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VwGH vom 10.06.2020, Ra 2019/18/0517

VwGH vom 10.06.2020, Ra 2019/18/0517

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der M K, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W215 2117622-2/4E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von 1.106,40 € binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Die Revisionswerberin ist eine Staatsangehörige Usbekistans und Mutter zweier in Österreich geborener, minderjähriger Kinder. Sie stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie damit begründete, dass sie von den Personen, die ihren vor Jahren nach Österreich geflohenen Ehemann (zum Ehemann siehe Ra 2019/18/0156) suchen würden, vergewaltigt worden sei. Zudem leide sie an Hepatitis B.

2Bereits in der polizeilichen Erstbefragung gab sie dazu an, dass sie ihre Heimat „wegen frauenspezifischer Probleme verlassen“ habe, die sie nur „vor einer weiblichen Referentin und einer weiblichen Dolmetscherin erzählen möchte“. Sie sei am vergewaltigt worden und deshalb geflohen. Sie „möchte nicht, dass mein Ehemann davon erfährt und auch, dass er meinen Akt nicht einsehen darf“.

3Das aufgrund einer Säumnisbeschwerde zuständig gewordene Bundesverwaltungsgericht (BVwG) beauftragte das BFA gemäß § 19 Abs. 6 AsylG 2005 mit der Ersteinvernahme der Revisionswerberin. In dieser am durchgeführten Einvernahme gab sie an, ihr Ehemann habe Probleme mit Personen gehabt, mit denen er zusammengearbeitet habe. Er sei geschlagen und bedroht worden, weshalb er geflohen sei. Sie sei aufgrund einer Vergewaltigung aus Usbekistan geflohen. Sie habe Angst, dass ihr Ehemann etwas darüber erfahre.

4Am führte das im Säumnisweg angerufene BVwG schließlich eine mündliche Verhandlung durch, in welcher es die Revisionswerberin und ihren Ehemann einvernahm. Dabei gab der zuerst einvernommene Ehemann zunächst an, die Revisionswerberin sei wegen seiner Probleme in Usbekistan vergewaltigt worden. Aus dieser Vergewaltigung sei die in Österreich geborene minderjährige Tochter hervorgegangen. Die Richterin kündigte daraufhin an, den Ehemann der Revisionswerberin zu einem Vaterschaftstest schicken zu wollen, weil sie vermute, dass er sehr wohl der Vater der minderjährigen Tochter sei. Entweder sei seine Ehefrau schon länger illegal in Österreich aufhältig gewesen oder er habe zu Weihnachten seine Familie in Usbekistan besucht. Sollte er der Vater der minderjährigen Tochter sein, ersuche sie ihn um Respekt ihr gegenüber und die Wahrheit zu sagen, zumal in wenigen Wochen ohnehin ein Testergebnis vorliegen werde. Zwecks Besprechung mit seiner Ehefrau wurde die Verhandlung zunächst unterbrochen. Danach gab der Ehemann an, dass er der Vater der minderjährigen Tochter sei und die Revisionswerberin nicht vergewaltigt worden sei, sondern schon im Dezember 2013 illegal nach Österreich gekommen sei. Die Vergewaltigung hätten sie erfunden, weil die Revisionswerberin von ihrem Ehemann während eines illegalen Aufenthaltes in Österreich schwanger geworden sei. Die danach einvernommene Ehefrau gab zu dem Vorfall nur mehr an: „Die Vergewaltigung habe ich erfunden, es gab keine Vergewaltigung. Mein Mann ist der Vater meiner Tochter.“

5In der Folge stellte das BVwG - wegen Zurückziehung der Säumnisbeschwerde - das Verfahren über die Säumnisbeschwerde ein.

6In der am vor dem (nunmehr zuständigen) Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) anberaumten Einvernahme gab die Revisionswerberin zu Beginn der Vernehmung an, den Dolmetscher nicht einwandfrei zu verstehen, woraufhin das BFA die Einvernahme „aufgrund der zeitnahen Verfügbarkeit eines Ersatzdolmetschers“ abbrach. Eine neuerliche Ladung zu einem weiteren Einvernahmetermin erfolgte jedoch nicht.

7Mit Bescheid vom wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte der Revisionswerberin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Usbekistan zulässig sei, und legte keine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Darüber hinaus erkannte das BFA einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung ab.

8Dagegen erhob die Revisionswerberin Beschwerde und beantragte eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG. Begründend führte sie aus, sie habe die Vergewaltigung in der Einvernahme am bloß deshalb als erfunden dargestellt, um keine Schwierigkeiten mit ihrem Ehemann zu bekommen, nachdem das Gericht eine DNA-Begutachtung habe anordnen wollen. Der Ehemann sei nämlich tatsächlich der Ansicht, dass die Vergewaltigung erfunden sei. Die Revisionswerberin sei daher verzweifelt gewesen und habe ihm gegenüber verschleiern wollen, dass das Kind nicht von ihm sei. Sie befürchte, in Usbekistan vom Ehemann bzw. dessen Familie verstoßen zu werden oder aber zumindest das Kind weggeben zu müssen, wenn herauskommen sollte, dass der Ehemann nicht der Vater sei. Die Einvernahme vor dem BFA am sei zudem vor männlichen Organwaltern (Referent und Dolmetsch) erfolgt und sei abgebrochen worden, nachdem die Revisionswerberin den Dolmetscher nicht gut verstanden habe.

9Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerde der Revisionswerberin als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

10Begründend führte das BVwG aus, es könne nicht festgestellt werden, dass die Revisionswerberin wegen einer Vergewaltigung aufgrund der Probleme ihres Ehemannes ausgereist sei, zumal ihr Ehemann in der mündlichen Verhandlung vom bereits vor derselben Richterin glaubhaft angegeben habe, die Revisionswerberin sei bereits im Dezember 2013 nach Österreich gekommen und schwanger geworden. Die Revisionswerberin habe eine Ausbildung als Hebamme und sei bis jetzt immer problemlos in der Lage gewesen, den Lebensunterhalt für sich und ihre Töchter - allenfalls durch die Unterstützung ihrer Eltern bzw. Schwiegereltern und ihres Ehemannes - zu bestreiten. Da sie, ihr Ehemann und die gemeinsamen minderjährigen Kinder von den aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gleichermaßen betroffen seien, liege kein Eingriff in das Familienleben nach Art. 8 EMRK vor.

11Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision. Darin bringt die Revisionswerberin vor, sie sei in der Einvernahme von einem männlichen Organwalter des BFA einvernommen worden, obwohl sie darauf hingewiesen habe, „durch Frauen einvernommen“ werden zu wollen. Gemäß § 20 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) hätte sie vor dem BFA und vor dem BVwG von einer Frau einvernommen werden müssen. Diese mangelhafte Einvernahme sei nicht durch ein ordnungsgemäß vor dem BVwG geführtes Verfahren saniert worden, weil das BVwG keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe. Von dieser habe das BVwG zu Unrecht abgesehen, weil die Revisionswerberin im Verfahren mehrfach vorgebracht habe, sie habe vor ihrem Ehemann geheim halten wollen, dass er nicht der Vater der minderjährigen Tochter sei. Das BVwG habe durch die Mitteilung an den Ehemann, dass die Tochter nicht von ihm stamme, erhebliche Unruhe in die Familie gebracht und die unwahren Angaben vor dem BVwG - dass das Kind vom Ehemann sei - „geradezu provoziert“. Mit dem Vorbringen, aus Angst vor familiären Konsequenzen die Unwahrheit gesagt zu haben, habe sich das BVwG nicht auseinandergesetzt, sondern die unwahren Aussagen als richtig festgestellt. Daher sei die Beweiswürdigung des BVwG in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden Weise vorgenommen worden und unschlüssig.

12Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

13Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.

14Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn dieser Bestimmung „geklärt erscheint“, folgende Kriterien beachtlich:

15Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG muss die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend und 0018, sowie aus der jüngeren Rechtsprechung etwa , mwN).

16Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen werden kann (vgl. , mwN).

17Im Revisionsfall trat die Revisionswerberin in ihrer Beschwerde den Feststellungen des BFA, wonach sie unwahr behauptet habe, in Usbekistan wegen ihres Ehemanns einer Verfolgung durch unbekannte Personen ausgesetzt gewesen und vergewaltigt worden zu sein, insofern substantiiert entgegen, als sie darin vorbrachte, die Vergewaltigung bloß geleugnet zu haben, um keine Schwierigkeiten mit dem Ehemann zu bekommen. Bereits vor diesem Hintergrund wäre das BVwG verpflichtet gewesen, eine neuerliche Verhandlung durchzuführen und weitere Ermittlungsschritte zu setzen. Dabei hätte das BVwG den Widerspruch in den Aussagen der Revisionswerberin aufklären und feststellen können, welche ihrer Angaben nun glaubhaft seien.

18Dass die erkennende Richterin den Ehemann der Revisionswerberin „noch aus der ausführlichen Befragung in der Beschwerdeverhandlung vom in Erinnerung hat bzw. sich bereits damals einen persönlichen Eindruck verschaffen konnte“, ersetzt in keinster Weise eine unbefangene Auseinandersetzung mit dem substantiierten Vorbringen der Revisionswerberin in ihrer nunmehrigen Beschwerde. Dabei fällt auch auf, dass sich die erkennende Richterin in dieser ersten säumnisbedingten Beschwerdeverhandlung über den mehrfachen Wunsch der Revisionswerberin im Verfahren einer Erörterung ihrer Fluchtgeschichte ohne Beiziehung ihres Ehemanns hinweg gesetzt hat, ohne dies vorher mit ihr auch nur zu erörtern, und die Frage der Vaterschaft der minderjährigen Tochter stattdessen sogar zuerst mit dem Ehemann der Revisionswerberin erörtert und sodann die mündliche Verhandlung zum Zwecke der Besprechung des Ehemanns mit der Revisionswerberin unterbrochen hat. Im fortgesetzten Verfahren wird daher auch bei der Gestaltung der Einvernahmen mehr Bedacht darauf zu legen sein, der Revisionswerberin eine ihrem Fluchtvorbringen angemessene Einvernahmesituation zu bieten.

19Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

20Die Kostenentscheidung gründet sich auf die § 47ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180517.L01

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