VwGH vom 07.05.2020, Ra 2019/18/0395

VwGH vom 07.05.2020, Ra 2019/18/0395

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision einerseits 1. von Z H, vertreten durch Mag. Wilfried Embacher, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8 (Ra 2019/18/0395), sowie andererseits von 2. S H, 3. M H, und 4. S H, alle vertreten durch Mag. Dr. Roland Kier, Rechtsanwalt in 1010 Wien, dieser wiederum vertreten durch Mag. Wilfried Embacher, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8 (Ra 2019/18/0386 bis 0388), gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , 1. W105 2152987-1/14E, 2. W105 2152789-1/23E, 3. W105 2152985-1/10E und 4. W105 2207561-1/2E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Spruchpunkt A.I.) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der zweitrevisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von 1.106,40 € binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Die Kostenmehrbegehren waren abzuweisen.

Begründung

1Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige Afghanistans und stammen aus der Provinz Paktia. Die Erstrevisionswerberin und der Zweitrevisionswerber sind die Eltern der minderjährigen Dritt- und Viertrevisionswerberinnen. Der Zweitrevisionswerber stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz, die Erst- und die Drittrevisionswerberin am . Zu ihren Fluchtgründen brachte die Erstrevisionswerberin unter anderem vor, sie habe in Afghanistan in einer Mädchenschule als Lehrerin gearbeitet. Sie habe kein freies, selbstbestimmtes Leben führen können und eine Burka tragen müssen. Die Viertrevisionswerberin stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz.

2Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies alle Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung sowohl des Status der Asylberechtigten als auch der subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte den revisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte die Zulässigkeit der Abschiebungen nach Afghanistan fest. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte es mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen fest.

3Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer Verhandlung hinsichtlich der Nichtgewährung des Status der Asylberechtigten als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.), erkannte den revisionswerbenden Parteien den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A.II.) und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen (Spruchpunkt A.III.). Die Revision erklärte es für nicht zulässig (Spruchpunkt B).

4Begründend führte das BVwG im Wesentlichen - soweit gegenständlich relevant - aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der Erstrevisionswerberin in Afghanistan eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende Verfolgung drohe. Die Erstrevisionswerberin habe in der Provinz Paktia, die zu den unruhigeren Gebieten Afghanistans gehöre, ihrer beruflichen Tätigkeit unbehelligt nachgehen können. Ihre Lebensweise sei bereits in Afghanistan selbstbestimmt gewesen, wo sie unter anderem eine Schul- und Berufsausbildung genossen habe. Sie sei imstande gewesen, als Lehrerin zu arbeiten, ohne damit drastisch gegen die dortigen Sitten zu verstoßen, und sei somit offensichtlich zum vormaligen Zeitpunkt in Afghanistan nicht als besonders exponiert wahrgenommen worden. In Österreich kümmere sie sich in erster Linie um die Kindererziehung, nehme an Sprachkursen teil und betreibe Sport. Nicht erkannt werden könne, dass die Erstrevisionswerberin sich mit dem westlichen Lebensbild von Frauen auseinandergesetzt oder nunmehr eine gänzliche Änderung in ihrer Persönlichkeit hin zu einer westlichen Orientierung vollzogen habe, weshalb nicht positiv festgestellt werden könne, dass die westliche Orientierung der Erstrevisionswerberin im Hinblick auf das Frauen- und Gesellschaftsbild ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden sei.

5Beweiswürdigend hielt das BVwG fest, dass bei der Erstrevisionswerberin insgesamt keine Umstände hervorgekommen seien, die die Annahme einer „westlichen Lebensweise“ rechtfertigten, die zudem bereits ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden sei. Die Tatsache, dass die Erstrevisionswerberin nach der Geburt ihres ersten Kindes im Jahre 2015 offenbar ihre Tätigkeit als Lehrerin beendet und unterbrochen und nach der Einreise in das österreichische Bundesgebiet ein weiteres Kind zur Welt gebracht habe, zeige vielmehr, dass sie diesbezüglich ein traditionelles Frauenbild für den Zeitraum der ersten Jahre der Kinder lebe. Letztlich sei die eingeschränkte Lebensweise der Erstrevisionswerberin in Österreich und ihr Selbstverständnis der Situation von Frauen kein Ausdruck einer „westlichen Geisteshaltung“, innerhalb derer eine selbstbestimmte Lebensweise einen unabdingbaren Aspekt darstelle, weil sie damit kein freibestimmtes Leben nach westlichen Normen führe oder für sich in Anspruch nehme. So habe sich die Erstrevisionswerberin insbesondere nicht auf intellektueller Ebene mit der Situation von westlichen Frauen auseinandergesetzt.

6Mit Beschluss vom , E 868-871/2019-5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerden ab und trat mit Beschluss vom , E 868-871/2019-7, über nachträglich gestellten Antrag, die Beschwerden dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

7In den Revisionen gegen Spruchpunkt A.I. des Erkenntnisses des BVwG wird zur Zulässigkeit - soweit für die Revisionsverfahren entscheidungswesentlich - zusammengefasst vorgebracht, das BVwG sei von der - näher genannten - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur westlichen Orientierung abgewichen. Aufgrund der getroffenen Feststellungen zum Lebensstil und zur Einstellung der Erstrevisionswerberin hätte das BVwG im Zusammenhang mit den aktuellen Länderberichten zur Entscheidung kommen müssen, dass ihr aufgrund ihrer westlichen Orientierung asylrelevante Verfolgung drohe. Das BVwG habe auch nicht nachvollziehbar begründet, wie es trotz des Vorbringens der Erstrevisionswerberin eine westliche Orientierung verneine. Ebenso wenig habe das BVwG begründet, wieso der Erstrevisionswerberin in Afghanistan keine Verfolgung drohe, zumal sie einer Berufstätigkeit als Lehrerin nachgegangen sei. Da die gegenständlichen Asylverfahren als Familienverfahren im Sinne des § 34 Asylgesetz 2005 geführt worden seien, wäre auch den Zweit- bis Viertrevisionswerbern der gleiche Status wie der Erstrevisionswerberin zuzuerkennen gewesen. Die Revisionen wurden alle von demselben Rechtsanwalt unterschrieben und eingebracht.

8Das BFA hat keine Revisionsbeantwortungen erstattet.

9Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revisionen wegen ihres sachlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Beschlussfassung verbunden und in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10Die Revisionen sind zulässig und auch begründet.

11Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren. Es sind daher konkrete Feststellungen zur Lebensweise der Asylwerberin im Entscheidungszeitpunkt zu treffen und ihr diesbezügliches Vorbringen ist einer Prüfung zu unterziehen (vgl. , mwN).

12Nicht entscheidend ist, ob die Asylwerberin schon vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat eine derartige Lebensweise gelebt hatte bzw. deshalb bereits verfolgt worden ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie diese Lebensweise im Zuge ihres Aufenthalts in Österreich angenommen hat und bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsste (vgl. etwa bis 1000).

13Wenn das BVwG im angefochtenen Erkenntnis augenscheinlich vorrangig lediglich prüft, inwieweit sich die Lebenseinstellung der Erstrevisionswerberin in Österreich verändert habe, geht es von einem falschen Prüfansatz aus. Entscheidend ist nach der oben angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ob die Erstrevisionswerberin im Falle einer Rückkehr ihre grundlegende Lebenseinstellung weiterhin leben könne. Das BVwG hätte sich somit vielmehr - wie es die Revision der Erstrevisionswerberin auch zutreffend aufzeigt - damit auseinandersetzen müssen, wie es der Erstrevisionswerberin erginge, wenn sie bei Rückkehr ihren bisherigen Lebensstil weiter führen würde (vgl. erneut , mwN).

14Dies hat das BVwG jedoch gegenständlich gerade nicht untersucht.

15Da das BVwG im Revisionsfall im Hinblick auf die Vulnerabilität der minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen auch die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative (etwa in Herat oder Mazar-e Sharif) zu Recht ausgeschlossen hat, kann sich diese Prüfung zudem nur auf die Herkunftsregion der Erstrevisionswerberin Paktia beziehen, wo das BVwG selbst von einer „erhöhte[n] Aktivität der Taliban-Rebellengruppen“ spricht, und der Erstrevisionswerberin folglich auch subsidiären Schutz zuerkannt hat.

16Dass die Erstrevisionswerberin angesichts dieser Feststellungen zu Paktia ihre bisherige in ihrem Herkunftsstaat schon unkonventionelle Lebensweise als berufstätige selbstbewusste Frau und Lehrerin im Falle einer Rückkehr aufrecht erhalten könnte, ist für den Verwaltungsgerichtshof nicht nachvollziehbar. Dass sie ihren Beruf aufgrund der Geburt ihres ersten Kindes unterbrochen hat und derzeit aufgrund der Geburt eines weiteren Kindes nicht berufstätig ist, ändert daran nichts. Im Übrigen fehlt es dem BVwG für die oben dargestellte Prognoseentscheidung auch an der gebotenen Auseinandersetzung mit dem gesamten Vorbringen der Erstrevisionswerberin zu ihren zusätzlich in Österreich erworbenen Freiheiten.

17In diesem Zusammenhang ist im Übrigen daran zu erinnern, dass es im Allgemeinen nicht die Aufgabe eines Verwaltungsgerichtes ist, Aussagen zu treffen, etwas könne nicht festgestellt werden. Vielmehr hat es - unter Bedachtnahme auf das im Grunde des § 17 VwGVG auch für die Verwaltungsgerichte maßgebliche Prinzip der Amtswegigkeit - regelmäßig ein Ermittlungsverfahren zu führen und nach Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Beweismittel in seiner Entscheidung zu den fallbezogen wesentlichen Sachverhaltsfragen eindeutig Stellung zu nehmen (vgl. , mwN).

18Der Umstand, dass ein Erkenntnis eines Familienangehörigen aufgehoben wird, schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. , mwN). Eine etwaige asylrelevante Verfolgung der Erstrevisionswerberin würde im Familienverfahren somit auch zu einer Gewährung des Status von Asylberechtigten an die zweit- bis viertrevisionswerbenden Parteien führen.

19Das angefochtene Erkenntnis war daher im Anfechtungsumfang (Spruchpunkt A.I.) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

20Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Da die vier revisionswerbenden Parteien ein einziges Erkenntnis in vier getrennten Revisionsen angefochten haben, die alle durch denselben Rechtsanwalt unterschrieben und eingebracht worden sind, ist Aufwandersatz gemäß § 53 Abs. 2 iVm Abs. 1 VwGG nur der zweitrevisionswerbenden Partei zu zahlen (vgl. ).

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180395.L00

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