VwGH vom 22.06.2020, Ra 2019/19/0539
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des F H, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W233 2192248-1/7E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
I. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz sowie die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 Asylgesetz 2005 richtet, zurückgewiesen.
II. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1Der Revisionswerber, ein im Jahr 1999 geborener pakistanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der schiitischen Glaubensrichtung des Islam, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, sein älterer Bruder sei als Wachmann vor einer schiitischen Moschee tätig gewesen und aufgrund dieser Tätigkeit in Konflikt mit einer terroristischen Vereinigung gekommen. Mitglieder dieser Terrororganisation hätten nach seinem Bruder - unter anderem in ihrem gemeinsamen Wohnhaus - gesucht und auf ihn einen Anschlag unternommen. Sein Bruder, der die einzige familiäre Bezugsperson des damals minderjährigen Revisionswerbers in Pakistan gewesen sei, habe daher ihre gemeinsame Flucht beschlossen. Schiiten seien auch allgemein in Pakistan durch Anschläge von Terrororganisationen bedroht.
2Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei, und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
3Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4Eine inhaltlich gleiche Entscheidung erging unter einem auch zum älteren Bruder des Revisionswerbers. Begründend führte das BVwG - auf das Wesentliche zusammengefasst - aus, die Angaben des Revisionswerbers und seines älteren Bruders zu ihren Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates seien nicht glaubwürdig. Der Revisionswerber stamme aus der Stadt Lahore, wo er bis zur Ausreise die Schule besucht habe. In Österreich habe er zuletzt die dritte Klasse (11. Schulstufe) einer Handelsakademie erfolgreich absolviert. Der Revisionswerber habe Prüfungen über Kenntnisse der deutschen Sprache zunächst auf dem Niveau B1 und in der Folge auf dem Niveau B2 bestanden. Er wohne bei seinem in Österreich aufhältigen Vater. Es bestehe jedoch kein gegenseitiges „besonders intensives Abhängigkeitsverhältnis“. Auch ein weiterer Bruder des Revisionswerbers halte sich in Österreich auf. Der Revisionswerber unterhalte im Inland soziale Kontakte und nehme an Vereinsveranstaltungen teil. Er sei strafrechtlich unbescholten.
5Da eine Verfolgung im Herkunftsstaat nicht glaubhaft sei und bei der Rückkehr auch keine reale Gefahr einer Verletzung der Rechte des Revisionswerbers nach Art. 2 und 3 EMRK drohe, sei der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen gewesen. Der Revisionswerber sei in Pakistan sozialisiert worden. Auch wenn im Herkunftsstaat keine relevanten familiären Anknüpfungspunkte bestünden, so sei zu erwarten, dass der Revisionswerber und sein Bruder nach einer Rückkehr dort ihren Lebensunterhalt bestreiten könnten, zumal ihnen das in der Vergangenheit auch möglich gewesen sei. Der Revisionswerber habe wohl „besondere Bemühungen zur sozialen Integration in Österreich unternommen“, dennoch überwiege das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen seine persönlichen Interessen am Verbleib im Inland. Hinsichtlich des in Österreich aufhältigen Vaters des Revisionswerbers sei festzuhalten, dass zwischen Eltern und erwachsenen Kindern kein Familienleben im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK bestehe, soweit keine zusätzlichen Elemente einer Abhängigkeit nachgewiesen würden. Solche zusätzlichen Abhängigkeitsmerkmale seien „nicht dargelegt worden“. Zugunsten des Revisionswerbers seien insbesondere der erfolgreiche Besuch des dritten Jahrgangs einer Handelsakademie, der Erwerb guter Deutschkenntnisse und seine sozialen Kontakte zu berücksichtigen. Er habe sich jedoch während seines Aufenthaltes im Inland von im Entscheidungszeitpunkt etwa drei Jahre und sieben Monaten, der sich nur aus dem abzuweisenden Antrag auf internationalen Schutz ergeben habe, seines unsicheren bzw. unrechtmäßigen Aufenthaltsstatus bewusst sein müssen. Es sei daher eine Rückentscheidung zu erlassen gewesen.
6Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Revision. Der Verwaltungsgerichtshof hat ein Vorverfahren durchgeführt, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde.
Zu I.:
7Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
8Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden.
9Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
10In Hinblick auf die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz wendet die Revision sich unter dem Gesichtspunkt ihrer Zulässigkeit gegen die Beweiswürdigung des BVwG hinsichtlich der Gründe für das Verlassen des Herkunftsstaates und rügt, dass keine Erhebungen in Pakistan durchgeführt worden seien.
11Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser - als Rechtsinstanz - zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. etwa , mwN). Hinsichtlich der Vorkommnisse, die zu einer Bedrohung des älteren Bruders des Revisionswerbers durch eine Terrororganisation geführt haben sollen, konnte der Revisionswerber selbst keine Wahrnehmungen schildern. Die Ausführungen des Bruders des Revisionswerbers, dessen Verfahren gemeinsam geführt worden war, zu diesen Ereignissen erachtete das BVwG in Hinblick auf teilweise unbestimmte und unplausible Angaben als nicht glaubwürdig. Es folgerte daraus, dass die - ohnehin nur vage aufgestellte - Behauptung, dass auch der Revisionswerber bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat durch eine Terrororganisation bedroht wäre, keine Grundlage habe. Gestützt auf Länderberichte gelangte das BVwG weiters zum Ergebnis, dass allein aufgrund der Zugehörigkeit zur Gruppe der Schiiten dem Revisionswerber in Pakistan keine Verfolgung drohe. Eine vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifende gravierende Mangelhaftigkeit dieser Erwägungen vermag die Revision nicht aufzuzeigen.
12Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besteht ein allgemeines Recht auf eine fallbezogene Überprüfung des Vorbringens eines Asylwerbers durch Recherche im Herkunftsstaat nicht (vgl. etwa , mwN). Die Frage, ob amtswegige Erhebungen erforderlich sind, stellt regelmäßig auch keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung dar, weil es sich dabei um eine einzelfallbezogene Beurteilung handelt. Solchen Fragen kann (nur) dann grundsätzliche Bedeutung zukommen, wenn tragende Grundsätze des Verfahrensrechtes auf dem Spiel stehen (vgl. , mwN). Derartiges vermag die Revision nicht darzulegen. Im Übrigen zeigt die Revision auch nicht konkret auf, warum die Durchführung von Erhebungen im Herkunftsstaat zu einem anderen Verfahrensausgang hinsichtlich des Revisionswerbers hätte führen können. Sie wird daher den Anforderungen an die Darstellung der Relevanz des behaupteten Ermittlungsmangels nicht gerecht (vgl. zu diesem Erfordernis etwa ).
13Hinsichtlich der Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz sowie der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 werden in der Revision somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzlich Bedeutung zukäme. Die Revision war daher in diesem Umfang gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.
Zu II.:
14Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung wird zur Zulässigkeit der Revision vorgebracht, das BVwG habe sich über maßgebliches Vorbringen des Revisionswerbers hinweggesetzt. Wie vorgebracht, lebe der Revisionswerber im Haushalt seines in Österreich aufhältigen Vaters und erhalte von diesem Unterhalt. Davon ausgehend sei aber ein Abhängigkeitsverhältnis des Revisionswerbers, der noch keine Selbsterhaltungsfähigkeit erlangt habe, zum Vater gegeben, woraus ein Familienleben im Sinn der EMRK abzuleiten sei. Auch sei zu wenig berücksichtigt worden, dass der Revisionswerber mit gutem schulischen Erfolg die dritte Klasse einer Handelsakademie abgeschlossen habe und die Schule, wie sich aus der Bestätigung des Klassenvorstandes ergebe, vermutlich im Jahr 2021 mit Matura abschließen könne, sowie dass der Revisionswerber im Inland, wie ebenso im Verfahren vorgebracht, nunmehr einen großen Freundeskreis habe, der sich durchgehend aus Österreichern und Unionsbürgern zusammensetze, der Revisionswerber in Pakistan über keine familiären Bindungen mehr verfüge und er das Land als Minderjähriger verlassen habe.
15Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
16Die Revision ist insoweit zulässig und berechtigt.
17Bei der Beurteilung, ob im Fall einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben des Fremden eingegriffen wird, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt. Maßgeblich sind dabei etwa die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schul- und Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert sowie die Bindungen zum Heimatstaat (vgl. etwa , mwN). Ob außerhalb des Bereiches des insbesondere zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern ipso iure zu bejahenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK ein Familienleben vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte jeweils von den konkreten Umständen ab, wobei für die Prüfung einer hinreichend stark ausgeprägten persönlichen Nahebeziehung gegebenenfalls auch die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung sind. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. , mwN).
18Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (etwa , mwN).
19Der Revisionswerber hat im vorliegenden Fall vorgebracht, er lebe mit seinem Vater in einem gemeinsamen Haushalt und beziehe keine Grundversorgung. Sein Vater, der seit 15 Jahren in Österreich aufhältig sei und über einen Aufenthaltstitel („Rot-Weiß-Rot-Karte“) verfüge, habe ihn bei sich aufgenommen und komme auch für die Kosten des Schulbesuches des Revisionswerbers - der nach dem Akteninhalt eine Privatschule besucht - auf. Wie die Revision zutreffend aufzeigt, hat das BVwG eine Auseinandersetzung mit diesem Vorbringen unterlassen. Dies wäre aber erforderlich gewesen, weil sich daraus im Sinn der dargestellten Judikatur eine Abhängigkeit des während seines Aufenthaltes in Österreich volljährig gewordenen Revisionswerbers von seinem Vater und damit das Bestehen eines Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK hätte ergeben können, das bei der vorzunehmenden Interessenabwägung zu berücksichtigen gewesen wäre (vgl. idS ).
20Der Revisionswerber hat in Österreich im Alter von 16 Jahren einen Asylantrag gestellt. Nach seinen Angaben hat er Pakistan auch deshalb verlassen, weil ihm ein Verbleib in seinem Herkunftsstaat ohne seine einzig verbliebene familiäre Bezugsperson - seinen älteren Bruder - nicht möglich gewesen sei. Davon ausgehend kann dem Umstand, dass der Aufenthalt des zunächst minderjährigen Revisionswerbers im Inland lediglich auf einem letztlich unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz beruhte und sein schützenswertes Privat- bzw. Familienleben während unsicheren Aufenthalts entstanden ist (§ 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG), nicht der gleiche Stellenwert wie bei einem erwachsenen Fremden zugemessen werden (vgl. ). Das BVwG ist im Übrigen davon ausgegangen, dass der Revisionswerber „besondere Bemühungen“ hinsichtlich seiner sozialen Integration unternommen habe. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass das BVwG bei Auseinandersetzung mit dem Bestehen eines Familienlebens des Revisionswerbers im Inland bei seiner Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte kommen können.
21Das angefochtene Erkenntnis war daher hinsichtlich der Rückkehrentscheidung und der darauf aufbauenden Spruchpunkte, die ihre Grundlage verlieren, gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
22Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren auf Zuspruch eines Streitgenossenzuschlages findet darin keine Deckung und war daher abzuweisen.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190539.L01 |
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