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VwGH vom 03.03.2011, 2008/22/0515

VwGH vom 03.03.2011, 2008/22/0515

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Merl und Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der J, vertreten durch Dr. Alexander Milavec, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Kärntner Straße 11, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom , Zl. 315.839/2- III/4/2006, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies der Bundesminister für Inneres (die belangte Behörde) den Antrag der im Jahr 1999 geborenen Beschwerdeführerin, einer serbischen Staatsangehörigen, vom auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Stiefvater gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführerin habe am im Inland den gegenständlichen Erstantrag eingebracht, wobei sie sich vor, während und nach der Antragstellung in Österreich aufgehalten habe. Zum Zeitpunkt der Antragstellung sei sie zur Inlandsantragstellung berechtigt gewesen, die Gesetzeslage habe sich jedoch am geändert. Im Sinne der Übergangsbestimmungen des § 81 NAG sei auf den gegenständlichen Sachverhalt § 21 NAG anzuwenden. Gemäß § 21 Abs. 1 NAG hätte die Beschwerdeführerin die Entscheidung über ihren Antrag im Ausland abwarten müssen.

Weder der Antrag noch das Berufungsschreiben enthielten Behauptungen humanitärer Gründe. Es werde daher festgestellt, dass kein besonders berücksichtigungswürdiger humanitärer Aspekt im Sinn des § 72 NAG gegeben sei. Trotz der sicherlich schwierigen familiären Situation, weil der Stiefvater und die Mutter der Beschwerdeführerin berechtigt seien, sich in Österreich aufzuhalten, stelle dies keine Rechtfertigung dafür dar, dass sich die Beschwerdeführerin ohne Bewilligung seitens einer Behörde in Österreich aufhalte. Dieses Verhalten fließe u.a. in die Bewertung für das Vorliegen eines besonders berücksichtigungswürdigen Falles mit ein.

Eine Inlandsantragstellung bzw. die daraus resultierende Entgegennahme des Aufenthaltstitels im Inland werde daher gemäß § 74 NAG von Amts wegen nicht zugelassen.

Auch aus der Richtlinie 2004/38/EG könne die Beschwerdeführerin kein Aufenthaltsrecht ableiten, weil sie nicht dargelegt habe, dass ihre "Eltern das Recht auf die (gemeinschaftsrechtliche) Freizügigkeit in Anspruch genommen" hätten.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Unbestritten ist davon auszugehen, dass es sich beim gegenständlichen Antrag der Beschwerdeführerin um einen Erstantrag handelt, auf den § 21 NAG Anwendung findet, und dass die Beschwerdeführerin auch nach Inkrafttreten des NAG mit im Inland geblieben ist.

Auch wenn Fremde im Geltungsbereich des Fremdengesetzes 1997 als Angehörige eines österreichischen Staatsbürgers und somit als begünstigte Drittstaatsangehörige einen Niederlassungsbewilligungsantrag im Inland stellen durften, war - entgegen der Beschwerdeansicht - zur Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes außerhalb des Anwendungsbereiches des Gemeinschaftsrechtes eine konstitutiv wirkende Niederlassungsbewilligung erforderlich. Da der Beschwerdeführerin eine solche nicht erteilt wurde, hielt sie sich durchgehend unrechtmäßig im Inland auf. Nach Inkrafttreten des NAG mit wäre sie gemäß § 21 Abs. 1 NAG verpflichtet gewesen, die Entscheidung über ihren Antrag im Ausland abzuwarten (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom , 2008/22/0490, mwN).

Das Recht, die Entscheidung über den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland abzuwarten, kommt im vorliegenden Fall nur gemäß § 74 iVm § 72 NAG (jeweils in der Stammfassung) in Betracht. Besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn des § 72 NAG liegen u.a. auch dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch, etwa auf Familiennachzug, besteht (vgl. nochmals das Erkenntnis vom , mwN).

Die Beschwerde bringt diesbezüglich vor, die belangte Behörde habe sich keineswegs damit auseinandergesetzt, dass sich der Mittelpunkt des Lebens der neunjährigen Beschwerdeführerin in Österreich befinde, was sich aus dem jahrelangen Schulbesuch, der Kernfamilie, die sich rechtmäßig in Österreich aufhalte, und der sozialen Bindungen ergebe. Die belangte Behörde habe es gänzlich unterlassen, auf den Einzelfall bezogene Erhebungen betreffend das Privat- und Familienleben der neunjährigen Beschwerdeführerin durchzuführen, und habe den maßgeblichen Sachverhalt nicht ermittelt. Im Fall einer Rückkehr nach Serbien wäre die Beschwerdeführerin einer als unmenschlich zu qualifizierenden Notlage ausgesetzt, weil es ihr an sozialer, familiärer und finanzieller Lebensgrundlage fehle, was sie insbesondere auch wegen ihres niedrigen Alters unverhältnismäßig hart treffen würde. Sie beherrsche die "serbische Sprache" nur sehr schlecht, könne "auf Serbisch" weder lesen noch zählen. In Serbien verfüge sie über keine sozialen und familiären Kontakte, sodass das Vorliegen von humanitären Gründen zu bejahen sei.

Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg:

Aus den Verwaltungsakten ergibt sich, dass sich die zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides acht Jahre und sieben Monate alte Beschwerdeführerin seit Dezember 2005 im Bundesgebiet aufhält, eine Ganztagsvolksschule in Wien besucht und mit ihrer Mutter sowie ihrem Stiefvater im gemeinsamen Haushalt lebt. Der Stiefvater ist österreichischer Staatsbürger; die Mutter der Beschwerdeführerin ist den Feststellungen im angefochtenen Bescheid zufolge berechtigt, sich im Bundesgebiet aufzuhalten.

Die belangte Behörde hat - insbesondere im Hinblick auf das kindliche Alter der Beschwerdeführerin - keine näheren Feststellungen dazu getroffen, wer für die Beschwerdeführerin obsorgeberechtigt ist, mit wem sie vor ihrer Einreise nach Österreich zusammengelebt hat, ob in Serbien Personen vorhanden sind, die die Fürsorge und Pflege des etwa achteinhalbjährigen Kindes übernehmen könnten und es der Mutter der Beschwerdeführerin - trotz aufrechter Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger - allenfalls zumutbar wäre, das Familienleben mit dieser in einem Drittstaat fortzuführen.

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die belangte Behörde bei Berücksichtigung der in der Beschwerde ins Treffen geführten Umstände und den angesprochenen näheren Feststellungen zu einem anderen Bescheid hätte kommen können, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil der Pauschalbetrag nach § 1 Z. 1 lit. a dieser Verordnung die Umsatzsteuer bereits umfasst.

Wien, am

Fundstelle(n):
NAAAE-84907