VwGH vom 31.10.2019, Ra 2019/20/0029
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W258 2188406-1/8E, betreffend Aufhebung und Zurückverweisung in Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: N M N in S), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Am fand die Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Am wurde der Mitbeteiligte von einem männlichen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) unter Beiziehung einer weiblichen Dolmetscherin einvernommen. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Mitbeteiligte an, dass sein Vater und sein Onkel entschieden hätten, dass er seine Cousine, die unter einer psychischen Erkrankung leide, heiraten solle. Nachdem der Mitbeteiligte seinem Onkel mitgeteilt habe, dass er dies nicht wolle, sei er von ihm und dessen Söhnen geschlagen und mit dem Tod bedroht worden.
3 Mit Bescheid vom wies das BFA den Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und legte eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise fest. 4 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde, in der er im Zusammenhang mit seinem Fluchtvorbringen im Wesentlichen beanstandete, die Behörde habe sich inhaltlich nicht näher "mit seinem Vorbringen und der Situation der Zwangsverheiratung bzw. der arrangierten Ehen in Afghanistan" auseinandergesetzt. Die Behörde habe lediglich Zitate und Textbausteine aneinandergereiht, ohne auf die individuelle Bedrohungssituation einzugehen. 5 Die Richterin des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG), der das Beschwerdeverfahren des Mitbeteiligten zugewiesen worden war, zeigte gemäß § 17 der Geschäftsordnung des BVwG mit Schreiben vom unter Hinweis auf § 20 AsylG 2005 ihre Unzuständigkeit an. Daraufhin wurde die Beschwerdesache einem männlichen Richter zugewiesen.
6 Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss vom behob das BVwG gestützt auf § 28 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsverfahre nsgesetz (VwGVG) den angefochtenen Bescheid und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück, ohne weitere Verfahrensschritte zu setzen. Die Revision erklärte das BVwG nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig. 7 In seiner Begründung führte das BVwG aus, dem BFA sei ein krasser Ermittlungsmangel vorzuwerfen, weil der Mitbeteiligte einen drohenden Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung vorgebracht habe, vom BFA jedoch unter Beiziehung einer weiblichen Dolmetscherin, die er nicht verlangt habe, einvernommen worden sei, was einen "völlig ungeeigneten Ermittlungsschritt" darstelle. Es bestehe die "wesentliche Wahrscheinlichkeit", dass der Mitbeteiligte "durch die Beiziehung eines Sachbearbeiters mit anderem Geschlecht Hemmungen aufgebaut und seine Erlebnisse (...) nur zum Teil oder abgeschwächt wiedergegeben" habe. Der maßgebliche Sachverhalt könne erst durch die neuerliche Einvernahme des Mitbeteiligten unter Beiziehung eines jeweils männlichen Sachbearbeiters und Dolmetschers festgestellt werden. Dies könne durch die belangte Behörde als Spezialbehörde rascher und kostengünstiger durchgeführt werden.
8 Die Revision sei nicht zulässig. Zwar fehle es an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage, ob die Behörde verpflichtet sei, im Falle eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung durch den Mitbeteiligten auch einen Dolmetscher desselben Geschlechts beizuziehen, jedoch könne die zu § 27 Abs. 3 letzter Satz Asylgesetz 1997 ergangene Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auf die aktuelle Rechtslage übertragen werden.
9 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende Amtsrevision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, dass BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Vorrang der Sachentscheidung abgewichen, weil die Voraussetzungen für eine Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nicht vorgelegen seien. Obwohl bei objektiver Betrachtung des vorliegenden Sachverhaltes keine Hinweise auf Hemmungen des Mitbeteiligten zu finden seien, sei das BVwG automatisch und ohne nähere Begründung davon ausgegangen, dass die Einvernahme des BFA einen völlig ungeeigneten Ermittlungsschritt darstelle. Das BFA habe zudem über die Einvernahme hinausgehende, nicht nur völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt. Bei der Frage, ob das BVwG in der Sache entscheiden müsse, sei auch die Verfahrensdauer zu berücksichtigen. Eine Zurückverweisung, die zur Neuaufrollung des Asylverfahrens, das bereits rund drei Jahre anhängig sei, führe, liege nicht im Interesse der Raschheit und Kostenersparnis.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens über die Revision - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision ist zulässig und begründet.
12 Soweit das Verwaltungsgericht in der Art der Einvernahme
des Mitbeteiligten durch das BFA einen Verfahrensfehler erblickte, den es zur Begründung der Aufhebung und Zurückverweisung heranzog, ist darauf hinzuweisen, dass sich schon anhand der ständigen Rechtsprechung zum prinzipiellen Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht nach § 28 VwGVG unzweifelhaft ergibt, dass nicht jede einer Behörde unterlaufene Verletzung von Verfahrensvorschriften das Verwaltungsgericht zur Vorgangsweise nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG berechtigt (vgl. ).
13 Nach ständiger Rechtsprechung ist in § 28 VwGVG ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz leg. cit. vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist.
14 Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden; eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden.
15 Sind (lediglich) ergänzende Ermittlungen vorzunehmen, liegt die (ergänzende) Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht im Interesse der Raschheit im Sinn des § 28 Abs. 2 Z 2 erster Fall VwGVG, zumal diesbezüglich nicht bloß auf die voraussichtliche Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens alleine, sondern auf die Dauer des bis zur meritorischen Entscheidung insgesamt erforderlichen Verfahrens abzustellen ist. Nur mit dieser Sichtweise kann ein dem Ausbau des Rechtsschutzes im Sinn einer Verfahrensbeschleunigung Rechnung tragendes Ergebnis erzielt werden, führt doch die mit der verwaltungsgerichtlichen Kassation einer verwaltungsbehördlichen Entscheidung verbundene Eröffnung eines neuerlichen Rechtszugs gegen die abermalige verwaltungsbehördliche Entscheidung an ein Verwaltungsgericht insgesamt zu einer Verfahrensverlängerung (vgl. zum Ganzen etwa , mit diversen Nachweisen aus der Rechtsprechung).
16 Fallbezogen rechtfertigt die vom BVwG herangezogene Begründung keine Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 VwGVG, weil sie nicht geeignet ist, aufzuzeigen, dass das verwaltungsbehördliche Verfahren insgesamt krasse bzw. besonders gravierende Ermittlungslücken aufweist.
17 Ob die Annahme des BVwG zutrifft, wonach die Einvernahme des Mitbeteiligten durch das BFA unter Verletzung von § 20 Abs. 1 AsylG 2005 erfolgte, kann hier offen gelassen werden. Soweit das BVwG seinen aufhebenden Beschluss mit dieser Annahme begründet, ist ihm entgegenzuhalten, dass ein Mangel dieser Art - sollte er vorliegen - im verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Rahmen einer mündlichen Verhandlung bei Einvernahme durch einen Richter und Dolmetscher des gleichen Geschlechts wie jenes des Mitbeteiligten jedenfalls saniert wäre (vgl. ). In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof bereits festgehalten, dass für die Verwaltungsgerichte auf dem Boden des § 28 VwGVG nicht bloß eine ergänzende Sachverhaltsermittlungskompet enz besteht und auch die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung für sich genommen keinen Grund für eine Aufhebung und Zurückverweisung darstellt; dasselbe gilt für das Erfordernis ergänzender Einvernahmen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung (vgl. ; , Ra 2017/18/0117, jeweils mwN).
18 Das vom BVwG ergänzend herangezogene Argument, das BFA sei als Spezialbehörde eingerichtet, wurde in der bisherigen Rechtsprechung schon verworfen und als untauglich angesehen, eine Behebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zu begründen (vgl. ; sowie , Ra 2018/20/0314, mwN).
19 Der angefochtene Beschluss war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019200029.L00 |
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