zurück zu Linde Digital
TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VwGH vom 18.01.2021, Ra 2019/19/0403

VwGH vom 18.01.2021, Ra 2019/19/0403

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Lachmayer als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W109 2176647-1/10E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: A A in S, vertreten durch Dr. Peter Lechenauer und Dr. Margrit Swozil, Rechtsanwälte in 5020 Salzburg, Hubert-Sattler-Gasse 10), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A.II. und A.III. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1Der Mitbeteiligte ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem. Er stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz.

Dazu brachte er vor, im Iran geboren und niemals in Afghanistan gewesen zu sein. Seine Eltern würden ursprünglich aus der Provinz Ghazni stammen, er kenne dort jedoch niemanden. Der Mitbeteiligte habe im Iran acht Jahre die Schule besucht und zwei Jahre als Automechaniker gearbeitet. Eines Tages sei er von der Polizei kontrolliert und vor die Wahl gestellt worden, entweder in Syrien zu kämpfen oder nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Da die Hazara in Afghanistan von den Taliban bekämpft würden, die Sicherheitslage sehr schlecht sei und er auch nicht in den Krieg nach Syrien habe gehen wollen, sei er geflohen.

2Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Mitbeteiligten ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die dagegen erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Im Übrigen gab das BVwG der Beschwerde statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt A.II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A.III.). Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte es für nicht zulässig.

4In der Begründung stellte das BVwG - soweit hier maßgeblich - fest, der Mitbeteiligte sei im Iran geboren und dort mit seinen Eltern und seinen zwei jüngeren Schwestern aufgewachsen. Die Muttersprache des Mitbeteiligten sei Dari, er spreche dies jedoch mit Farsi-Akzent. Der Mitbeteiligte habe im Iran acht Jahre die Schule besucht und zwei Jahre als Mechaniker gearbeitet. Sein Vater stamme aus einem Dorf in Ghazni, seine gesamte Familie (zu der der Mitbeteiligte in Kontakt stehe) lebe jedoch im Iran. In Afghanistan sei der Mitbeteiligte nie gewesen, er habe dort weder Verwandte noch Bekannte.

5Zu einer allfälligen Rückkehr in den Herkunftsstaat stellte das BVwG fest, Afghanistan sei von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt betroffen, der sich auf die Zivilbevölkerung regional unterschiedlich auswirke. Die Provinz Ghazni zähle zu den volatilen, vom Konflikt stark betroffenen Teilen, wobei sich die Sicherheitslage seit dem Jahr 2017 verschlechtert habe. Im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Ghazni drohe dem Mitbeteiligten Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Übergriffe regierungsfeindlicher Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden. Auch die Hauptstadt Kabul könne - aus näher dargestellten Gründen - nicht als ausreichend sicher erachtet werden. Die Provinzen Balkh und Herat hingegen würden zu den friedlichsten Provinzen Afghanistans gehören und seien relativ wenig vom Konflikt betroffen. Im Fall einer Niederlassung des Mitbeteiligten in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat könne nicht festgestellt werden, dass diesem die Gefahr drohe, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden. Allerdings wäre es dem Mitbeteiligten dort nicht möglich, Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härte zu führen, so wie es auch seinen Landsleuten möglich sei. Er würde vielmehr Gefahr laufen, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten. Explizite Feststellungen zur Versorgungslage in den genannten Gebieten Afghanistans traf das BVwG nicht.

6In rechtlicher Hinsicht folgerte das BVwG, dass es dem Mitbeteiligten in einer Zusammenschau auf Grund der aus den spezifischen individuellen Merkmalen (wie Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Diskriminierung und Stigmatisierung als Rückkehrer, fehlende lokale Kenntnisse, fehlendes soziales Netzwerk, geringe Schulbildung und fehlende Berufsausbildung) resultierenden besonderen Gefährdungsfaktoren nicht möglich sei, sich in Afghanistan niederzulassen, dort Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen. Der Mitbeteiligte wäre in Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) sehr wahrscheinlich nicht in der Lage, notwendige (grundlegende) Lebensbedürfnisse zu befriedigen und er würde in eine Situation geraten, die er nicht überwinden könnte. Kabul komme schon auf Grund der dortigen Sicherheitslage nicht als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht.

7Gegen die Spruchpunkte A.II. und A.III. dieses Erkenntnisses richtet sich die außerordentliche Amtsrevision des BFA.

8Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die kostenpflichtige Zurück-, in eventu Abweisung der Revision beantragt.

9Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10Die Revision führt zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem aus, das angefochtene Erkenntnis weiche von - näher bezeichneter - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative ab. Das BVwG habe nicht dargelegt, dass dem Mitbeteiligten, der ein junger gesunder Mann mit Schulbildung und Berufserfahrung sei, der die Landessprache beherrsche und der auf Grund seiner afghanischen Eltern mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei, keine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif oder Herat offen stünde.

11Die Revision ist zulässig und auch begründet.

12Der vorliegende Revisionsfall gleicht in den für seine Erledigung maßgeblichen Punkten jenem, den der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom , Ra 2019/14/0160, entschieden hat. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird auf die Begründung dieses Erkenntnisses verwiesen (vgl. in diesem Sinn zuletzt auch ; , Ra 2019/19/0409; , Ra 2019/19/0426).

13Wie in dem diesem Erkenntnis zugrunde liegenden Fall handelt es sich im Revisionsfall bei dem Mitbeteiligten nach den Feststellungen um einen jungen, erwerbsfähigen Mann (mit achtjähriger Schulbildung und zweijähriger Berufserfahrung), der der Volksgruppe der Hazara angehört und außerhalb Afghanistans in einer afghanischen Familie aufgewachsen ist. Auch hinsichtlich der allgemeinen Situation in Afghanistan - etwa auch betreffend die Lage der Hazara und die Unterstützungen für Rückkehrer - hat das BVwG mit dem Erkenntnis im Verfahren Ra 2019/14/0160 vergleichbare Feststellungen getroffen.

14Ebenso ist im Revisionsfall die in den rechtlichen Erwägungen zum Ausdruck gebrachte Einschätzung mit den Feststellungen zur Lage der Hazara in Afghanistan und zur Lage von im Iran aufgewachsenen afghanischen Staatsangehörigen im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan nicht in Einklang zu bringen. Auch ist nicht ersichtlich, inwieweit sich die Situation des Mitbeteiligten maßgeblich von jener unterscheidet, in der sich afghanische Staatsangehörige befinden, die sich Zeit ihres Lebens in Afghanistan aufgehalten haben und solche Kenntnisse gleichfalls nicht aufweisen (vgl. VwGH Ra 2019/19/0426, mwN).

15Das BVwG geht im vorliegenden Fall davon aus, dass dem Mitbeteiligten im Herkunftsstaat Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe und er in Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) sehr wahrscheinlich nicht in der Lage wäre, notwendige (grundlegende) Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Dem Mitbeteiligten sei deshalb der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen. Das BVwG traf jedoch keine konkreten Feststellungen zur Versorgungslage in den Städten Herat und Mazar-e Sharif. Dem Verwaltungsgerichtshof ist es daher nicht möglich, das angefochtene Erkenntnis hinsichtlich der Annahme zu überprüfen, ob dem Mitbeteiligten tatsächlich im gesamten Staatsgebiet Afghanistans keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht (vgl. zum Erfordernis einer mängelfreien Begründung etwa , mwN).

16Da das BVwG im Fall einer mängelfreien Begründung zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können (vgl. zuletzt betreffend „Iran-Rückkehrer“ etwa , mwN), war das angefochtene Erkenntnis im Umfang seiner Spruchpunkte A.II. und A.III. gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019190403.L00

Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.