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VwGH vom 13.12.2011, 2008/22/0180

VwGH vom 13.12.2011, 2008/22/0180

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Dr. Maurer-Kober und Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Peck, über die Beschwerde des O in Wien, vertreten durch Dr. Herbert Eisserer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Alser Straße 34/40, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom , Zl. 148.633/2-III/4/07, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies der Bundesminister für Inneres (die belangte Behörde) einen am bei der Österreichischen Botschaft Ankara eingebrachten Antrag des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "begünstigter Drittsta. - Ö, § 49 Abs. 1 FrG" gemäß § 21 Abs. 1 und 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG ab.

Die belangte Behörde legte dieser Entscheidung im Wesentlichen die Feststellungen zugrunde, dass der Beschwerdeführer am eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet habe. Er sei im Besitz eines von der österreichischen Vertretungsbehörde in Ankara ausgestellten Visums D mit Gültigkeit vom 10. Mai bis gewesen und nach seiner Einreise mit diesem Visum im Bundesgebiet verblieben.

Der Beschwerdeführer habe zwar den gegenständlichen Antrag bei der österreichischen Vertretungsbehörde in Ankara eingebracht, allerdings das Verfahren darüber nicht im Ausland abgewartet, sondern halte sich nach wie vor in Österreich auf. Er sei auch seit durchgehend in Wien 16 gemeldet, aber noch nie im Besitz eines Aufenthaltstitels gewesen.

Der Beschwerdeführer sei vom 27. Juni bis als Arbeiter bei der I. Co H.-GmbH beschäftigt gewesen und seit wiederum als Arbeiter bei K.M. tätig.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde - unter Wiedergabe von § 82 Abs. 1, § 81 Abs. 1, § 21 Abs. 1 und 2, § 74 und § 72 Abs. 1 NAG - im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer nach dem Inkrafttreten des NAG am gemäß § 21 Abs. 1 NAG ausreisen hätte müssen, um das Verfahren im Ausland abzuwarten.

Humanitäre Gründe im Sinn des § 72 NAG habe die belangte Behörde im Fall des Beschwerdeführers nicht erkennen können, weshalb die Inlandsantragstellung nicht gemäß § 74 NAG zugelassen werde. Der Antrag sei somit abzuweisen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass Anträge, die wie im Beschwerdefall noch bei Geltung des Fremdengesetzes 1997 - FrG gestellt wurden und zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des NAG, BGBl. I Nr. 100/2005, am noch nicht erledigt waren, auf Grund der Übergangsbestimmung des § 81 Abs. 1 NAG grundsätzlich nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zu beurteilen sind.

Die Beschwerde bestreitet nicht die im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, dass der Beschwerdeführer noch nie über einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügt hat, sich seit dem Jahr 2005 im Bundesgebiet aufhält und dieses auch nach dem Inkrafttreten des NAG nicht verlassen hat.

Dem Beschwerdeführer, der in Österreich offenkundig die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit beabsichtigt hat und zufolge den Feststellungen der belangten Behörde auch bereits einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, könnte allerdings die Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom (im Folgenden: ARB 1/80) bzw. des Art. 41 Abs. 1 des mit der Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen (im Folgenden kurz: Zusatzprotokoll) zugutekommen. Gemäß Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Gemäß Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls führen die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs ein. Diese Klauseln entfalten unmittelbare Wirkung und schließen bezüglich der in ihren Geltungsbereich fallenden türkischen Staatsangehörigen die Anwendbarkeit aller neu eingeführten Beschränkungen aus (vgl. zuletzt - zu Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, der in der gleichen Weise auszulegen ist wie Art. 13 ARB 1/80 - das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union - - Dereci u.a. - in der Folge kurz Urteil Dereci, Randnr. 87 ff).

Nach der vor dem geltenden Rechtslage des Fremdengesetzes 1997 (FrG) durfte jeder Ehegatte eines Österreichers - gleich welcher Staatsangehörigkeit - den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland stellen und die Entscheidung im Inland abwarten. Der Antrag durfte nur dann abgelehnt werden, wenn der Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die Ordnung und Sicherheit darstellte (§ 49 FrG). Der Anwendungsbereich des § 49 FrG erfasste (nicht nur, aber) auch jene Angehörigen von Österreichern, die türkische Staatsangehörige waren. Mit der am in Kraft getretenen Änderung der Rechtslage (Außerkrafttreten des FrG und Inkrafttreten des NAG) wurde die Rechtsposition aller drittstaatszugehörigen Angehörigen von Österreichern umgestaltet. Von den ab diesem Zeitpunkt geltenden strengeren Voraussetzungen waren wiederum auch jene Angehörigen von Österreichern, die türkische Staatsangehörige sind, betroffen.

Die oben geschilderte Rechtslage nach dem FrG existierte zwar erst seit dem ; bis dahin galten die gegenüber dem FrG ebenfalls strengeren - fallbezogen relevanten - Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes und des Fremdengesetzes 1992, sodass sich die Rechtsposition (auch) türkischer Familienangehöriger von Österreichern nach dem am erfolgten Beitritt Österreichs zur Europäischen Gemeinschaft - somit nach jener Zeit, ab der auch der ARB 1/80 und das Zusatzprotokoll für Österreich Wirksamkeit erlangt hatten - während der Geltung des FrG verbessert hatte und ab wieder verschlechterte. Der EuGH hat aber im Urteil vom , C-300/09 - Toprak, und C-301/09 - Oguz - in der Folge kurz Urteil Toprak und Oguz -, Randnr. 62, den Art. 13 ARB 1/80 dahin ausgelegt, dass eine Verschärfung einer Bestimmung, die eine Erleichterung der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ARB 1/80 im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats für die Bedingungen der Ausübung der Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer geltenden Bestimmung vorsah, eine "neue Beschränkung" im Sinne dieses Artikels darstellt, auch wenn diese Verschärfung die genannten Bedingungen im Vergleich zu denen, die sich aus der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ARB 1/80 im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats geltenden Bestimmung ergeben, nicht verschlechtert. Im Urteil Dereci hat der EuGH diese Auslegung ausdrücklich auch auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls übertragen (vgl. Randnr. 93, 94).

Bei den gegenüber dem FrG strengeren Regelungen des NAG für die Erteilung von Aufenthaltstiteln an Familienangehörige von österreichischen Staatsbürgern - u.a. der Verpflichtung zur Auslandsantragstellung nach § 21 Abs. 1 NAG - handelt es sich daher um eine nach Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls nicht zulässige Verschlechterung der Rechtsposition türkischer Staatsangehöriger (so auch ausdrücklich - zu Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls - der EuGH im Urteil Dereci, Randnr. 98).

Die genannten Stillhalteklauseln (Art. 13 ARB 1/80 für den Fall der beabsichtigten Aufnahme einer unselbständigen, Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls für den Fall der beabsichtigten Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit) kommen auch dem Beschwerdeführer zugute:

Zum einen hat der EuGH klargestellt, es stehe der Anwendung des Art. 13 ARB 1/80 nicht entgegen, dass der betreffende Arbeitnehmer nicht bereits (legal) in den Arbeitsmarkt des Mitgliedstaates integriert ist, also die Voraussetzungen gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 nicht erfüllt; die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 dient nämlich, so der EuGH, nicht dazu, die schon in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats integrierten türkischen Staatsangehörigen zu schützen, sondern soll gerade für die türkischen Staatsangehörigen gelten, die noch keine Rechte in Bezug auf Beschäftigung und entsprechend auf Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 genießen (vgl. das Urteil Toprak und Oguz, Randnr. 45, samt den dortigen Hinweisen auf die bisherige Rechtsprechung des EuGH).

Zum anderen steht im Beschwerdefall auch die Voraussetzung des "ordnungsgemäßen Aufenthalts" im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 nicht der Anwendung der Stillhalteklauseln entgegen, geht doch der EuGH davon aus, dass es in einer Konstellation wie der vorliegenden - ungeachtet des Fehlens eines Aufenthaltstitels - nicht an einem ordnungsgemäßen Aufenthalt fehlt (vgl. dazu nochmals das Urteil Dereci, Randnr. 99, 100, wo der EuGH darauf abstellt, dass dem Betreffenden - dem Ehemann einer Österreicherin - nach den Bestimmungen des FrG Niederlassungsfreiheit zugekommen ist, sodass die aufenthaltsrechtliche "Unregelmäßigkeit" erst eine Folge des Inkrafttretens der Regelungen des NAG war, die aber eine neue Beschränkung darstellen und daher auf Grund der Stillhalteklausel nicht anzuwenden waren).

Im Beschwerdefall wäre der Antrag des Beschwerdeführers daher nach den gegenüber dem NAG günstigeren Bestimmungen des FrG (insbesondere dessen § 49) zu beurteilen gewesen und hätte schon deswegen nicht wegen unzulässiger Inlandsantragstellung abgewiesen werden dürfen.

Der angefochtene Bescheid war sohin gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am