VwGH vom 13.12.2011, 2008/22/0223
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Dr. Maurer-Kober und Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Peck, über die Beschwerde der A in Wien, vertreten durch Dr. Wolfgang Rainer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schwedenplatz 2/74, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 145.495/4-III/4/06, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den am gestellten Antrag der Beschwerdeführerin, einer mongolischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familiengemeinschaft mit ihrem die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Ehemann gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG ab.
Begründend führte sie im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführerin am illegal in das Bundesgebiet eingereist sei und am einen Asylantrag gestellt habe. Das Asylverfahren sei mit "gemäß § 7 und § 8 AsylG rechtskräftig negativ abgeschlossen" worden. Am habe die Beschwerdeführerin einen österreichischen Staatsbürger geheiratet und in der Folge den gegenständlichen Antrag eingebracht.
Im Hinblick darauf, dass der Entscheidung der belangten Behörde das NAG (und nicht mehr das Fremdengesetz 1997) zugrunde zu legen sei, richte sich die Höhe der von der Beschwerdeführerin nachzuweisenden Unterhaltsmittel gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG nach den Richtsätzen des § 293 ASVG und betrage somit für ein Ehepaar, das im gemeinsamen Haushalt lebe, derzeit EUR 1.055,99. Das Einkommen des Ehemannes der Beschwerdeführerin bestehe seit aus Notstandshilfe, Überbrückungshilfe oder Krankengeldbezug. Derzeit beziehe er Krankengeld in der Höhe von täglich EUR 26,83 (monatlich ca. EUR 830,--). Die monatliche Miete belaufe sich auf EUR 220,--. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes würden die zur Verfügung stehenden Unterhaltsmittel durch Kreditbelastungen, Mietbelastungen und Pfändungen geschmälert, weshalb auch sie den erforderlichen Unterhaltsmitteln hinzuzurechnen seien. Durch Unterhaltsrückstände sei das Einkommen des Ehemannes der Beschwerdeführerin zudem auf das Existenzminimum reduziert und würde im Fall einer Erwerbstätigkeit sofort gepfändet werden.
Auch in Anbetracht dessen, dass die Beschwerdeführerin möglicherweise einen Arbeitsplatz in Aussicht habe, habe die belangte Behörde der Berufung auf Grund der aktuellen Verfahrenslage nicht stattgeben können. Die lediglich in Aussicht gestellte Möglichkeit, eine Beschäftigung zu erhalten, stelle keine taugliche Rechtsgrundlage dar. Vielmehr bedürfe es einer Einstellungszusage, die wesentliche inhaltliche Kriterien erfüllen müsse, um als tragfähige Grundlage für das Vorliegen notwendiger Unterhaltsmittel herangezogen werden zu können.
Gemäß § 11 Abs. 3 NAG könne ein Aufenthaltstitel trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs. 2 Z 1 bis 6 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten sei. Dazu habe die belangte Behörde festgestellt, dass ein Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK bestehe, jedoch die deutliche Unterschreitung der in § 293 ASVG vorgesehenen Richtsätze zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führe.
Nach der Judikatur des EGMR zu Art. 8 EMRK werde einer Ausländerfamilie nicht das unbedingte Recht auf ein gemeinsames Familienleben in einem Vertragsstaat zugestanden. Diese Konventionsbestimmung umfasse nicht die generelle Verpflichtung eines Vertragsstaates, die Wahl des Familienwohnsitzes anzuerkennen und die Zusammenführung einer Familie auf seinem Gebiet zu erlauben. Sie beinhalte auch nicht das Recht, den geeignetsten Ort für die Entwicklung des Familienlebens zu wählen. Es bestehe auch nicht die grundsätzliche Verpflichtung zur Herstellung eines Familienlebens. Jeder Vertragsstaat habe vielmehr das Recht, die Einreise von "Nichtstaatsangehörigen" einer Kontrolle zu unterwerfen.
Die Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG sei auf die Beschwerdeführerin nicht anwendbar, weil ihr Ehemann sein Recht auf Freizügigkeit nicht in Anspruch genommen habe.
Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom , B 2038/06-8, ablehnte und sie über nachträglichen Antrag der Beschwerdeführerin dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. Dieser hat über die auftragsgemäß ergänzte Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde sowie Erstattung einer ergänzenden Äußerung durch die Beschwerdeführerin und einer Gegenäußerung durch die belangte Behörde erwogen:
Die belangte Behörde hat die Antragsabweisung auf die Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG gestützt. Nach der erstangeführten Bestimmung dürfen Aufenthaltstitel einem Fremden nur erteilt werden, wenn der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte. Unter welchen Bedingungen diese Voraussetzung verwirklicht ist, wird in § 11 Abs. 5 NAG bestimmt. Zur Auslegung dieser Bestimmung hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , Zl. 2008/22/0711, grundlegend Stellung genommen. Unter anderem hat er in Punkt 5.3. der Entscheidungsgründe - für die auch hier maßgebliche Rechtslage vor der am in Kraft getretenen Novelle BGBl. I Nr. 122/2009 (FrÄG 2009) - mit eingehender Begründung dargelegt, dass das Existenzminimum des § 291a EO nicht auf alle Fälle einer Unterhaltsberechnung nach § 11 Abs. 5 NAG, die ausdrücklich anhand des § 293 ASVG vorzunehmen sei, angewendet werden könne. Insbesondere sei bei einem gemeinsamen Haushalt unter Berücksichtigung der zu versorgenden Personen zu prüfen, ob das Haushaltsnettoeinkommen den "Haushaltsrichtsatz" nach § 293 Abs. 1 ASVG erreiche, wobei in einer solchen Konstellation auf das Existenzminimum des § 291a EO nicht Bedacht zu nehmen sei.
Die belangte Behörde hat ihrer Beurteilung daher insofern zutreffend den Ausgleichszulagenrichtsatz für Ehepaare in der Höhe von - im Jahr 2006 - EUR 1.055,99 zugrunde gelegt und ausgeführt, dass das Einkommen des Ehemannes der Beschwerdeführerin in der Höhe von EUR 830,-- monatlich diesen Richtsatz nicht erreiche. Unrichtig ist auf Basis der im Beschwerdefall maßgeblichen Rechtslage vor Inkrafttreten des FrÄG 2009 zwar die Auffassung der belangten Behörde, dass Mietbelastungen die erforderlichen Unterhaltsmittel erhöhen (vgl. auch dazu das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/22/0711). Das Einkommen des Ehemannes der Beschwerdeführerin hätte aber dessen ungeachtet nicht ausgereicht, um die nach § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG erforderlichen Unterhaltsmittel sicherzustellen.
Dennoch erweist sich der angefochtene Bescheid als rechtswidrig:
Mit Blick auf die in der Beschwerde und in der ergänzenden Äußerung angesprochenen unionsrechtlichen Fragen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass diese nunmehr durch das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) vom , C-256/11 - Dereci u.a., (im Folgenden: Urteil Dereci) geklärt worden sind. Der EuGH hat dort ausgesprochen, dass die Richtlinie 2004/38/EG nicht auch ohne Verwirklichung eines Freizügigkeitssachverhalts durch den Unionsbürger, von dem ein Aufenthaltsrecht abgeleitet werden soll, anwendbar sei (vgl. Randnr. 52 ff). Aus den Bestimmungen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) über die Unionsbürgerschaft hat der EuGH aber gefolgert, dass eine Aufenthaltsverweigerung gegenüber einem drittstaatszugehörigen Angehörigen eines Unionsbürgers dann unzulässig sei, wenn der Unionsbürger sich dadurch de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen, womit ihm die Inanspruchnahme des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt wäre (vgl. insbesondere Randnr. 64 ff des erwähnten Urteils). Außerdem gebiete das Unionsrecht eine Prüfung der Zulässigkeit der Aufenthaltsverweigerung im Hinblick auf das durch Art. 7 der Grundrechtecharta der Europäischen Union und Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (vgl. Randnr. 70 ff).
Der angefochtene Bescheid, in dem ein Familienleben der Beschwerdeführerin mit ihrem österreichischen Ehemann lediglich konstatiert wird, ohne die damit verbundenen persönlichen Interessen zu würdigen und zu gewichten, wird den dargestellten unionsrechtlichen Anforderungen ebenso wenig gerecht wie der (schon) nach § 11 Abs. 3 NAG gebotenen Interessenabwägung, die - an Hand der Umstände des jeweiligen Einzelfalles - eine gewichtende Gegenüberstellung des Interesses des Fremden an der Erteilung eines Aufenthaltstitels und dem öffentlichen Interesse an der Versagung voraussetzt; die bloße Wiedergabe einzelner Rechtssätze aus der Judikatur des EGMR reicht dafür nicht aus (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0165, mwN).
Im fortzusetzenden Verfahren wird die belangte Behörde insbesondere zu der Frage Parteiengehör zu gewähren und Feststellungen zu treffen haben, ob Umstände vorliegen, die im Sinn des Urteils Dereci die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts unzulässig machen.
Da die belangte Behörde in Verkennung der Rechtslage eine einzelfallbezogene Auseinandersetzung mit den Interessen der Beschwerdeführerin (und ihres Ehemannes) an einer Fortführung des Familienlebens in Österreich unterlassen hat, hat sie den angefochtenen Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
TAAAE-84140