VwGH vom 13.12.2011, 2008/22/0317
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Dr. Maurer-Kober und Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Peck, über die Beschwerde der M in Wien, vormals vertreten durch DDr. Wolfgang Schulter, Rechtsanwalt in 1030 Wien, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom , Zl. 316.363/3-III/4/07, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin, einer serbischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familiengemeinschaft mit ihrem die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Ehemann gemäß § 21 Abs. 1 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes - NAG ab.
Begründend führte sie aus, die Beschwerdeführerin habe am durch ihre Rechtsvertretung beim Landeshauptmann von Wien einen Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung gestellt.
Gemäß § 21 Abs. 1 NAG seien Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung sei im Ausland abzuwarten. Die Beschwerdeführerin sei aber seit durchgehend mit Hauptwohnsitz in Wien gemeldet, ohne über entsprechende Aufenthaltstitel zu verfügen.
Eine Anfrage durch das Amt der Wiener Landesregierung bezüglich Zustimmung zur Inlandsantragstellung bzw. Heilung von sonstigen Verfahrensmängeln gemäß § 74 iVm § 75 NAG habe mangels Vorliegens besonders berücksichtigungswürdiger Gründe nicht positiv beantwortet werden können. Unbeschadet der Urkundenvorlage betreffend ausreichende Unterhaltsmittel bzw. eine ortsübliche Unterkunft stehe für die belangte Behörde fest, dass der gegenständliche Antrag entgegen den Bestimmungen des NAG im Inland gestellt worden sei.
§ 21 Abs. 1 NAG stehe somit einer Bewilligung des Antrags entgegen. Der Gesetzgeber habe bereits bei Erlassung dieser Bestimmung auf die persönlichen Verhältnisse der Antragsteller Rücksicht genommen und die Regelung eines geordneten Zuwanderungswesens über die persönlichen Verhältnisse gestellt. Ein weiteres Eingehen auf die persönlichen Verhältnisse, auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK, sei entbehrlich.
Die Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger allein stelle noch kein Aufenthaltsrecht nach dem NAG dar.
Humanitäre Gründe im Sinn des § 72 NAG hätten seitens der belangten Behörde nicht erkannt werden können, weil keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts behauptet worden sei und auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme bestünden, dass das Leben der Beschwerdeführerin oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen hat:
Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass es sich beim gegenständlichen Antrag um einen Erstantrag handelt und dass sie entgegen dem für Erstanträge geltenden § 21 Abs. 1 NAG den Antrag nicht im Ausland gestellt und die Entscheidung darüber im Ausland abgewartet hat.
Das Recht, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland zu stellen und die Entscheidung darüber hier abzuwarten, kommt im vorliegenden Fall primär gemäß § 74 NAG (in der hier maßgeblichen Stammfassung) in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG (ebenfalls in der Stammfassung) vor, so ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei die Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann. § 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen einen Aufenthaltstitel zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinne dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch (etwa auf Familiennachzug) besteht (vgl. für viele etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/22/0216, mwN).
Art. 8 EMRK verlangt eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen mit dem persönlichen Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich. Dieses Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des besagten persönlichen Interesses ist aber auch auf die Auswirkungen, die eine fremdenpolizeiliche Maßnahme auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. wiederum das angeführte hg. Erkenntnis vom , mwN).
Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde in Verkennung der Rechtslage eine Auseinandersetzung mit den persönlichen Verhältnissen der Beschwerdeführerin zur Gänze unterlassen, weil sie davon ausgegangen ist, humanitäre Gründe im Sinn des § 72 NAG lägen nur im Fall einer Verfolgung oder Gefährdung nach § 50 FPG vor.
Im Hinblick auf die Ausführungen des Gerichtshofes der Europäischen Union im Urteil vom , C-256/11 - Dereci u.a., (vgl. insbesondere Randnr. 64 ff) hätte sich die belangte Behörde nach der Gewährung von Parteiengehör außerdem mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Versagung des von der Beschwerdeführerin beantragten Aufenthaltstitels dazu führen würde, dass ihr die österreichische Staatsbürgerschaft und somit die Unionsbürgerschaft besitzender Ehemann und/oder ihr 2006 geborenes Kind, ebenfalls österreichischer Staatsbürger und Unionsbürger, sich de facto gezwungen sähen, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen, womit ihnen die Inanspruchnahme des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt wäre. Auch in diesem Fall wären die Zulassung der Inlandsantragstellung und die Erteilung eines Aufenthaltstitels an die Beschwerdeführerin geboten.
Die belangte Behörde hat daher den angefochtenen Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Das Mehrbegehren betreffend den Ersatz der Umsatzsteuer war abzuweisen, weil diese in den Pauschalbeträgen nach der genannten Verordnung bereits enthalten ist.
Wien, am
Fundstelle(n):
EAAAE-84398