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VwGH vom 26.02.2020, Ra 2019/18/0299

VwGH vom 26.02.2020, Ra 2019/18/0299

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter sowie die Hofrätinnen MMag. Ginthör und Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision 1. von A O, 2. A O, 3. H O, sowie

4. Y O, alle vertreten durch Mag. Kai Ruckelshausen, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Gauermanngasse 2-4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , 1. W144 2219193-1/5E,

2. W144 2219194-1/2E, 3. W144 2219195-1/2E und 4. W144 2219196- 1/2E, betreffend Einreisetitel gemäß § 35 AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Österreichische Botschaft Addis Abeba), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien, Staatsangehörige von Somalia, beantragten am die Erteilung von Einreisetiteln gemäß § 35 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Sie gaben an, die minderjährigen Kinder eines in Österreich asylberechtigten, ebenfalls somalischen Staatsangehörigen zu sein. Ihrem Vater sei im Familienverfahren bezogen auf seine zweite Ehegattin, ebenfalls eine somalische Staatsangehörige, am der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden. 2 Diese Anträge wurden dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zugeleitet, das nach Prüfung mitgeteilt hat, die Gewährung des Status der Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen des Familienverfahrens sei nicht wahrscheinlich. 3 Mit Bescheid vom wies die Österreichische Botschaft Addis Abeba den Antrag der revisionswerbenden Parteien ab. Begründend führte sie aus, dass die revisionswerbenden Parteien die Erfüllung der Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 nicht hätten nachweisen können. Ihre Einreise erscheine auch nicht zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten. 4 Die revisionswerbenden Parteien erhoben Beschwerde, welche die Österreichische Botschaft Addis Abeba mit Beschwerdevorentscheidung vom abwies. Die revisionswerbenden Parteien beantragten die Vorlage ihrer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde gemäß § 35 Abs. 1 und 5 AsylG 2005 als unbegründet ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte es für nicht zulässig.

6 Das BVwG stellte fest, dass die Bezugsperson der revisionswerbenden Parteien zweimal verheiratet gewesen sei. Aus erster Ehe entstammten die revisionswerbenden Parteien. Sie seien somit die Kinder der Bezugsperson. Aus zweiter Ehe der Bezugsperson (des Vaters der revisionswerbenden Parteien) entstammten drei weitere Kinder, die sich bereits in Österreich befänden. Die zweite Ehefrau der Bezugsperson habe ihrerseits aus erster Ehe vier Kinder, die sich ebenfalls in Österreich aufhielten. Die Bezugsperson lebe in einer 30 bis 35 m2 großen Wohnung, die nur aus einem Wohn- und Schlafraum bestehe. Sie verfüge über monatliche Einkünfte in der Höhe von EUR 1.350,--, wobei Wohnkosten in der Höhe von monatlich EUR 423,-- anfielen. Es sei zudem "unklar", ob angesichts der Vorlage von lediglich zwei Lohnzetteln die genannten Einkünfte nachhaltig erzielt werden könnten.

7 Weiters habe nicht festgestellt werden können, dass die revisionswerbenden Parteien mit der Bezugsperson seit dem Tod der Mutter ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK geführt bzw. ein solches Familienleben später wieder aufgenommen hätten. Vielmehr sei dieses Familienleben seit der neuerlichen Eheschließung der Bezugsperson "untergegangen".

8 Beweiswürdigend führte das BVwG aus, es falle zum Einen auf, dass die Bezugsperson in ihrem schriftlichen Einreiseantrag trotz Aufforderung, alle Kinder zu nennen, lediglich die zwei bei ihm in Somalia verbliebenen Kinder aus zweiter Ehe angegeben habe. Da die zweite Ehegattin der Bezugsperson in dem Verfahren betreffend ihren Antrag auf internationalen Schutz ausdrücklich erklärt habe, dass die Bezugsperson vorher weder verheiratet gewesen sei noch Kinder gehabt habe und dass es ausschließlich die drei gemeinsamen Kinder der Bezugsperson aus zweiter Ehe gebe, könnte die Annahme naheliegen, dass die revisionswerbenden Parteien nicht die leiblichen Kinder der Bezugsperson seien. Dem stehe jedoch gegenüber, dass die Bezugsperson in ihrem Asylverfahren im Rahmen der Erstbefragung bereits angegeben habe, dass sie vier aus einer ersten Ehe stammende Kinder habe. Wenn man davon ausgehe, dass weder die Bezugsperson noch die zweite Ehegattin wider besseres Wissen unzutreffende Angaben zu Protokoll gegeben hätten, könnten die Widersprüche nur dergestalt aufgelöst werden, dass die revisionswerbenden Parteien die Kinder der Bezugsperson aus erster Ehe seien und dass die zweite Ehegattin von den revisionswerbenden Parteien keinerlei Kenntnis gehabt habe.

9 Dies führe bei einer gesamthaften Betrachtung zu dem Schluss, dass die Bezugsperson nach dem Tod der ersten Ehegattin (der Mutter der revisionswerbenden Parteien) keinerlei Familienleben mit den revisionswerbenden Parteien mehr geführt habe. Es entstehe daher der Eindruck, dass sich die Bezugsperson nach dem Tod der ersten Ehegattin um die revisionswerbenden Parteien nicht in familiärer Art gekümmert habe. Ganz offensichtlich hätten die revisionswerbenden Parteien nicht im gemeinsamen Haushalt mit der zweiten Ehegattin und der Bezugsperson gelebt. Die Einschätzung, dass die Bezugsperson nach dem Tod der ersten Ehegattin keinerlei Familienleben und keinerlei Bindung mehr zu den revisionswerbenden Parteien gehabt habe, werde auch durch den Umstand verstärkt, dass die Bezugsperson zum Teil "grob falsche" Angaben zum Alter der revisionswerbenden Parteien erstattet habe. Hätte die Bezugsperson sich immerwährend auch nach ihrer Einreise nach Österreich um die revisionswerbenden Parteien gekümmert und von Österreich aus den Kontakt zu ihnen aufrecht erhalten, so erschiene es nach menschlichem Ermessen nicht vorstellbar, dass ein Vater das Alter seiner Kinder nicht habe richtig angeben können. Das Abbrechen des Kontaktes der Bezugsperson zu den revisionswerbenden Parteien könne auch nicht auf fluchtauslösende Umstände zurückgeführt werden. Die Bezugsperson habe sich erst im Jahr 2014 zur Ausreise nach Österreich entschlossen. Die zweite Ehegattin der Bezugsperson sei erst im März 2013 ausgereist, sodass jedenfalls nach dem Tod der ersten Ehegattin im Jahr 2008 bis zur Ausreise der zweiten Ehegattin mehrere Jahre verstrichen seien, in denen ein familiärer Kontakt hätte aufrecht erhalten werden können, aber offensichtlich nicht aufrechterhalten worden sei.

10 In rechtlicher Hinsicht erwog das BVwG, die vorliegenden Anträge seien mehr als drei Monate nach der am erfolgten Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an die Bezugsperson gestellt worden. Es seien daher die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 zu erfüllen. Da weder ausreichende finanzielle Mittel noch eine ortsübliche Unterkunft nachgewiesen worden seien, sei zu prüfen, ob fallbezogen gemäß § 35 Abs. 4 Z 3 letzter Halbsatz AsylG 2005 von der Verpflichtung zur Erfüllung der genannten Voraussetzungen abzusehen sei. 11 Wie sich aus den im angefochtenen Erkenntnis getroffenen Feststellungen und den diesen zugrunde liegenden beweiswürdigenden Erwägungen ergebe, liege fallbezogen "keinerlei familiäre Beziehungsintensität" mehr zur Bezugsperson vor. Dabei werde nicht verkannt, dass das Familienleben von minderjährigen Kindern und ihren Eltern nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen "untergehe", und etwa auch eine vorübergehende Trennung nicht zur Folge habe, dass gleichsam jede Bindung aufgehoben erscheine. Solche außergewöhnlichen Umstände lägen jedoch hier vor, wobei diesbezüglich auf die Erwägungen des BVwG zur Beweiswürdigung verwiesen und bloß exemplarisch in Erinnerung gerufen werde, dass die Bezugsperson bei zwei Kindern nicht einmal das Alter habe annähernd richtig angeben können. Vor diesem Hintergrund sei die Einreise der revisionswerbenden Parteien nicht geboten, um ein Familienleben mit der Bezugsperson aufrechtzuerhalten. 12 Weiters gab das BVwG die Beschwerdevorentscheidung auszugsweise wieder und verwies darauf, dass bereits die Österreichische Botschaft Addis Abeba zur Frage der Familienzusammenführung, zu dem Verhältnis von § 35 AsylG 2005 zu den Bestimmungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) sowie zur Berücksichtigung des Kindeswohls Stellung genommen habe. 13 Demnach ergebe sich zusammengefasst, dass nur dann, wenn (ausnahmsweise) eine Familienzusammenführung im Grunde von § 46 NAG nicht hinreiche, sondern Art. 8 EMRK die Zuerkennung eines asylrechtlichen Schutzstatus für den Familienangehörigen nach § 34 und 35 AsylG 2005 gebiete, die Regelung des § 35 Abs. 4 Z 3 letzter Halbsatz AsylG 2005 zum Tragen komme. Eine solche Ausnahmesituation sei jedoch fallbezogen nicht ersichtlich. Auch wenn man vom Bestehen eines aufrechten Familienlebens der revisionswerbenden Parteien mit der Bezugsperson ausginge, sei die familiäre Situation zumindest nicht als so außergewöhnlich anzusehen, dass (ausnahmsweise) eine Familienzusammenführung im Grunde von § 46 NAG nicht ausreiche, sondern Art. 8 EMRK gebiete, den revisionswerbenden Parteien einen asylrechtlichen Schutzstatus nach § 34 und 35 AsylG 2005 zuzuerkennen.

14 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Begründung ihrer Zulässigkeit geltend macht, das BVwG sei insoweit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, als es die revisionswerbenden Parteien, die unstrittig die minderjährigen Kinder der in Österreich asylberechtigten Bezugsperson seien, auf andere Einreisetitel nach dem NAG verwiesen habe, obwohl die revisionswerbenden Parteien Familienangehörige im Sinn von § 35 Abs. 5 AsylG 2005 seien. Im Übrigen habe das BVwG unzutreffender Weise das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 35 Abs. 4 Z 3 letzter Halbsatz AsylG 2005 in Verbindung mit Art. 8 EMRK verneint.

15 Die Österreichische Botschaft Addis Abeba erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der die Zurückweisung, hilfsweise die Abweisung der Revision beantragt wird.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

16 Die Revision erweist sich als zulässig und begründet. 17 Gemäß § 35 Abs. 1 AsylG 2005 kann der Familienangehörige (im Sinne des § 35 Abs. 5 leg. cit.) eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde und der sich im Ausland befindet, zwecks Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels bei der österreichischen Vertretungsbehörde im Ausland stellen. Erfolgt die Antragstellung auf Erteilung eines Einreisetitels mehr als drei Monate nach rechtskräftiger Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, sind die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 (Vorhandensein einer ortsüblichen Unterkunft, eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes sowie ausreichender Einkünfte, um finanzielle Belastungen einer Gebietskörperschaft zu vermeiden) zu erfüllen.

18 Nach § 35 Abs. 4 AsylG 2005 hat die Vertretungsbehörde dem Fremden aufgrund eines Antrags auf Erteilung eines Einreisetitels nach Abs. 1 ohne weiteres ein Visum zur Einreise zu erteilen, wenn das BFA mitgeteilt hat, dass die Stattgebung eines Antrages auf internationalen Schutz durch Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten wahrscheinlich ist. Eine derartige Mitteilung darf das BFA (u.a.) gemäß § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 nur dann erteilen, wenn im Falle eines Antrages nach § 35 Abs. 1 letzter Satz AsylG 2005 die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 leg. cit. erfüllt sind, es sei denn, die Stattgebung des Antrages ist gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten.

19 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt erkannt, dass die Vertretungsbehörde im Ausland an die Mitteilung des BFA über die Prognose einer Asylgewährung gebunden ist, und zwar sowohl an eine negative als auch an eine positive Mitteilung. Allerdings steht es dem BVwG offen, auch die Einschätzung des BFA über die Wahrscheinlichkeit der Gewährung internationalen Schutzes an den Antragsteller auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Gegenstand der Überprüfung durch das BVwG ist dabei, ob die Prognose des BFA hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der Gewährung internationalen Schutzes an die Antragsteller im Rahmen eines (späteren) Familienverfahrens nach § 34 AsylG 2005 zutreffend erfolgt ist und die sonstigen Voraussetzungen des § 35 Abs. 4 AsylG 2005 erfüllt sind (vgl. etwa , mwN).

20 Ausgehend von den Feststellungen des BVwG sind die revisionswerbenden Parteien die zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG minderjährigen (ledigen) Kinder der in Österreich asylberechtigten Bezugsperson. Es handelt sich somit um Familienangehörige im Sinn von § 35 Abs. 5 AsylG 2005, denen nach Einreise in das Bundesgebiet grundsätzlich ein Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 2 AsylG 2005 eröffnet ist.

21 Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen hat, wollte der Gesetzgeber die Erteilung von Aufenthaltstiteln in jenen Konstellationen, die § 34 Abs. 2 AsylG 2005 unterliegen, nicht über das NAG, sondern über das AsylG 2005 regeln (). Es waren folglich im Revisionsfall die in § 35 AsylG 2005 genannten Voraussetzungen für die Erteilung von Einreisetiteln zu prüfen.

22 Die vorliegenden Anträge wurden zu einem Zeitpunkt gestellt, als bereits mehr als drei Monate seit Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an die Bezugsperson vergangen waren. Ein konkretes Vorbringen zum Vorliegen besonderer Umstände, aufgrund derer die Versäumung der dreimonatigen Frist objektiv entschuldbar gewesen sei (siehe zu solchen Konstellationen ; ), wurde im vorliegenden Verfahren nicht erstattet.

23 Die revisionswerbenden Parteien hatten daher hinsichtlich der Erteilungsvoraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 die entsprechenden Nachweise zu erbringen. Das BVwG hielt dazu - von der Revision unbestritten - fest, dass die Einkünfte der Bezugsperson der Höhe nach nicht ausreichend und die ins Treffen geführte Unterkunft nicht ortsüblich seien.

24 Somit hatte im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gemäß § 35 Abs. 4 Z 3 letzter Halbsatz AsylG 2005 eine Auseinandersetzung mit der Frage zu erfolgen, ob die Erteilung der von den revisionswerbenden Parteien beantragten Einreisetitel zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten war. Dazu ist im Hinblick auf die im angefochtenen Erkenntnis angestellten Überlegungen Folgendes festzuhalten:

25 Die von der Behörde vertretene Rechtsauffassung, der sich auch das BVwG anschloss, wonach die Regelung des § 35 Abs. 4 Z 3 letzter Halbsatz AsylG 2005 nur dann zum Tragen komme, wenn ausnahmsweise eine Familienzusammenführung im Grunde von § 46 NAG nicht hinreiche, sondern Art. 8 EMRK die Zuerkennung eines asylrechtlichen Schutzstatus für den Familienangehörigen nach § 34 und 35 AsylG 2005 gebiete, erweist sich als unzutreffend. 26 Eine Subsidiarität der Bestimmungen des § 35 AsylG 2005 zu den Vorschriften des NAG in dem im angefochtenen Erkenntnis dargestellten Sinn ist nicht gegeben. Wie bereits erwähnt kommt in den Fällen, in denen § 34 Abs. 2 AsylG 2005 gilt, nur eine Titelerteilung nach § 35 AsylG 2005 und nicht nach dem NAG in Betracht.

27 Für die Frage, ob von der Erfüllung der Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 aus Gründen des Art. 8 EMRK abzusehen ist, sind daher im Revisionsfall weitere Erwägungen betreffend die Möglichkeiten einer Familienzusammenführung nach dem NAG nicht anzustellen. Entscheidend war vielmehr das Ergebnis einer Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK. Eine den Anforderungen des Art. 8 EMRK entsprechende Interessenabwägung lässt das angefochtene Erkenntnis indes vermissen.

28 Zunächst ist festzuhalten, dass ein von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR mit dem Zeitpunkt der Geburt entsteht (vgl. EGMR , Berrehab, 10730/84; , Keegan, 16969/90). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (vgl. EGMR , Gül, 23218/94). Das Auflösen einer Hausgemeinschaft von Eltern und Kindern alleine führt jedenfalls nicht zur Beendigung des Familienlebens im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK, solange nicht jegliche Bindung gelöst ist (vgl. EGMR , Boughanemi, 22070/93; siehe dazu auch ; , E 35/2014). 29 Das BVwG ging (erkennbar) davon aus, dass die revisionswerbenden Parteien gemeinsam mit der Bezugsperson (ihrem Vater) bis zum Tod der Mutter im Jahr 2008 im gemeinsamen Haushalt gelebt hätten, und es nahm andererseits an, dass aufgrund außergewöhnlicher Umstände familiäre Bindungen der minderjährigen revisionswerbenden Parteien zur Bezugsperson nicht mehr gegeben seien.

30 Nach der oben dargestellten Judikatur des EGMR kann das familiäre Band zwischen Eltern und Kindern nur unter exzeptionellen Umständen zerreißen und es kommt sohin für die Frage, ob nicht mehr vom Bestehen familiärer Bindungen auszugehen ist, lediglich darauf an, ob tatsächlich jede Verbindung zwischen Eltern(teil) und Kind gelöst wurde (siehe dazu auch ). Dass dies hier der Fall wäre, ergibt sich aus den im angefochtenen Erkenntnis getroffenen Feststellungen nicht. Das BVwG ging vom Bestehen eines gemeinsamen Haushaltes bis zum Jahr 2008 aus. Im Übrigen befasste sich das BVwG mit dem Kontakt der Bezugsperson zu den revisionswerbenden Parteien bis zum Zeitpunkt der Ausreise der Bezugsperson im Jahr 2014 und in den darauffolgenden Zeiträumen nicht bzw. nur summarisch und es setzte in diesem Zusammenhang auch keinerlei weitere Ermittlungsschritte.

31 Dabei setzte sich das BVwG nicht ausreichend mit dem bereits in der Stellungnahme vor der Österreichischen Botschaft Addis Abeba und auch in der Beschwerde der revisionswerbenden Parteien erstatteten Vorbringen auseinander. Demnach lebten die revisionswerbenden Parteien mit der Bezugsperson bis zu deren Ausreise aus Somalia im gemeinsamen Haushalt. Erst nach der Ausreise der Bezugsperson seien die minderjährigen revisionswerbenden Parteien der Obhut der Großmutter übergeben worden. Seit der Ausreise der Bezugsperson habe stets regelmäßiger Kontakt zu den revisionswerbenden Parteien bestanden. Diese lebten nunmehr in Somalia an der Grenze zu Äthiopien, nachdem sie aus ihrem Heimatort hätten fliehen müssen. Sie würden dort von ihrer 90-jährigen Großmutter beaufsichtigt. Um ihre Familie versorgen zu können, habe die Bezugsperson alle ihre eigenen Besitztümer verkauft und unterstütze damit ihre Familie. Die revisionswerbenden Parteien und die Großmutter seien finanziell von der Bezugsperson abhängig.

32 Dem hielt das BVwG nur entgegen, dass die Bezugsperson bei ihrer Befragung nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet das Alter von zwei der vier revisionswerbenden Parteien nicht korrekt angeführt und dass die zweite Ehefrau des Vaters (von der dieser aber nach Angaben der revisionswerbenden Parteien mittlerweile getrennt lebe) anlässlich ihres Asylverfahrens angegeben habe, dass die Bezugsperson keine Kinder aus erster Ehe habe. Es sei daher - so das BVwG in seinen beweiswürdigenden Überlegungen - davon auszugehen, dass seit der zweiten Eheschließung der Bezugsperson diese nicht im gemeinsamen Haushalt mit den revisionswerbenden Parteien gelebt und dass sich die Bezugsperson seit diesem Zeitpunkt nicht in familiärer Art und Weise um die revisionswerbenden Parteien gekümmert habe. Vor dem Hintergrund der oben wiedergegebenen Rechtsprechung bleibt das BVwG allerdings eine tragfähige Begründung dafür schuldig, weshalb fallbezogen - ohne dass die von den revisionswerbenden Parteien ins Treffen geführte, nach ihrem Vorbringen auch nach dem Jahr 2008 fortbestehende Beziehung zu der Bezugsperson näher beleuchtet worden wäre - davon auszugehen sei, dass außergewöhnliche Umstände jegliche familiäre Bindung zwischen der Bezugsperson und den revisionswerbenden Parteien gelöst hätten.

33 Da das BVwG aus den dargelegten Erwägungen die Rechtslage verkannte, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit (prävalierender) inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Dieses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

34 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte im Hinblick auf § 39 Abs. 1 Z 4 und Z 6 VwGG abgesehen werden.

35 Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20

14.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180299.L00

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