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VwGH vom 22.08.2019, Ra 2019/21/0062

VwGH vom 22.08.2019, Ra 2019/21/0062

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des E A A in W, vertreten durch Dr. Peter Lösch, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Neuer Markt 1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , I420 2209918-1/10E, betreffend insbesondere Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt befristetem Einreiseverbot (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit damit der Ausspruch über die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 bestätigt wurde, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber ist ein im Mai 1984 geborener Staatsangehöriger der Republik Ghana. Er heiratete in seinem Heimatland im Jahr 2008 eine österreichische Staatsbürgerin und kam Mitte Juni 2010 nach Österreich, nachdem ihm im März 2010 ein Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" erteilt worden war. Der Revisionswerber verfügte - die erwähnte Ehe wurde im Jahr 2012 geschieden - zuletzt über eine "Rot-Weiß-Rot - Karte plus"; am stellte er fristgerecht einen Verlängerungsantrag. 2 Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom wurde der Revisionswerber wegen des Vergehens des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach § 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB, wegen des Vergehens der Unterschlagung nach § 134 Abs. 1 StGB und wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von zwölf Monaten (davon acht Monate bedingt nachgesehen) rechtskräftig verurteilt.

3 Nachdem der Revisionswerber am einvernommen worden war, sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom zunächst aus, dass dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (von Amts wegen) nicht erteilt werde. Unter einem erließ das BFA gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung und verband damit gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot. Des Weiteren sprach es aus, dass einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 FPG die aufschiebende Wirkung aberkannt und gemäß § 55 Abs. 4 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt werde. Schließlich stellte das BFA noch gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Ghana zulässig sei.

4 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber fristgerecht Beschwerde. Während des Beschwerdeverfahrens wurde der Revisionswerber neuerlich rechtskräftig verurteilt, und zwar mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 und 84 Abs. 2 StGB, wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB und des Vergehens des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach § 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von vierzehn Monaten (davon zehn Monate bedingt nachgesehen). Unter einem wurde die Probezeit zur erstgenannten Verurteilung von drei Jahren auf fünf Jahre verlängert. Der Revisionswerber verbüßte den unbedingten Strafteil unter Anrechnung der Untersuchungshaft beginnend ab Mitte Oktober 2018.

5 Die genannte Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), nachdem es mit Teilerkenntnis vom den Spruchpunkt im BFA-Bescheid vom betreffend die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung für die Beschwerde ersatzlos behoben hatte, ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom "mit der Maßgabe" als unbegründet ab, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 2 FPG vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Es sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen hat:

7 Der Revisionswerber hält sich im Hinblick auf seinen rechtzeitigen Antrag auf Verlängerung des ihm zuletzt erteilten Aufenthaltstitels gemäß § 24 Abs. 1 dritter Satz NAG rechtmäßig in Österreich auf. Gegen ihn wäre eine Rückkehrentscheidung nur unter den Bedingungen des § 52 Abs. 4 Z 4 FPG zulässig. Das setzt in der gegenständlichen Konstellation nach der genannten Bestimmung voraus, dass der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund gemäß § 11 Abs. 1 oder 2 NAG entgegensteht. Fallbezogen kommt dafür - wie das BFA und das BVwG auch erkannt haben - gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 NAG in Betracht, dass der (weitere) Aufenthalt des Revisionswerbers die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde. Bei der Prüfung, ob die Annahme einer solchen Gefährdung gerechtfertigt ist, muss nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung vorgenommen werden. Dabei hat die Behörde im Fall von strafgerichtlichen Verurteilungen gestützt auf das diesen zu Grunde liegende Fehlverhalten unter Berücksichtigung seiner Art und Schwere eine Gefährdungsprognose zu treffen. Die damit erforderliche, auf den konkreten Fall abstellende individuelle Prognosebeurteilung ist jeweils anhand der Umstände des Einzelfalles vorzunehmen (vgl. dazu , Rn. 7 und 8, mwN).

8 Bei der Bestätigung des Einreiseverbotes legte das BVwG im Ergebnis zugrunde, das strafrechtliche Fehlverhalten des Revisionswerbers rechtfertige (sogar) die Annahme, sein weiterer Aufenthalt stelle im Sinne des § 53 Abs. 3 FPG eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar. Als bestimmte, diese Gefährdungsannahme rechtfertigende Tatsache gilt gemäß Z 1 der genannten Bestimmung (u.a.), wenn ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist.

9 Auch wenn die Verwirklichung der genannten Tatbestände das Vorliegen der angesprochenen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit indiziert, ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei einer solchen Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. auch dazu , Rn. 10, mwN; siehe aus der letzten Zeit etwa noch , Rn. 9, und allgemein , Rn. 19, jeweils mwN). 10 Das BVwG stellte das dem Revisionswerber zur Last liegende und den Grund für die Erlassung der Rückkehrentscheidung und des Einreiseverbotes bildende Fehlverhalten nur wie oben in Rn. 2 und 4 wiedergegeben, ergänzt um den Zeitpunkt der (jeweils letzten) Straftat ("" bzw. ""), fest. Eine derartige "Kurzdarstellung" reicht allerdings nach der angeführten ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht für eine nachvollziehbare Gefährdungsprognose aus (vgl. dazu auch noch , Rn. 12, mwN), und zwar weder in Bezug auf die Rückkehrentscheidung noch auf das Einreiseverbot. Vielmehr wären konkrete Feststellungen zu den einzelnen Straftaten und deren Begleitumständen erforderlich gewesen.

11 Darüber hinaus ist bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ihre Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA-VG zu prüfen. Dabei ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Das gilt aber nicht nur für die Rückkehrentscheidung und für das in § 9 Abs. 1 BFA-VG weiters ausdrücklich genannte Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG, sondern auch für das - nur bei gleichzeitiger Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässige - Einreiseverbot im Sinne des § 53 FPG, in dessen Abs. 2 und 3 in Bezug auf die Bemessung der Dauer auch die Abwägung nach Art. 8 EMRK angesprochen wird (vgl. neuerlich , Rn. 11). 12 Dass nähere Feststellungen zu den vom Revisionswerber begangenen Straftaten unterblieben sind, steht somit nicht nur einer tauglichen Gefährdungsprognose entgegen, sondern macht auch die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG im Ergebnis nicht nachvollziehbar, bleibt doch offen, in welchem Ausmaß öffentliche Interessen dem - schon aufgrund seines rechtmäßigen Aufenthalts in Österreich in der Dauer von fast neun Jahren und seiner auch vom BVwG festgestellten, zumindest ansatzweisen Integration am österreichischen Arbeitsmarkt - doch erheblichen privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Inland entgegenstehen. Dieser Mangel schlägt freilich auch noch auf die - bei einer höchstens zulässigen Dauer von zehn Jahren - mit acht Jahren, somit im obersten Bereich, vorgenommene Befristung des Einreiseverbotes durch.

13 Vor diesem Hintergrund war aber auch nicht vom Vorliegen eines eindeutigen Falles auszugehen, der es dem BVwG ausnahmsweise erlaubt hätte, ohne Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von der Durchführung der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung abzusehen (siehe mit mehreren Nachweisen aus der ständigen Rechtsprechung zur Verhandlungspflicht bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zuletzt , Rn. 9). Mit der Annahme, ein solcher eindeutiger Fall sei hier gegeben, hat das BVwG das Absehen von der mündlichen Verhandlung auch nicht begründet. Soweit es im Übrigen trotzdem von einem im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärten Sachverhalt ausging, weil der Sachverhalt durch das BFA vollständig erhoben worden sei und die gebotene Aktualität aufweise, ließ es überdies außer Acht, dass es - ohne Einräumung von Parteiengehör erstmals und in maßgeblicher Weise - auch die Verurteilung des Revisionswerbers vom in seine Beurteilung einbezog. Bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung hätte sich das BVwG im Übrigen auch ein Bild von den Deutschkenntnissen und den aktuellen Lebensverhältnissen des Revisionswerbers - dazu wurden keine bzw. keine ausreichenden Feststellungen getroffen - machen und die für ihn individuell erwartbare Situation bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat erörtern können. Des Weiteren wäre eine nähere Aufklärung in Bezug auf das Beschwerdevorbringen zum Bestehen von Bindungen des Revisionswerbers zu zahlreichen Verwandten in anderen EWR-Staaten, das vom BVwG für nicht genügend konkretisiert erachtet wurde, möglich gewesen.

14 All diese Begründungs- und Verfahrensmängel macht die Revision in ihrer Zulässigkeitsbegründung zutreffend geltend, weshalb sie sich nicht nur - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig, sondern auch als berechtigt erweist. Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb in Bezug auf die Rückkehrentscheidung (und die darauf aufbauenden Aussprüche) und das Einreiseverbot gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

15 § 58 Abs. 1 AsylG 2005 sieht in der - im vorliegenden Fall maßgeblichen - Z 5 die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 (u.a.) nur dann vor, wenn sich der Fremde nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Das trifft, wie eingangs in Rn. 7 schon erwähnt - auf den Revisionswerber nicht zu. Demzufolge wäre dieser in den Bescheid des BFA vom aufgenommene Spruchteil vom BVwG ersatzlos zu beheben gewesen (vgl. , Rn. 8). Das angefochtene Erkenntnis war daher, soweit damit der Ausspruch über die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 bestätigt wurde, gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

16 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210062.L00
Schlagworte:
Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete

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