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VwGH vom 07.04.2011, 2008/22/0286

VwGH vom 07.04.2011, 2008/22/0286

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Merl und Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde von

1. S 2. E, 3. mj. S 4. mj. R, 5. mj. F), 6. mj. L, alle vertreten durch Rechtsanwaltsgemeinschaft Mory Schellhorn OEG in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom , Zl. 317.201/2- III/4/06, betreffend Niederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Erstbeschwerdeführer, ein mazedonischer Staatsangehöriger, reiste am illegal nach Österreich ein. Zufolge den Feststellungen im angefochtenen Bescheid stellte er am einen Asylantrag, der "am erstinstanzlich rechtskräftig negativ entschieden" wurde. Im März 2003 wurde "zweitinstanzlich gemäß § 8 AsylG" festgestellt, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Mazedonien zulässig sei. Ein weiterer Asylantrag vom wurde "am gemäß § 68 AVG zweitinstanzlich rechtskräftig zurückgewiesen".

Die Ehefrau des Erstbeschwerdeführers (die Zweitbeschwerdeführerin) reiste gemeinsam mit den drei ältesten Kindern (den dritt- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien) mit einem von der Botschaft Zürich für Spanien ausgestellten Visum (gültig bis ) am legal nach Österreich ein. Der von ihr für sich und die Kinder am eingebrachte Asylerstreckungsantrag wurde zufolge den Feststellungen im angefochtenen Bescheid "am zweitinstanzlich rechtskräftig negativ entschieden". Gleichzeitig wurde gemäß § 8 Asylgesetz 1997 festgestellt, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Mazedonien zulässig sei. Neuerliche Asylanträge vom wurden gegenüber der Zweitbeschwerdeführerin "am gemäß § 68 AVG rechtskräftig zurückgewiesen", gegenüber den dritt- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien "am zweitinstanzlich rechtskräftig negativ entschieden", wobei gleichzeitig gemäß § 8 Asylgesetz 1997 festgestellt wurde, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Mazedonien zulässig sei.

Der Sechstbeschwerdeführer hält sich seit seiner Geburt am in Österreich auf.

Am stellten die beschwerdeführenden Parteien Anträge auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen gemäß § 19 Abs. 2 Z. 6 Fremdengesetz 1997, verbunden mit der "Eventualanregung" auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis gemäß § 10 Abs. 4 Fremdengesetz 1997.

Diese Anträge wurden mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres (der belangten Behörde) abgewiesen.

Begründend führte die belangte Behörde zunächst aus, dass das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz gemäß dessen § 82 Abs. 1 mit in Kraft getreten sei. Verfahren auf Erteilung von Aufenthalts- und Niederlassungsberechtigungen, die bei Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes anhängig seien, seien nach dessen Bestimmungen zu Ende zu führen.

Nach geltender Rechtslage sei der Antrag des Erstbeschwerdeführers vom als Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 73 Abs. 1 und 2 NAG zu werten. Da die Erteilung einer solchen Bewilligung "dem Prinzip der Amtswegigkeit" unterliege, sei eine Antragstellung nicht zulässig.

Die Anträge der Zweitbeschwerdeführerin sowie der dritt- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien seien als Anträge auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 73 Abs. 4 NAG zu werten. Solle gemäß dieser Bestimmung aus humanitären Gründen eine Niederlassungsbewilligung beschränkt im Fall einer Familienzusammenführung (§ 46 Abs. 4 NAG) erteilt werden, habe die Behörde auch über einen gesonderten Antrag als Vorfrage zur Prüfung humanitärer Gründe (§ 72 NAG) zu entscheiden und gesondert über diesen abzusprechen, wenn dem Antrag nicht Rechnung getragen werde. Ein solcher Antrag sei nur zulässig, wenn gleichzeitig ein Antrag in der Hauptfrage auf Familienzusammenführung eingebracht werde oder ein solcher bereits anhängig sei.

Im Zuge des gegenständlichen Verfahrens sei das Vorliegen humanitärer Gründe behauptet und eine Überprüfung im Sinne des § 72 NAG von Amts wegen durchgeführt worden. Mit den Anträgen vom hätten die beschwerdeführenden Parteien angeführt, dass sie alle maßgeblichen Lebensinteressen in Österreich "zentriert" hätten und für sie eine Rückkehr in ihre Heimat unmöglich wäre.

Auf Grund der Anführung von wirtschaftlichen Gründen sei aber kein ausreichender besonders berücksichtigungswürdiger humanitärer Aspekt gegeben. Es könnten zwar berechtigte Interessen an einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der beschwerdeführenden Parteien durch die Auswanderung nach Österreich festgestellt werden, aber keinerlei humanitäre Gründe für die Erteilung eines diesbezüglichen Aufenthaltstitels. Der Erstbeschwerdeführer sei zwar im Besitz eines "arbeitsrechtlichen Dokumentes", jedoch sei diesbezüglich festzuhalten, dass er diese Bewilligung nur auf Grund eines vorläufigen Aufenthaltsrechtes nach dem Asylgesetz erwirken habe können. Auf Grund der durch die zweite Instanz ergangenen abweisenden Entscheidungen im asylrechtlichen Verfahren sei eindeutig ersichtlich, dass die beschwerdeführenden Parteien keiner Verfolgung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen ausgesetzt seien. Das "Fehlen von Anknüpfungspunkten im Heimatland und die Integration in Österreich" stellten "keine Grundlage für einen besonders berücksichtigungswürdigen Fall" dar.

Im vorliegenden Fall sei daher festgestellt worden, dass kein besonders berücksichtigungswürdiger humanitärer Aspekt gegeben sei. Vielmehr sei die Vorgehensweise der beschwerdeführenden Parteien eine Umgehung der Einwanderungsbestimmungen bzw. würde es den Intentionen eines vorläufigen Aufenthaltsrechtes widersprechen, wenn sich aus dem negativen Abschluss eines Asylverfahrens ein Daueraufenthalt entwickeln solle. Es könne dem Erstbeschwerdeführer und seiner Familie der Zuzug nach Österreich unter Einhaltung der üblichen gesetzlichen Bestimmungen und unter Berücksichtigung der Quotensituation zugemutet werden. "Konsequenterweise" könne den Eventualanregungen auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 10 Abs. 4 Fremdengesetz 1997 (was nach geltender Rechtslage nunmehr einer Anregung auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen gemäß § 72 NAG entspreche) ebenfalls nicht "zugestimmt" werden. Eine Inlandsantragstellung werde gemäß § 74 NAG von Amts wegen nicht zugelassen.

Aus den zuvor angeführten Gründen seien die Berufungen abzuweisen gewesen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Die Anträge wurden im zeitlichen Geltungsbereich des (bis in Kraft gestandenen) Fremdengesetzes 1997 gestellt. Das bei Inkrafttreten des NAG (am ) noch anhängige Verfahren war aber, wie die belangte Behörde zutreffend erkannte, gemäß § 81 Abs. 1 NAG nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zu Ende zu führen. Der Antrag des Erstbeschwerdeführers war demnach als auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung beschränkt" gemäß § 73 Abs. 2 NAG (in der bis zum geltenden Stammfassung, vor seiner Änderung durch die Novelle BGBl. I Nr. 29/2009) gerichtet zu qualifizieren. Nach dieser maßgeblichen Rechtslage erweist sich die Antragstellung als unzulässig. Die belangte Behörde hat aber den Antrag nicht zurückgewiesen, sondern zum Anlass genommen, um von Amts wegen zu prüfen, ob humanitäre Gründe im Sinne des § 72 NAG (ebenfalls in der Stammfassung) für die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung vorliegen.

Die Anträge der zweit- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien hat die belangte Behörde im Ergebnis zutreffend als solche auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" für Familienangehörige von Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 Abs. 4 NAG, verbunden mit Feststellungsanträgen gemäß § 73 Abs. 4 NAG, qualifiziert.

§ 73 Abs. 4 NAG (in der Stammfassung) sieht die Möglichkeit vor, eine "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" aus humanitären Gründen (im Sinne des § 72 NAG) in Fällen der Familienzusammenführung zu beantragen. Wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, kann der Drittstaatsangehörige entweder gleichzeitig mit der Einbringung eines Antrages auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung zum Zweck der Familienzusammenführung gemäß § 46 Abs. 4 NAG oder während der Anhängigkeit eines Verfahrens hierüber zur Klärung der "Vorfrage", ob humanitäre Gründe vorliegen, gemäß § 73 Abs. 4 NAG einen gesonderten Antrag auf Feststellung einbringen. Dieser Antrag kann vom Ausland oder vom Inland aus gestellt und die Entscheidung darüber im Ausland oder im Inland abgewartet werden, denn ein Antrag nach § 73 Abs. 4 NAG ist von § 21 Abs. 1 NAG nicht umfasst und darf daher nicht wegen Inlandsantragstellung abgewiesen werden (vgl. zB das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/18/0286). § 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch besteht (vgl. zB das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/22/0087).

Art. 8 EMRK verlangt eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen mit dem persönlichen Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich. Bei der Einschätzung des besagten persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die die fremdenpolizeiliche Maßnahme auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer fremdenpolizeilichen aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegensteht bzw. humanitäre Gründe im Sinn der §§ 72 ff NAG zu bejahen sind. Maßgeblich sind dabei die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität und die Schutzwürdigkeit des Privatlebens; weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert; sowie die Bindungen zum Heimatstaat. Aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, sind bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (vgl. zum Ganzen näher das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/22/0592, mwN).

Die beschwerdeführenden Parteien haben im Verwaltungsverfahren humanitäre Gründe vorgebracht. Sie haben insbesondere auf ihren mehrjährigen Aufenthalt, die - abgesehen von saisonalen Unterbrechungen - durchgängige legale Beschäftigung des Erstbeschwerdeführers seit dem Jahr 2002, ihre soziale Integration, die Situation der minderjährigen Kinder (der drittbis sechstbeschwerdeführenden Parteien), die in Österreich Schule und Kindergarten besuchten (wobei das jüngste Kind bereits in Österreich geboren wurde), und den Verlust der Existenzgrundlage sowie die mangelnde Wohnmöglichkeit in ihrer Heimat hingewiesen. Der belangten Behörde ist nun vorzuwerfen, dass sie bei der gegenständlichen Entscheidung nicht sämtliche nach der Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigende Umstände miteinbezogen, sondern lediglich darauf abgestellt hat, dass wirtschaftliche Gründe keinen besonders berücksichtigungswürdigen humanitären Aspekt darstellten, dass das "arbeitsrechtliche Dokument" des Erstbeschwerdeführers nur auf Grund eines vorläufigen Aufenthaltsrechts nach dem Asylgesetz habe erwirkt werden können und dass im Hinblick auf die abweisenden Asylentscheidungen eindeutig ersichtlich sei, dass die beschwerdeführenden Parteien keiner Verfolgung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen ausgesetzt seien. Dadurch, dass die belangte Behörde - wie oben wiedergegeben - dem "Fehlen von Anknüpfungspunkten im Heimatland" und der "Integration in Österreich" von vornherein die Eignung als "Grundlage für einen besonders berücksichtigungswürdigen Fall" abgesprochen hat, hat sie, wie aus dem Gesagten ersichtlich, die Rechtslage - schon vom Ansatz her - verkannt (vgl. zB das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/22/0280, mwN; das im angefochtenen Bescheid zitierte hg. Erkenntnis vom , Zl. 2006/18/0020, betraf die Rechtslage vor In-Kraft-Treten des NAG). Dies umso mehr vor dem Hintergrund, dass die die beschwerdeführenden Parteien betreffenden Ausweisungsbescheide mit den hg. Erkenntnissen vom , Zl. 2006/18/0267 und Zl. 2006/18/0268, behoben wurden und nicht festgestellt wurde, dass in weiterer Folge rechtskräftige Ausweisungen erlassen wurden.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Wien, am

Fundstelle(n):
DAAAE-84287