VwGH vom 22.08.2019, Ra 2019/21/0091
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des M K in W, vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , G307 2187492-1/14E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein 1982 geborener polnischer Staatsangehöriger, lebt seit Mai 2007 in Österreich, wo er - wenn auch nicht durchgehend - unselbständig und selbständig erwerbstätig war. Für die Zeit nach seiner Haftentlassung besteht eine mit datierte Einstellungszusage eines Bauunternehmens.
Im Zeitraum Dezember 2015 bis Juni 2017 absolvierte der Revisionswerber zunächst eine dreimonatige stationäre und dann eine ambulante Alkoholentzugstherapie. Zwischen dem Revisionswerber und einer in Österreich wohnhaften polnischen Staatsangehörigen besteht seit dem Jahr 2016 eine Beziehung; sie wohnten bisher insgesamt etwa fünf Monate zusammen. In Polen leben noch die Mutter und der Bruder des Revisionswerbers. 2 Im Hinblick auf strafgerichtliche Verurteilungen des Revisionswerbers erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom gegen den Revisionswerber gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), nachdem es am eine mündliche Verhandlung durchgeführt hatte, mit dem angefochtenen Erkenntnis vom als unbegründet ab. Es sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen hat:
5 Die Revision erweist sich - wie sich aus den weiteren Ausführungen ergibt - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG wegen dessen Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Gefährdungsprognose nach dem fünften Satz des § 67 Abs. 1 FPG als zulässig und im Ergebnis auch als berechtigt.
6 Gegen den Revisionswerber als Unionsbürger wäre die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gemäß § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG nur dann zulässig, wenn auf Grund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahme begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Nach dem fünften Satz dieser Bestimmung ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes (unter anderem) gegen EWR-Bürger, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.
7 Das BVwG ging in der rechtlichen Beurteilung davon aus, auf den Revisionswerber komme der Prüfungsmaßstab nach § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG zur Anwendung, weil er "sich seit mehr als 10 Jahre(n) in Österreich aufhält". Es sei also zu prüfen, ob die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch den Verbleib des Revisionswerbers nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall gegeben, weil er vier Verurteilungen innerhalb kurzer Zeitspanne aufweise, die in Bezug auf das Gewicht der Taten auch erheblich erschienen, Das zuletzt gesetzte strafbare Verhalten des Revisionswerbers liege noch nicht lange zurück, sodass die Gegenwärtigkeit der Gefährdung gegeben sei. Das Verhalten könne auch nicht als einmalige Verfehlung gewertet werden. Durch die immer wiederkehrende Strafbarkeit verwirkliche der Revisionswerber nicht nur eine tatsächliche, sondern auch eine nachhaltige Gefahr. 8 Diesen Schlussfolgerungen liegen folgende Feststellungen zu den Straftaten des Revisionswerbers zugrunde:
"1. BG Innere Stadt Wien, 015 U 81/2010a, in Rechtskraft erwachsen am , wegen versuchten Diebstahls, Diebstahls, Verleumdung und vorsätzlicher Körperverletzung gemäß § 15, 127, 127, 287 und 83 StGB, Geldstrafe EUR 400,00, im Nichteinbringungsfall Ersatzfreiheitsstrafe 50 Tage.
2. BG Hernals zu 10 U 170/2013w, in Rechtskraft erwachsen am wegen versuchten Diebstahls gemäß § 15, 127 StGB zu einer bedingte(n) Freiheitsstrafe von einem Monat unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren.
3. LG für Strafsachen Wien zu 111 Hv 55/2015, in Rechtskraft erwachsen am wegen versuchte(n) Einbruchsdiebstahls und Urkundenfälschung gemäß § 15, 127, 129 Abs. 1 Z 1, 223 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von insgesamt 12 Monaten, davon 8 Monate bedingt unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren sowie
4. LG für Strafsachen Wien zu 061 Hv 161/2017t, in Rechtskraft erwachsen am wegen versuchten, gewerbsmäßigen Einbruchsdiebstahls, versuchter Nötigung sowie Körperverletzung gemäß § 15, 127, 130 Abs. 1, 1. Fall, 15, 105 Abs. 1 und 83 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten.
Im Zuge der zuletzt genannten Verurteilung wurde der BF (= Revisionswerber) für schuldig befunden, er habe versucht, Verfügungsberechtigten der FUSSL Textilhandel Gesellschaft mbH eine Jacke im Wert von EUR 129,99 wegzunehmen, indem er vier Jacken in eine Umkleidekabine gebracht gehabt, von einer der vier Jacken die Diebstahlsicherung mit einem Seitenschneider entfernt und diese Jacke in seinem mitgebrachten Rucksack verstaut habe, während er die anderen Jacken zurückgehängt habe, wobei er vom Ladendetektiv dabei beobachtet worden sei. Ferner wurde dem BF darin angelastet, er habe den Ladendetektiv zur Abstandnahme der Durchsetzung seines Anhalterechts zu nötigen versucht, indem er ihm einen Stoß sowie einen Faustschlag ins Gesicht gegen die rechte Gesichtshälfte versetzt habe.
Als mildernd wurden hiebei das Geständnis sowie der Umstand, dass es beim Versuch geblieben sei, als erschwerend das Zusammentreffen von drei Vergehen, die Vorstrafen und der rasche Rückfall während der Probezeit gewertet."
9 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der notwendigen Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs. 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" des Fremden abzustellen ist und strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (vgl. dazu etwa , Rn. 11, mwN). 10 Das BVwG hat zum persönlichen Verhalten des Revisionswerbers - außer betreffend seine letzte Verurteilung - keine näheren Feststellungen getroffen, sondern sich auf die (in Rn. 8 wiedergegebene) zusammenfassende, im Wesentlichen der Strafregisterauskunft folgende Beschreibung der strafgerichtlichen Verurteilungen beschränkt. Das ist nach der eben dargestellten Judikatur nicht ausreichend (vgl. dazu auch , mwN und daran anschließend zuletzt etwa , Ra 2019/21/0034, Rn. 13), zumal die genannten, auch in der mündlichen Verhandlung gar nicht konkret erörterten Delikte nicht schon für sich genommen jedenfalls und zwingend eine solche Schwere aufweisen, dass sie die erwähnte hohe Gefährdungsprognose des § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG rechtfertigen würden. Das gilt ungeachtet des einschlägigen Rückfalls in Bezug auf Delikte gegen fremdes Vermögen und der hierfür verhängten unbedingten Freiheitsstrafe von zwölf Monaten auch für die letzte, vom BVwG näher umschriebene Straftat eines, wenn auch qualifiziert begangenen, (bloßen) Ladendiebstahlsversuchs - entgegen den Feststellungen des BVwG lag hier kein Diebstahl durch Einbruch vor - in Verbindung mit einer versuchten Nötigung und einer Körperverletzung.
11 Mit § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG soll nämlich Art. 28 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2004/38 EG ("Freizügigkeitsrichtlinie" ; siehe § 2 Abs. 4 Z 18 FPG) umgesetzt werden, wozu der Gerichtshof der Europäischen Union bereits judizierte, dass hierauf gestützte Maßnahmen auf "außergewöhnliche Umstände" begrenzt sein sollten; es sei vorausgesetzt, dass die vom Betroffenen ausgehende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit einen "besonders hohen Schweregrad" aufweise, was etwa bei bandenmäßigem Handeln mit Betäubungsmitteln der Fall sein könne (siehe , Rn 6, mit dem Hinweis auf EuGH (Große Kammer) , Tsakouridis, C-145/09, insbesondere Rn. 40, 41 und 49 ff, und daran anknüpfend EuGH (Große Kammer) , P.I., C-348/09, Rn. 19 und 20 sowie Rn. 28, wo überdies - im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch eines Kindes, der zu einer siebeneinhalbjährigen Freiheitsstrafe geführt hatte - darauf hingewiesen wurde, dass es "besonders schwerwiegender Merkmale" bedarf).
12 "Besonders schwerwiegende Merkmale" im eben genannten Sinn sind aber auf Basis der (bisher) getroffenen Feststellungen - wenn auch die wiederholte einschlägige Rückfälligkeit, zuletzt auch innerhalb offener Probezeit, nicht bagatellisiert werden soll - nicht erkennbar und werden auch vom BVwG nicht aufgezeigt. Das macht die Revision im Ergebnis zutreffend geltend. In diesem Zusammenhang ist im Übrigen noch anzumerken, dass die Annahme, das Fehlverhalten des Revisionswerbers sei "von seiner Alkoholsucht geprägt" und die von ihm ausgehende Gefahr werde "durch die Alkoholsucht verschärft", keine Deckung in den (bisher) getroffenen Feststellungen findet und daher so nicht nachvollziehbar ist, zumal das BVwG unter einem einräumte, diese Sucht sei "therapeutisch behandelt" worden. Im Übrigen betrafen die vom BVwG zur Stützung seiner Ansicht zur Gefährdungsprognose zitierten Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes keine Fälle, in denen das Vorliegen des erhöhten Gefährdungsmaßstabes nach dem fünften Satz des § 67 Abs. 1 FPG angenommen worden war. Aus Aussagen in diesen Entscheidungen, die zum Teil auch gravierendere Straftaten betrafen, ist daher für den vorliegenden Fall nichts zu gewinnen.
13 Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. 14 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210091.L00 |
Schlagworte: | Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1 Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 |
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