VwGH vom 13.12.2011, 2008/22/0224
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Dr. Maurer-Kober und Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Peck, über die Beschwerde des E in Wien, vertreten durch Mag. Dr. Ingrid Weber, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rotenturmstraße 19/1/1/30, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom , Zl. 317.875/2-III/4/07, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein serbischer Staatsangehöriger, beantragte am die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familiengemeinschaft mit seiner die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Ehefrau.
Diesen Antrag wies die belangte Behörde mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG ab.
Begründend führte sie im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer gemäß § 21 Abs. 1 NAG den gegenständlichen Erstantrag im Ausland einbringen und die Entscheidung im Ausland abwarten hätte müssen, weil er keine der für die Inlandsantragstellung genannten Voraussetzungen erfülle. Die Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin allein stelle noch keinen Aufenthaltstitel nach dem NAG dar.
Der Gesetzgeber habe bereits bei Erlassung des § 21 Abs. 1 NAG auf die persönlichen Verhältnisse der Antragsteller Rücksicht genommen und die Regelung eines geordneten Zuwanderungswesens über die persönlichen Verhältnisse gestellt. Ein weiteres Eingehen auf die persönlichen Verhältnisse, auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK, sei entbehrlich.
Gemäß § 74 NAG könne die Behörde von Amts wegen die Inlandsantragstellung oder die Heilung von sonstigen Verfahrensmängeln zulassen, wenn die Voraussetzungen des § 72 NAG erfüllt seien. Gemäß § 72 NAG könne die Behörde im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen aus humanitären Gründen von Amts wegen eine Aufenthaltsbewilligung erteilen. Besonders berücksichtigungswürdige Gründe lägen insbesondere vor, wenn der Drittstaatsangehörige einer Gefahr gemäß § 50 FPG ausgesetzt sei. Drittstaatsangehörigen, die ihre Heimat als Opfer eines bewaffneten Konflikts verlassen hätten, dürfe eine Aufenthaltsbewilligung nur für die voraussichtliche Dauer dieses Konfliktes, höchstens jedoch für drei Monate, erteilt werden. Im vorliegenden Fall habe der Beschwerdeführer keine besonders berücksichtigungswürdigen Gründe angegeben, und auch von der belangten Behörde hätten solche nicht gefunden werden können.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen hat:
Vorauszuschicken ist, dass die belangte Behörde den vorliegenden, noch während der Geltung des Fremdengesetzes 1997 - FrG gestellten Antrag zutreffend nach den Bestimmungen des am in Kraft getretenen NAG beurteilt hat (§ 81 Abs. 1 iVm § 82 Abs. 1 NAG).
Der Beschwerdeführer behauptet nicht, entgegen den Feststellungen der belangten Behörde zum Zeitpunkt der Antragstellung oder in den letzten sechs Monaten davor über einen gültigen Aufenthaltstitel verfügt zu haben; solches ergibt sich auch nicht aus den vorgelegten Verwaltungsakten. Ausgehend davon hat die belangte Behörde den gegenständlichen Antrag aber zutreffend als Erstantrag und nicht als Verlängerungsantrag im Sinn des § 24 NAG (in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 157/2005) qualifiziert.
Unbestritten ist auch, dass der Beschwerdeführer entgegen dem für Erstanträge geltenden § 21 Abs. 1 NAG die Entscheidung über den Antrag nicht im Ausland abgewartet hat.
Das Recht, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland zu stellen und die Entscheidung darüber hier abzuwarten, kommt im vorliegenden Fall primär gemäß § 74 NAG (in der hier maßgeblichen Stammfassung) in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG (ebenfalls in der Stammfassung) vor, so ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei die Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann. § 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen einen Aufenthaltstitel zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinne dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch (etwa auf Familiennachzug) besteht (vgl. für viele das hg. Erkenntnis vom , 2008/22/0216, mwN).
Art. 8 EMRK verlangt eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen mit dem persönlichen Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich. Dieses Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des besagten persönlichen Interesses ist aber auch auf die Auswirkungen, die eine fremdenpolizeiliche Maßnahme auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. wiederum das angeführte hg. Erkenntnis vom , mwN).
Weiters ist das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom , C-256/11 - Dereci u.a., zu beachten. Demnach darf ein Aufenthaltstitel dann nicht verweigert werden, wenn dies dazu führen würde, dass der die Unionsbürgerschaft besitzende Angehörige sich de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen, womit ihm die Inanspruchnahme des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt wäre (vgl. insbesondere Randnr. 64 ff).
Vor diesem Hintergrund hätte sich die belangte Behörde im Hinblick auf Art. 8 EMRK insbesondere mit der Ehe des Beschwerdeführers mit einer österreichischen Staatsbürgerin auseinandersetzen müssen. Aus der zitierten Bescheidbegründung ist jedoch ersichtlich, dass die belangte Behörde humanitäre Gründe lediglich in Richtung einer Verfolgung oder Gefährdung des Beschwerdeführers nach § 50 FPG geprüft hat. Im Zusammenhang mit der Prüfung nach §§ 72, 74 NAG vertritt die belangte Behörde die Auffassung, dass ein "weiteres Eingehen" auf die persönlichen Verhältnisse, auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK, entbehrlich sei. Dass diese Ansicht schon mit dem NAG nicht vereinbar ist, hat der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach betont (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2009/22/0347, mwN). Im fortzusetzenden Verfahren wird die belangte Behörde auch zu der Frage Parteiengehör zu gewähren und Feststellungen zu treffen haben, ob Umstände vorliegen, die im Sinn des Urteils Dereci die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts unzulässig machen.
Da die belangte Behörde somit in Verkennung der Rechtslage eine Bedachtnahme auf die Umstände des Einzelfalles und eine Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK zur Gänze abgelehnt hat, belastete sie den angefochtenen Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
RAAAE-84145