VwGH vom 22.07.2011, 2008/22/0216
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Merl und Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des S, vertreten durch Mag. Robert Igali-Igalffy, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 34, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom , Zl. 317.000/2- III/4/07, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers, eines Staatsangehörigen von Bosnien-Herzegowina, auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 21 Abs. 1 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes - NAG ab.
Begründend führte sie aus, der Beschwerdeführer habe am durch seinen Rechtsvertreter beim Landeshauptmann von Wien einen "Verlängerungsantrag" auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für "jeglichen Aufenthaltszweck" gestellt. Nach Inkrafttreten des NAG mit sei das Verfahren nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zu Ende zu führen.
Gemäß § 21 Abs. 1 NAG seien Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung sei im Ausland abzuwarten. Der Beschwerdeführer erfülle keine der für die Inlandsantragstellung genannten Voraussetzungen (gemäß § 21 Abs. 2 NAG).
Bis zum habe er über eine Niederlassungsbewilligung für "jeglichen Aufenthaltszweck" verfügt. Sein Rechtsvertreter habe mit Schreiben vom angegeben, dass der Beschwerdeführer von 1989 bis 1992 mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet gewesen sei und sich "insgesamt jahrelang" berechtigt in Österreich aufgehalten habe. Im Jahr 1996 sei er aus familiären Gründen in seine Heimat zurückgekehrt.
Auf Grund seines langjährigen Auslandsaufenthaltes habe er eindeutig seinen Niederlassungswillen für das österreichische Bundesgebiet aufgegeben. Aus diesem Grund handle es sich im gegenständlichen Fall um keinen Verlängerungsantrag, sondern werde der Antrag als Erstantrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" gewertet.
Aus der Aktenlage ergebe sich, dass der Beschwerdeführer von bis mit Nebenwohnsitz in Wien gemeldet und dort wohnhaft gewesen sei. Seit liege eine durchgehende polizeiliche Meldung in Österreich vor.
Es stehe daher fest, dass der Beschwerdeführer den Antrag durch seinen Rechtsvertreter im Inland gestellt habe und sich vor, während und nach der Antragstellung in Österreich aufgehalten habe.
Der bloße Umstand, dass er vor fünfzehn Jahren mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet gewesen sei, stelle noch kein Aufenthaltsrecht nach dem NAG dar.
Der Gesetzgeber habe bereits bei Erlassung des § 21 Abs. 1 NAG auf die persönlichen Verhältnisse der Antragsteller Rücksicht genommen und die Regelung eines geordneten Zuwanderungswesens über die persönlichen Verhältnisse gestellt. Ein weiteres Eingehen auf die persönlichen Verhältnisse, auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK, sei entbehrlich.
Ein im Inland gestellter Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung könne (gemäß § 74 iVm § 72 NAG) aus besonders berücksichtigungswürdigen humanitären Gründen von Amts wegen zugelassen werden. Der Antrag des Beschwerdeführers sowie seine Berufung enthielten aber keine Behauptung humanitärer Gründe. Gemäß § 72 NAG lägen besonders berücksichtigungswürdige Gründe insbesondere vor, wenn der Drittstaatsangehörige einer Gefahr gemäß § 50 FPG ausgesetzt sei. Drittstaatsangehörigen, die ihre Heimat als Opfer eines bewaffneten Konflikts verlassen hätten, dürfe eine Aufenthaltsbewilligung nur für die voraussichtliche Dauer dieses Konfliktes, höchstens jedoch für drei Monate, erteilt werden. Im vorliegenden Fall sei festgestellt worden, dass kein besonders berücksichtigungswürdiger humanitärer Aspekt gegeben sei.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:
Vorauszuschicken ist, dass die belangte Behörde den vorliegenden, noch während der Geltung des Fremdengesetzes 1997 - FrG gestellten Antrag zutreffend nach den Bestimmungen des am in Kraft getretenen NAG beurteilt hat (§ 81 Abs. 1 iVm § 82 Abs. 1 NAG).
Der Beschwerdeführer behauptet nicht, entgegen den Feststellungen der belangten Behörde zum Zeitpunkt der Antragstellung oder in den letzten sechs Monaten davor über einen gültigen Aufenthaltstitel verfügt zu haben; solches ergibt sich auch nicht aus den vorgelegten Verwaltungsakten. Ausgehend davon hat die belangte Behörde den gegenständlichen Antrag aber zutreffend als Erstantrag und nicht als Verlängerungsantrag im Sinn des § 24 NAG (in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 157/2005) qualifiziert.
Unbestritten ist auch, dass der Beschwerdeführer entgegen dem für Erstanträge geltenden § 21 Abs. 1 NAG die Entscheidung über den Antrag nicht im Ausland abgewartet hat.
Das Recht, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland zu stellen und die Entscheidung darüber hier abzuwarten, kommt im vorliegenden Fall nur gemäß § 74 NAG (in der hier maßgeblichen Stammfassung) in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG (ebenfalls in der Stammfassung) vor, so ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei die Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann. § 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen einen Aufenthaltstitel zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinne dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch (etwa auf Familiennachzug) besteht (vgl. für viele das hg. Erkenntnis vom , 2008/22/0197, mwN).
Art. 8 EMRK verlangt eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen mit dem persönlichen Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich. Dieses Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des besagten persönlichen Interesses ist aber auch auf die Auswirkungen, die eine fremdenpolizeiliche Maßnahme auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. wiederum das hg. Erkenntnis vom , mwN).
Im Verwaltungsverfahren hat der Beschwerdeführer unter diesem Gesichtspunkt auf die freundschaftliche Verbindung mit seiner in Österreich lebenden geschiedenen Ehefrau, die Beziehung zu seiner ebenfalls in Österreich lebenden Lebensgefährtin, die er demnächst zu heiraten beabsichtige, und - wenn auch nicht näher konkretisiert - zu "anderen österreichischen Bezugspersonen" hingewiesen.
Mit diesem Vorbringen hat sich die belangte Behörde nicht auseinandergesetzt und keine Feststellungen dazu getroffen, vielmehr hat sie ausgeführt, der Beschwerdeführer habe keine humanitären Gründe behauptet. Aus der zitierten Bescheidbegründung ist ersichtlich, dass die belangte Behörde humanitäre Gründe lediglich in Richtung einer Verfolgung oder Gefährdung des Beschwerdeführers nach § 50 FPG geprüft hat. Im Zusammenhang mit der Prüfung nach §§ 72, 74 NAG vertritt die belangte Behörde die Auffassung, dass ein "weiteres Eingehen" auf die persönlichen Verhältnisse, auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK, entbehrlich sei. Dass diese Ansicht nicht dem Gesetz entspricht, hat der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach betont (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2009/22/0347, mwN).
Da die belangte Behörde somit in Verkennung der Rechtslage eine Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK zur Gänze abgelehnt hat, belastete sie den angefochtenen Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
KAAAE-84130