VwGH vom 17.12.2019, Ra 2019/18/0405
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter und die Hofrätinnen MMag. Ginthör und Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des L A, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W251 2184165-1/15E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
I. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, zurückgewiesen.
II. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen brachte er im Laufe des Verfahrens zusammengefasst vor, er sei in einem Dorf in der Provinz Ghazni geboren worden, habe Afghanistan aber nach dem Tod seines Vaters im Alter von fünf Jahren verlassen und fortan in Pakistan gelebt, ehe er die Flucht nach Europa angetreten habe. In Afghanistan wäre er als Hazara einer Gruppenverfolgung ausgesetzt; ihm drohe auch die Zwangsrekrutierung durch die Taliban. In Österreich sei er mittlerweile vom Islam abgefallen und habe eine westliche Lebensweise angenommen, aufgrund derer er in Afghanistan ebenfalls Verfolgung zu erwarten habe.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) in Bestätigung eines Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig. 3 Begründend erachtete das BVwG das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers für nicht glaubhaft. Es führte dazu insbesondere aus, dass nach den Länderberichten zu Afghanistan weder eine Gruppenverfolgung der Hazara noch eine Gefährdung des Revisionswerbers wegen drohender Zwangsrekrutierung festgestellt werden könne; spezielle, den Revisionswerber betreffende Gründe, die ihn zum Ziel einer Verfolgung machen könnten, seien nicht hervorgekommen. Nach den Ergebnissen des Beweisverfahrens sei der Revisionswerber auch nicht vom Islam abgefallen und habe keine Lebenseinstellung verinnerlicht, die ihn in Afghanistan exponieren und deshalb gefährden würde. Es sei ihm deshalb kein Asyl zu gewähren.
4 Zum subsidiären Schutz führte das BVwG aus, dem Revisionswerber drohe bei Rückkehr in die Provinz Ghazni aufgrund der dortigen volatilen Sicherheitslage ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Ihm stehe aber in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative offen. Die Sicherheitslage sei dort zwar angespannt, die Städte stünden aber unter der Kontrolle der afghanischen Regierung und seien über den Luftweg sicher erreichbar. Auch die Wohnraum- und Versorgungslage sei in den Städten Herat und Mazar-e Sharif sehr angespannt, der Revisionswerber könne dort aber grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose Situation zu geraten. Er sei in der Lage, selbst für sein Aus- und Fortkommen zu sorgen und in den genannten Städten einer Arbeit nachzugehen. Zusätzlich könne ihn seine Familie in Pakistan, deren finanzielle Situation "durchschnittlich" sei, bei einer Rückkehr nach Afghanistan finanziell unterstützen. Der Revisionswerber könne auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen, um zumindest übergangsweise sein Auslangen zu finden. Den aktuellen UNHCR-Richtlinien vom sei zu entnehmen, dass alleinstehende junge Männer im arbeitsfähigen Alter und ohne besondere Vulnerabilität auch ohne familiäre Anknüpfungspunkte in der Lage seien, sich in urbanen Gebieten, die unter der Kontrolle der Regierung stünden, anzusiedeln. Dies treffe auf die Städte Herat und Mazar-e Sharif zu. Auch den EASO-Guidelines sei zu entnehmen, dass für alleinstehende, junge und erwerbsfähige Männer eine innerstaatliche Fluchtalternative (unter anderem) in den Städten Herat und Mazar-e Sharif als zumutbar erachtet werde, auch wenn diese dort über kein Unterstützungsnetzwerk verfügen würden. 5 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die in der Zulassungsbegründung - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung ist - geltend macht, das BVwG habe sich nicht hinreichend damit beschäftigt, ob dem Revisionswerber in der Provinz Ghazni eine Gruppenverfolgung als Hazara drohe. Im Zusammenhang mit dem behaupteten Abfall des Revisionswerbers vom Islam habe das BVwG seine amtswegigen Ermittlungspflichten verletzt, weil es das Angebot des Revisionswerbers im Beschwerdeverfahren, Zeugen für seinen atheistischen Lebenswandel zu benennen, nicht aufgegriffen und das Beweisverfahren ergänzt habe. Hinsichtlich des subsidiären Schutzes habe das BVwG übersehen, dass die EASO-Guidelines für Afghanistan Personen mit dem Profil des Revisionswerbers, die lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, anders beurteilen als jene jungen und gesunden Männer, für welche diese Voraussetzung nicht zutrifft. Dem BVwG sei deshalb - in Abweichung von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung - ein relevanter Verfahrensmangel unterlaufen (Hinweis auf ).
6 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
7 Die Revision ist teilweise zulässig und begründet. 8 Zu Spruchpunkt I.:
9 Soweit sich die Revision gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, gelingt es ihr nicht, eine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG darzulegen. Nach der ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung wirft nämlich eine im Einzelfall vorgenommene, nicht als grob fehlerhaft erkennbare Beweiswürdigung im Allgemeinen keine derartige Rechtsfrage auf. Eine solche läge - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hätte (vgl. etwa , mwN). Letzteres vermag die Revision im Zusammenhang mit dem Vorbringen des Revisionswerbers zur Erlangung von Asyl nicht aufzuzeigen.
10 Das BVwG setzte sich mit der Situation der Hazara und der Frage einer drohenden Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit des Revisionswerbers zu dieser Volksgruppe auseinander und kam - gestützt auf Länderberichte - zu dem Ergebnis, dass von keiner Gruppenverfolgung ausgegangen werden könne. Dem vermag die Revision nichts Stichhaltiges entgegen zu setzen.
11 Gegen die - nachvollziehbar begründete - Feststellung des BVwG, der Revisionswerber sei vom Islam nicht abgefallen bzw. weise keine Lebenseinstellung auf, die ihn bei Rückkehr nach Afghanistan der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung aussetzen würde, führt die Revision nur ins Treffen, das BVwG habe zu Unrecht auf die Einvernahme von Zeugen zur behaupteten atheistischen Lebensweise verzichtet. Dazu ist festzuhalten, dass der anwaltlich vertretene Revisionswerber zwar nach Schluss der mündlichen Verhandlung am in einem Schriftsatz vom angeführt hatte, es gebe Personen aus seinem Umfeld, die bezeugen könnten, dass er sich nachhaltig vom Islam abgewandt habe. Einen Beweisantrag (unter Angaben von Namen und ladungsfähigen Adressen dieser Zeugen) stellte der Revisionswerber jedoch nicht, weshalb das BVwG auch nicht gehalten war, deshalb die Verhandlung wieder zu eröffnen oder den Revisionswerber aufzufordern, solche Zeugen präziser zu benennen. Daran ändert auch nichts, dass der Verwaltungsgerichtshof bei vollkommen anders gelagerten Sachverhalten (vgl. etwa ) die unterlassene Einvernahme von Zeugen als Verletzung der in § 18 Abs. 1 AsylG 2005 normierten amtswegigen Ermittlungspflicht und sohin als Verstoß gegen einen tragenden Grundsatz des Verfahrensrechts qualifiziert hat.
12 Zu Spruchpunkt II.:
13 Zulässig und berechtigt ist die Revision hingegen mit ihrem Vorbringen, das BVwG habe die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nur unzureichend geprüft und sei dabei von den höchstgerichtlichen Leitlinien abgewichen.
14 Nach den Feststellungen des BVwG wurde der mittlerweile 21jährige Revisionswerber in der afghanischen Provinz Ghazni geboren und flüchtete von dort nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters im Alter von fünf Jahren gemeinsam mit seiner Mutter und seinen zwei Schwestern nach Pakistan, wo er sich bis zu seiner Ausreise nach Europa aufhielt. Er spricht seine Muttersprache Dari mit starkem pakistanischen Akzent und hat weder in Afghanistan noch in Pakistan eine Schule besucht. An Berufserfahrungen hat er lediglich zwei Jahre als Rikscha-Fahrer in Pakistan aufzuweisen, wobei er diese Tätigkeit (folgt man seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung) ausübte, um mit den Einnahmen sein Leben und das seiner Angehörigen zu finanzieren. In Österreich ist er als Kochlehrling im 1. Lehrjahr tätig.
15 Zusammenfassend handelt es sich beim Revisionswerber also um einen Afghanen, der (seit seiner Kindheit) für sehr lange Zeit außerhalb Afghanistans lebte, über keine nennenswerte Ausbildung und nur geringe Berufserfahrungen verfügt. Er verfügt zwar über Kenntnisse einer in Afghanistan gebräuchlichen Sprache, sein Akzent weist ihn aber als eine Person aus, die nicht in Afghanistan, sondern in Pakistan groß geworden ist. 16 Das BVwG stellte weiters fest, dass die finanzielle Situation der Familie in Pakistan "durchschnittlich" sei und stützte sich dabei auf die Aussage des Revisionswerbers. Daraus folgerte das BVwG, dass die Familie den Revisionswerber bei Rückkehr nach Afghanistan finanziell unterstützen könne. Diese Einschätzung lässt außer Acht, dass der Revisionswerber nach eigenen Angaben - wie erwähnt - in Pakistan arbeiten musste, um sein Leben zu finanzieren und seine Angehörigen finanziell zu unterstützen. Diese Aussage steht mit der Annahme des BVwG, die Angehörigen könnten nun umgekehrt dem Revisionswerber bei einer Neuansiedlung in Afghanistan finanziell behilflich sein, in einem unaufgeklärten Widerspruch.
17 Das BVwG weist außerdem darauf hin, dass der Revisionswerber Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen könne, mit deren Hilfe er vorübergehend das Auslangen finden könne. In welchem Ausmaß diese Rückkehrhilfe gewährt wird und wie lange sie zur Unterstützung des Revisionswerbers dienen könnte, bleibt nach der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses aber offen. 18 Bei dieser Ausgangslage fällt maßgeblich ins Gewicht, dass das BVwG die Einschätzungen von EASO und UNHCR, denen das Unionsrecht besondere Bedeutung beimisst (siehe dazu etwa das im Folgenden angeführte hg. Erkenntnis), betreffend die Lage von Rückkehrern nach Afghanistan, nur unzureichend beachtet:
19 Zu Recht verweist die Revision auf das hg. Erkenntnis vom , Ra 2018/14/0308, das insoweit vergleichbar ist, als das BVwG auch dort die EASO-Country Guidance: Afghanistan als Beleg für die Annahme einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative für junge und erwerbsfähige Männer herangezogen hatte, ohne auf die in diesen Richtlinien vorgenommenen Differenzierungen hinsichtlich der betroffenen Personengruppen ausreichend Bedacht zu nehmen. Zur näheren Begründung wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf dieses Erkenntnis verwiesen.
20 Dass im dort entschiedenen Fall die EASO-Richtlinien in der Fassung von Juni 2018 von Bedeutung waren, während im gegenständlichen Fall bereits die Neufassung vom Juni 2019 anzuwenden war, ändert daran im Ergebnis nichts, weil auch die Neufassung für Personen mit dem Profil des Revisionswerbers, die sehr lange außerhalb Afghanistans gelebt haben, besondere Prüfkriterien aufstellt. So heißt es in diesen EASO-Guidelines vom Juni 2019 (S. 139) wörtlich:
"Afghan nationals who resided outside of the country over a prolonged period of time may lack essential local knowledge necessary for accessing basic subsistence means and basic services. An existing support network could also provide the applicant with such local knowledge. The background of the applicant, including their educational and professional experience and connections, as well as previous experience of living on their own outside Afghanistan, could be relevant considerations.
For applicants who were born and/or lived outside Afghanistan for a very long period of time, IPA (Internal Protection Alternative) may not be reasonable if they do not have a support network which would assist them in accessing means of basic subsistence."
21 Nach diesen Richtlinien kann eine innerstaatliche Fluchtalternative für Antragsteller, die außerhalb Afghanistans geboren wurden und/oder dort sehr lange Zeit gelebt haben, nicht zumutbar sein, wenn sie über kein unterstützendes Netzwerk verfügen, das ihnen dabei hilft, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Die Richtlinien verweisen darauf, dass bei der Prüfung der Zumutbarkeit der persönliche Hintergrund der betroffenen Person, insbesondere deren Selbständigkeit, die vorhandene Ausbildung und allfällige Berufserfahrungen, ins Kalkül gezogen werden müssen.
22 Diesen Anforderungen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht ausreichend entsprochen, indem es die Vorgaben in den genannten Richtlinien außer Acht gelassen und dem persönlichen Hintergrund des Revisionswerbers (vgl. Rn. 14 und 15) zu wenig Beachtung geschenkt hat. Es hat auch nicht mangelfrei begründet (vgl. Rn. 16 und 17), ob dem Revisionswerber Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, um in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können (vgl. zu diesen Anforderungen an eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative etwa , Rn. 23).
23 Wenn sich das BVwG in seiner Entscheidung auch auf UNHCR bezieht, so ist abschließend anzumerken, dass die Beurteilung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative nach den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom stets unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Antragstellenden erfolgen muss (vgl. S. 122). Die UNHCR-Richtlinien stehen damit zu den differenzierenden Prüfkriterien nach den EASO-Guidelines nicht im Widerspruch.
24 Da nicht auszuschließen ist, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensfehler im gegenständlichen Fall zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte gelangen können, war das angefochtene Erkenntnis in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Aussprüche gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben. In Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten war die Revision hingegen gemäß § 34 Abs. 1 VwGG als unzulässig zurückzuweisen. 25 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20
14.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019180405.L01 |
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