiederholten Angriffen erworben und besessen zu haben. 3 Im Hinblick auf diese Verurteilung erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber mit Bescheid vom gemäß § 67 FPG ein mit sieben Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.
4 Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis insoweit statt, als die Dauer des Aufenthaltsverbots auf drei Jahre herabgesetzt wurde; im Übrigen wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
5 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass für den Revisionswerber als Unionsbürger, der seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig in Österreich aufhältig sei, der Gefährdungsmaßstab des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG zur Anwendung komme. Es müsse also auf Grund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit schwerwiegend gefährdet sein.
6 Das Verhalten des Revisionswerbers weise nicht nur auf eine "hohe Bereitschaft der Negierung österreichischer Gesetze und gesellschaftlicher Regeln" hin, sondern auch auf seine "Bereitwilligkeit, sich durch seine Taten, allfällig geförderte - notorisch bekannte - körperliche und seelische Folgen der Drogenkonsumenten in Kauf nehmend, finanziell bereichern zu wollen". Dies lasse auf eine "hohe kriminelle Energie sowie eine beachtliche Herabsetzung der inneren Hemmschwelle" des Revisionswerbers schließen. Er habe die mit seinen Taten verbundene Verletzung öffentlicher Normen, die Förderung der Beschaffungskriminalität sowie "Abhängigkeit und gesundheitlichen Leiden unzähliger Konsumenten, sohin die potentielle Gefährdung der Volksgesundheit" durch die Verbreitung von Rauschgiften in Kauf genommen. Erschwerend komme hinzu, dass der Revisionswerber sein strafrechtswidriges Verhalten über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechterhalten habe und selbst durch ein geregeltes Einkommen im Tatzeitraum nicht davor zurückgeschreckt sei, große Mengen von Suchtgift zu veräußern. Dazu komme noch eine Verwaltungsstrafe wegen des Lenkens eines Kraftfahrzeugs ohne gültige Lenkberechtigung (nachdem ihm seine Lenkberechtigung mit Bescheid vom mangels Verkehrszuverlässigkeit für acht Monate entzogen worden war).
7 Wenn der Revisionswerber sich auch im Strafverfahren geständig gezeigt und an der Wahrheitsfindung wesentlich mitgewirkt habe, so könne "eingedenk der wiederholten
Rechtsverletzungen ... in diesem Faktum allein keinesfalls ein
nachhaltiger Wille auf Achtung gültiger Normen" erkannt werden. Auch in dem Umstand, dass der Revisionswerber aktuell wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehe, könne kein hinreichender Grund dafür gesehen werden, dass er nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung treten werde.
8 Unter Berücksichtigung der der Suchtmittelkriminalität immanenten Rückfallgefährlichkeit könne für den Revisionswerber keine positive Zukunftsprognose gestellt werden. So habe zur Frage der Gefährdung öffentlicher Interessen im Fall von Suchtmitteldelikten der Verwaltungsgerichtshof Stellung bezogen und eine diesbezügliche maßgebliche Gefährdung auch nach "gemeinschaftsrechtlichen Maßstäben" attestiert (Hinweis ).
9 Auch die im Licht des § 9 BFA-VG gebotene Abwägung der privaten und familiären Interessen des Revisionswerbers mit den entgegenstehenden öffentlichen Interessen habe eine Abstandnahme von der Erlassung des "Einreiseverbots" nicht rechtfertigen können. Wenn der Revisionswerber auch über soziale Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet verfüge und auf einen rund sechseinhalbjährigen Aufenthalt, Deutschkenntnisse und unselbständige Erwerbstätigkeiten im Bundesgebiet zurückblicken könne, habe er weder einen gemeinsamen Haushalt mit seiner Freundin und engen Kontakt zu seiner Großmutter noch sonstige besondere Integrationsbemühungen nachzuweisen vermocht. Es zeige nicht nur das straf- und verwaltungsstrafrechtlich relevante Verhalten des Revisionswerbers, sondern auch seine anfängliche Weigerung, am Verfahren vor dem BFA mitzuwirken (er habe trotz Aufforderung keine Stellungnahme abgegeben), dass er "im Grund kein bzw. ein massiv geschmälertes Interesse an einer Integration in die österreichische Gesellschaft" hege.
10 Angesichts des in seiner Gesamtheit gravierenden Fehlverhaltens des Revisionswerbers sei davon auszugehen, dass das erlassene Aufenthaltsverbot gemäß § 9 BFA-VG zulässig sei. 11 Das Aufenthaltsverbot erweise sich als erforderlich, um der vom Revisionswerber ausgehenden Gefährlichkeit zu begegnen. Jedoch erweise sich die vom BFA gewählte Dauer des Aufenthaltsverbots als überzogen. Gemessen am Deliktszeitraum, den Suchtmittelmengen sowie den wiederholten Rechtsverletzungen könne allerdings nicht von einer einmaligen Straftat des Revisionswerbers gesprochen werden, weshalb sich eine Unterschreitung der Aufenthaltsverbotsdauer von drei Jahren nicht rechtfertigen ließe. 12 Von der beantragten mündlichen Verhandlung sah das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG ab, weil die Entscheidung angesichts des vom BFA bereits in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhobenen Sachverhalts auf Grund der Aktenlage getroffen werden könne.
13 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:
14 Der Revisionswerber wendet sich unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG gegen die Gefährdungsprognose des Bundesverwaltungsgerichts. Das Bundesverwaltungsgericht habe nicht ausreichend berücksichtigt, dass ihm nicht der Handel mit harten Drogen, sondern mit Cannabiskraut angelastet worden sei. 15 Mit diesem Vorbringen ist der Revisionswerber im Ergebnis im Recht, weshalb sich die Revision als zulässig und berechtigt erweist.
16 Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar zunächst richtig erkannt, dass auf den Revisionswerber, der bereits das unionsrechtliche Daueraufenthaltsrecht erworben hatte, der Gefährdungsmaßstab des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG anzuwenden war (vgl. grundlegend , Punkt 3. der Entscheidungsgründe). Demnach war ihm gegenüber eine Aufenthaltsbeendigung nur unter der Voraussetzung zulässig, dass sein Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellte.
17 In der weiteren Begründung des Bundesverwaltungsgerichts findet sich aber keine Bezugnahme auf diesen - im Vergleich zu § 67 Abs. 1 Satz 1 und 2 FPG erhöhten - Gefährdungsmaßstab. Die Bejahung einer entsprechenden Gefährdung ist auch nicht ohne weiteres durch die Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts gedeckt.
18 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem bereits zitierten Erkenntnis , auf das , Panagiotis Tsakouridis, hingewiesen, in dem der EuGH ausgesprochen hatte, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck "schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit" im Sinn der Unionsbürgerrichtlinie fällt; dieser Gefährdungsmaßstab entspricht jenem des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG. Dem Revisionswerber wurde aber nicht der bandenmäßige Handel mit Betäubungsmitteln - woraus sich demnach jedenfalls eine Gefährdung im Sinn des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG ergäbe - angelastet. Außerdem hat sich der Handel ausschließlich auf Cannabiskraut bezogen; hinsichtlich Kokain wurde der Revisionswerber nur wegen des unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln nach § 27 Abs. 1 Z 1 1. und 2. Fall SMG verurteilt. Das spiegelt sich auch darin wider, dass die verhängte Freiheitsstrafe zur Gänze bedingt nachgesehen wurde (vgl. zur Maßgeblichkeit der verhängten Strafe bei der Anwendung der Unionsbürgerrichtlinie abermals das Urteil in der Rechtssache C- 145/09, Rn 50, und darauf Bezug nehmend ). Zudem handelte es sich um eine zwar noch nicht lange zurückliegende, aber erstmalige strafgerichtliche Verurteilung; auch in Verbindung mit der verwaltungsrechtlichen Bestrafung nach dem FSG wegen des Lenkens eines Kraftfahrzeugs ohne gültige Lenkberechtigung konnte sie nicht ohne weiteres die Annahme einer den Maßstab des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG erfüllenden Gefährdung rechtfertigen.
19 Dazu hätte sich das Bundesverwaltungsgericht in der ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschaffen müssen. § 21 Abs. 7 BFA-VG erlaubt zwar das Unterbleiben einer Verhandlung trotz deren ausdrücklicher Beantragung, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang aber auch wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Gewinnung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die (allenfalls erforderliche) Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. In eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann allerdings eine Verhandlung unterbleiben (vgl. , Rn 21, mwN). Von einem solchen eindeutigen Fall konnte hier im Hinblick auf den anzuwendenden erhöhten Gefährdungsmaßstab, aber auch vor dem Hintergrund der nachhaltigen, auch durch die strafgerichtliche Verurteilung nicht beendeten beruflichen Integration des Revisionswerbers keine Rede sein.
20 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
21 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210127.L00 |
Schlagworte: | Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 |
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